Ein Programm mit Musik dreier Epochen eines Kulturkreises, ein modernes Stück, zwei Repertoireklassiker. Ich mag auch solche vermeintlich konventionelleren Zusammenstellungen gern, sofern es sie nicht immer gibt. Hier in diesem Konzert aber passte es auch musikalisch wunderbar. Es kamen drei Werke auf so stimmige Weise zusammen, dass sie eine emotionale Einheit bildeten.
Am Pult stand diesmal die Französin Ariane Matiakh, eine international gefragte Opern- und Konzertdirigentin. Es war meines Wissens ihr erster Auftritt in Hannover – aber nach diesem überzeugenden Auftritt wird das hoffentlich nicht der letzte gewesen sein. Harmonie war zwischen Dirigentin und Orchester spürbar, es war eine Freude, das Ergebnis zu hören.
Als Solisten erlebten wir den palästinensisch-israelischen Pianisten Saleem Abboud Ashkar. Neben seinen internationalen Auftritten als Solist ist er als künstlerischer Leiter des Galilee Chamber Orchestra tätig. Einen Teil seiner Studienzeit hat er in Hannover verbracht.
„Himmel“ war der Titel des Konzerts, aber „magisches Licht“ hätte es auch getroffen. „Ciel d’hiver“ von Kaija Saariaho, das Klavierkonzert von Edvard Grieg, die 2. Sinfonie von Jean Sibelius – dreimal nordisches Licht, dreimal skandinavische Seelenlandschaften, dreimal faszinierend.
Das Konzert begann mit „Ciel d’hiver“ (Winterhimmel) der finnischen Komponistin Kaija Saariaho. Geboren 1952, gehört sie zu den bedeutendsten Komponistinnen und Komponisten der Gegenwart. Ihre Werke sind von den französischen „Spectralisten“ beeinflusst, deren Musik auf der Analyse des Klangspektrums der Töne der Instrumente beruht. Lang ausgehaltene Töne und kleinste Intervalle mischen sich mit Anklängen an die Natur ihrer Heimat. Es ist eine magische, sinnliche Musik.
In ihrem 2002 entstandenem Werk „Orion“ für großes Orchester wendet sie sich einem Stoff aus der griechischen Mythologie zu. Orion, der große Jäger, wird von der Jagdgöttin Artemis getötet und an den Himmel versetzt. Das Stück besteht aus den drei Sätzen Memento Mori, Ciel d’hiver und Hunter. Im Konzert hörten wir den zweiten Satz daraus, den Winterhimmel. Dieser Satz wurde 2013 für die Nutzung als Einzelstück überarbeitet.
Der Himmel im Winter ist besonders dunkel, in ihm leuchten die Sterne hell und kalt. Das Sternbild Orion beherrscht den Winterhimmel. Kaija Saariaho vertont dies unter Nutzung aller Farben des Orchesters mit seinem großen Schlagwerk. Crotales, Glasspiel, Muschelspiel, Triangel, Tamtam, fünf Hängebecken, Vibraphon, kleine Glocke und große Trommel kommen laut Programmheft zum Einsatz, dazu Celesta, Klavier und Harfe.
Ich kann diese leise Musik schwer beschreiben, ich kann nur meine Assoziationen dazu wiedergeben. Mysteriös und traumhaft beginnt das Stück und erweckt das Gefühl einer kalten und eisigen Nacht. Melodienfetzen erklingen wie von weit her, es sind Farbtupfer, aufleuchtende Wintersterne. Das ist ätherisch und gleichzeitig unheimlich. Ich höre das Rieseln des Schnees in den Nadelbäumen und das leise Klirren des Eises. Ich höre träumende Vögel in den Bäumen. Ich sehe in der Musik das kalte Leuchten der Sterne. Plötzlich gibt es fast bedrohliche Akkorde, als ob sich ein Untier im Unterholz des Waldes regt. Die Musik der Winternacht wird immer eisiger, sie verwandelt sich in die Musik des kalten, überirdischen Weltraums. Das gemahnt mich in der Stimmung an die Schlussszene des Films „2001“, in der die Musik von Ligeti eine ganz ähnliche Stimmung hervorruft. Die Musik verdämmert, entschwindet schließlich. Nur ein Klingen wie von Eiskristallen bleibt zurück.
