Dieses wunderbar anspruchsvolle Konzert des Niedersächsischen Staatsorchesters unter der Leitung von Stephan Zilias vereinigte vier ganz unterschiedliche Werke der Spätromantik und der Moderne, die sich um die großen letzten Fragen des Lebens drehen. Bei Kurtág, Strauss und Hindemith geht es um Gedenken, Tod und das Vermächtnis eines Lebens, mit Mahler wird dem die Macht der Liebe gegenübergestellt. Ungemein farbenreiche, klangprächtige Musik wurde uns geboten.
Der ungarische Komponist György Kurtág komponierte „Stele“ 1993 im Andenken an seinen Mentor, den Dirigenten und Komponisten András Mihály. Das Klavierstück, ein klingendes Grabmahl, wurde dann 1994 von ihm im Auftrag der Berliner Philharmoniker orchestriert. Drei Sätze gehen übergangslos ineinander über. Ein wirklich riesiges Orchester wird hier eingesetzt und spielt dann eine gigantische, zarte Kammermusik. Das Stück ist eine emotionale, empfindsame Elegie von eindrücklicher Wirkung. Von Kurtág selbst stammt das Bild, dass hier jemand verwundet auf einem Schlachtfeld liegt. Um ihn herum toben die Kämpfe, er sieht aber nur den klaren, blauen Himmel über sich. Nur das ist noch wichtig.
Mit einem heftigen Akkord beginnt „Stele“. Es ist der aus Oktaven übereinandergeschichtete Akkord, mit dem auch die Leonorenouvertüre Nr. 3 beginnt. Aber hier folgt kein Gang zum Licht, hier geht es in die Dunkelheit. Die Musik kommt ins Gleiten, sie ist bedrohlich und unheimlich. Es ist eine Grablandschaft, die entfernt an Ligetis „Lontano“ erinnert.
Der ohne Pause folgende zweite Satz ist heftiger und aufgeregter. Wir schauen auf eine Welt im Aufruhr, erfüllt von einem schwirrenden Schwarm aus Geistern. Leise, fast unwirkliche Zwischenpassagen wechseln sich mit dieser aufgeregten Musik ab, emotional steigert sich die Musik. Dann legt sich die Aufregung, die Musik verdämmert.
Im dritten Satz ist die Musik erstarrt und dunkel. Das ist die vielleicht unheimlichste Musik, die ich in den letzten Jahren gehört habe. Über einem liegenden Akkordteppich erzittern bedrohliche, schwingend-bebende Töne im Quintolen-Rhythmus. Ein dunkles Nachtmeer im Nebel, das war meine Assoziation beim Hören. Die Musik wird bedrohlicher, es ist, als ob etwas aus dem Dunkel auftaucht. Ist es der Tod? Dann scheinen so etwas wie tröstende Lichtstrahlen in der Musik auf. Ich sehe den klaren, blauen Himmel. Wieder übernimmt das schwingende, dunkle Nachtmeer die Kontrolle. Langsam verdämmert die Musik. Zum Schluss wendet sich die Harmonie kurz leise ins Hellere, der letzte schwingende Akkord bricht abrupt ab. Das ist Tod ohne Verklärung, vielleicht ist das ein Aufgehen in diesem klaren, blauen Himmel. In „Stele“ überlebt Florestan nicht.
Stephan Zilias und das Niedersächsische Staatsorchester spielten dieses faszinierende Stück mit voller Emotion. Es klang wirklich durchsichtig wie Kammermusik. Ich konnte jede Stimme im Orchester verfolgen, selbst im flirrend-aufgewühlten zweiten Satz. Der unwirkliche Trauermarsch des dritten Satzes wurde so zu einem ins Herz treffenden Ereignis. Ganz große Klasse!
In seiner Tondichtung „Tod und Verklärung“ beschäftigt sich der junge, gerade einmal fünfundzwanzigjährige Richard Strauss mit dem Tod und der Vergänglichkeit. In leuchtenden Farben setzt er das Sterben und das Hinübergehen ins Jenseits eines sterbenden Künstlers um. Das Werk gliedert sich in drei Teile, ein einleitendes Largo, ein wildes, emotionales Allegro molto agitato und ein Moderato, die Musik der Verklärung. Richard Strauss hat dem Stück ein Programm beigegeben. Im ersten Teil liegt der Kranke im Halbschlaf auf dem Totenbett. Zwischen Fieberschüben erinnert er sich im zweiten Teil an seine Kindheit, sein Leben, seine Triumphe und Niederlagen. Die Seele geht schließlich im Schlussteil in die Ewigkeit ein. Die Musik gibt dieses Programm präzise und eindrücklich wieder.
Ruhig beginnt es, erstarrt und bang, es ist eine in Trauer gefangene Welt. Faszinierend ist, wie der schwingende Rhythmus des dritten Satzes von „Stele“ hier seine Fortsetzung findet. Freundliche Melodiephrasen durchleuchten das Dunkel wie ferne Erinnerungen, von Frieden erfüllt. Nach einem Paukenschlag geht es heftig und aufgeregt weiter, es ist ein Kampf, wie von Fieber geschüttelt. Dramatisch steigert sich die Musik. Wie eine Erinnerung an glücklichere Zeiten beruhigt sich die Musik, um dann wieder in erregten Tönen weiterzugehen. Die musikalischen Themen durchdringen einander, Gefühle und Erinnerungen ziehen vorbei. Immer mehr bricht ein energisches Thema durch, das wie eine trotzige Kampfansage anmutet. Die Musik blüht nun auf, es ist wie ein Blick in eine andere Welt. Das Verklärungsthema leuchtet auf wie eine Vision und wischt den Kampf beiseite. Frieden zieht ein. Die Musik steigert sich ins Hymnische und entschwindet dann. Für mich klingt das so, als ob ein Vorhang zugezogen wird.