Ich habe selten eine so atmosphärisch stimmige Wintermusik gehört wie diese. Das ist faszinierende, hoch emotionale moderne Musik! Ariane Matiakh und das Niedersächsische Staatsorchester gestalteten dies wunderbar durchsichtig. Es öffneten sich weite Räume in dieser Musik, in der jedes Instrument hörbar war, jedes Detail wahrnehmbar war. Warum stehen Werke von Kaija Saariaho nicht öfter auf den Spielplänen? Ich würde sehr gern mehr ihrer Werke hören!
Das weitere Konzert führte dann mit Grieg und Sibelius in bekanntere Musikwelten. Edvard Grieg ist der wahrscheinlich meistgespielte skandinavische Komponist der Romantik, berühmt für seine Bühnenmusik zu „Peer Gynt“ und für seine Lyrischen Stücke für Klavier. Eines seiner bekanntesten Werke ist das Klavierkonzert a-Moll, das er im Alter von 26 Jahren 1869 zur Uraufführung brachte. Es zählt heute zu den Repertoireklassikern unter den Klavierkonzerten.
Die Musik mit ihren Anklängen an die norwegische Volksmusik ist eingängig, irgendwie magisch, mitreißend, jederzeit ein Genuss. Das Konzert orientiert sich an Vorbildern wie dem Klavierkonzert von Schumann, geht aber weit darüber hinaus, geht seinen eigenen Weg. Es ist nicht klassisch sinfonisch durchgearbeitet, die Melodien haben ihr eigenes Leben, stehen unverbundener nebeneinander. Romantische Freiheit triumphiert über akademisches Regelwerk.
Saleem Abboud Ashkar gestaltete den Solopart sehr persönlich, sehr zupackend, mit variablen Tempi. Das war ein Grieg, der nicht in Romantik ertrank, ein Grieg weit weg von Stereotypen. Das Orchester folgte einfühlsam und präzise dem Klavier, es war kein Gegeneinander, sondern ein stimmiges, klangvolles Miteinander.
Mit fast martialisch anmutenden Klavierakkorden zu einem Paukenwirbel beginnt das Konzert. Dieser erste Satz ist voller gesanglicher Melodien. Das ist nicht mehr klassisch, das ist eine zutiefst romantische Gefühlswelt. Es gibt keine eigentliche Verarbeitung der Themen, die Gestaltung ist eher rhapsodisch, die Themen aneinanderreihend. Meine Assoziation ist die eines hellen Tags auf dem Land, voller Trubel und Freude. Umgesetzt wurde dies martialisch und zupackend, fast aggressiv. Jeder romantische Interpretationsstaub wurde aus der Partitur gepustet. Eine schroffe musikalische Landschaft erstand so vor meinen Augen. Das war ungewöhnlich, aber es war spannungsvoll, passte gut.
Der zweite Satz ist ruhig, gesanglich und melancholisch, eine Abendmusik. Glitzernde, funkelnde Klavierkaskaden erheben sich darüber wie Glanzlichter. Das ist im Gegensatz zu „Ciel d’hiver“ ein Sommerhimmel der Romantik. Man spürt gleichsam die norwegische Landschaft unter diesem Himmel, ihre Weite, ihre zauberische Schönheit. Saleem Abboud Ashkar spielte dies ohne Sentimentalität, die Klavierarabesken klangen hier fast nüchtern. Ich hätte auch etwas mehr Romantik vertragen können. Das Orchester spielte im Gegensatz zum Solisten hier sanft und liebevoll, insgesamt entstand so eine reizvolle Kombination.