Wie das vom Orchester gespielt wurde, war beeindruckend. Die Spätromantik von Strauss liegt dem Orchester sichtlich. Oft habe ich beim Hören von Musik dieses Komponisten den Eindruck, dass mit Klangmasse das Publikum überwältigt werden soll. Viele große Dirigenten und Orchester setzen darauf, mich überzeugt das nicht. Hier aber geschah das Gegenteil. „Tod und Verklärung“ wurde fast zart und durchhörbar gespielt, große überlaute Klangwogen kamen nur dann, wenn sie auch von der Partitur her angebracht waren. Ich liebe so einen Wolfgang Amadeus Strauss und danke Stephan Zilias und dem Orchester dafür.
Nach der Pause ging es mit Musik von Mahler und Hindemith weiter. Stephan Zilias dirigierte das ohne Pause, so dass der Eindruck einer viersätzigen Sinfonie entstand. Das machte einen stimmigen Eindruck, die Werke sind stimmungsmäßig nicht weit voneinander entfernt.
Gustav Mahler war ebenfalls fünfundzwanzig Jahre alt, als er „Blumine“ komponierte. Das Stück war ursprünglich Teil einer Schauspielmusik zu „Der Trompeter von Säckingen“, ein Ständchen, das der Trompeter seiner Angebeteten in einer Mondnacht über den Rhein hinüber darbringt. Später fügte Mahler diese Serenade in seine 1. Sinfonie ein, entfernte den Satz aber in der endgültigen Fassung. Den Titel „Blumine“ entnahm Mahler einem Werk des Dichters Jean Paul, der damit die römische Göttin Flora bezeichnete. Erst 1967 wurde das Stück der Öffentlichkeit durch eine Drucklegung wieder zugänglich.
Dieses kurze Stück ist wirklich eine idyllische Serenade. Die Trompeten stimmen es an, die Oboen, stellvertretend für die Angebetete, antworten darauf. Romantischer und gleichzeitig unschuldiger geht es kaum. „Blumine“ ist ein zärtliches und intimes Liebeslied. Die Liebe überwindet alles, vielleicht ist das die Botschaft.
Die Zartheit dieser Musik war beim Orchester in besten Händen. Sehr emotional und gleichzeitig präzise stimmte die Solotrompete die Serenade an, herrlich stimmungsvoll.
Die dreisätzige Sinfonie „Mathis der Maler“ von Paul Hindemith ist ein tönendes Tryptichon. Hindemith war mit der Komposition seiner Oper gleichen Namens beschäftigt, als ihn Wilhelm Furtwängler 1933 um ein Orchesterwerk bat. Aus dem Material für die Oper stellte er die Sinfonie zusammen. Oper wie Sinfonie beschäftigen sich mit dem Leben des Renaissance-Malers Matthias Grünewald, die Sinfonie geht dabei auf Bilder seines berühmten Isenheimer Altars ein. Die Sinfonie bildet dabei weniger die drei ausgesuchten Altartafeln ab, sie gibt eher die Stimmungen darauf wieder, die beim Betrachten der Tafeln aufkommen.
Im ersten Satz „Engelskonzert“ öffnet sich ein ruhiger, fast feierlicher Klangraum. Ein Posaunenchoral wird von Klanggirlanden umrankt. Das ist hymnische, aber dennoch intime Musik. Fröhlichere Klänge durchbrechen die feierliche Stimmung, die Musik wird bewegter, komplexer. Schließlich vereinigen sich diese Themen mit dem Choralthema. Nach einer großen Steigerung endet das fast beschwingt und klingt strahlend aus.
Die „Grablegung“, der zweite Satz, ist ausdrucksvoll und dunkel im Ton. Es ist eine ruhige Musik, von monumentalen Passagen durchzogen. Für mich ist das eine musikalische Meditation über die Trauer.
Der dritte Satz „Versuchung des heiligen Antonius“ ist wild und fast aggressiv. Wir hören ein Höllenszenario, in das heftige Akkorde wie Schläge hineinfahren. Die Musik gerät dann in Bewegung, eine Art Höllenvision tut sich auf. Dieser Satz ist ein sehr vielgestaltiger Satz mit ganz vielen verschiedenen Stimmungen. Nach einer großen Steigerung bricht dann endlich das Licht des Himmels durch.
In der Oper „Mathis der Maler“ ertönt die Grablegung am Schluss. Mathis beendet sein Werk und geht ins Exil, so wie es Paul Hindemith 1938 getan hat.
Alle drei Sätze dieser Sinfonie gelangen in der Interpretation des Orchesters unter Stephan Zilias wunderbar. Ich bewundere immer wieder, welche Klangkultur dieses Orchester hat. Wieder war jede Stimme zu hören. So könnte man ja auch jeden Fehler hören, aber die gab es nicht. Präzision mischte sich mit Ausdrucksstärke. Besonders gefiel mir der dritte Satz mit seinem komplexen, wilden, rhythmisch anspruchsvollen Wechselspiel der Instrumente. Das war wirklich mitreißend.
Der Beifall aus dem gut besetzten Haus war lang und begeistert. Stephan Zilias freute sich sichtlich über die Bravos, die sich daruntermischten. Beim traditionell eher zurückhaltenden Publikum in Hannover sind Bravos eher selten, an diesem Abend waren sie aber wirklich angebracht. Gern mehr solcher anspruchsvollen Programme!