Bewegt und fast kriegerisch beginnt der dritte Satz, er ist voller norwegischer Tanzrhythmen. Das ist energisch, voranschreitend, fast aufrührerisch. Ich sehe die Trolle aus der Halle des Bergkönigs bei einem wilden Tanz, bei einem Trollfest vor mir. Ein zarter Mittelteil sorgt für eine Beruhigung, Es ist, als ob ein Lichtstrahl in diese Trollwelt hineinfällt. Fast wehmütig ist das, sehr romantisch, wie ein Liebeslied.
Dann kehren die Stimmungen des ersten Teils des Satzes wieder, die Trolle feiern weiter. Die Musik steigert sich in einen triumphalen Schluss hinein. So aggressiv und auftrumpfend, so kriegerisch wie in diesem Konzert habe ich diesen Satz selten gehört! Der ruhige Mittelteil klang im Gegensatz zu diesen Passagen außerordentlich zart und liebevoll, Venus antwortete auf Mars. Die heftigen Akkorde des Orchesters klangen in den bewegten Teilen wie Schläge, fast brutal. Eine große Gestaltung von Solist, Dirigentin und Orchester!
Für den großen Beifall und die Bravos bedankte sich Saleem Abboud Ashkar mit einer sehr gefühlvollen „Träumerei“ von Schumann.
Nach der Pause ging es dann mit großer spätromantischer Sinfonik weiter. Jean Sibelius gilt als der bedeutendste Komponist Finnlands. Lange wurde er vor allem in Deutschland als „Nationalkomponist“ eher abschätzig betrachtet, dies hat sich aber inzwischen geändert. Seine Musik steht an der Schwelle von Spätromantik und Moderne, sie ist melodisch, gleichzeitig schroff und dunkel. Sie ist so eigenständig, dass man den Komponisten an wenigen Sekunden seiner Musik sofort erkennt. Sein Violinkonzert gehört zu den Kernwerken des Repertoires, aber auch seine sinfonischen Dichtungen und Sinfonien stehen immer häufiger auf den Konzertprogrammen.
Die zweite Sinfonie in D-Dur wurde 1902 in Helsinki uraufgeführt. Sie ist heller als die erste Sinfonie, die dunkel und düster ist. Vielleicht liegt das daran, dass die Komposition in einer Zeit erfolgte, als sich Sibelius auch in Italien aufhielt. Wie so oft bei Sibelius entfaltet sich die Sinfonie quasi aus einem kleinen Motiv heraus, diesmal einem Drei-Noten-Motiv, das in unzähligen Variationen die ganze Sinfonie bestimmt.
Ariane Matiakh wählte in allen Sätzen eine zügige, stringente Gestaltung. Das war Musik der Moderne, frei von jeder betulichen Romantik, fern von jeder naiven Landschaftsabmalerei.
Wie eine abwechslungsreiche, von Licht durchströmte Landschaft kommt mir der erste Satz vor. Finnland spiegelt sich in Italien. Die Musik ist melodisch, pastoral, vielgestaltig, mit lebhaften Einschüben. Dahinhuschende Lichtreflexe hellen die dunkleren Töne auf. Ein majestätischer Höhepunkt wirkt auf mich fast wie die Vertonung einer Gotteserscheinung. Dieser Satz ist eine Musik der ständig wechselnden Stimmungen. Diese Gegensätze wurden hier durch Dirigentin und Orchesters präzise herausgearbeitet. Die schroffen Abgründe und Dissonanzen, die dunklen und hellen Harmonien prallten krass aufeinander. Klar und deutlich wurden alle Details hörbar gemacht, in jeder Instrumentengruppe perfekt gespielt.
Im Vergleich zum ersten Satz ist der zweite Satz viel dunkler. Der ruhige Beginn mit seinem Paukenwirbel, den Streicherpizzikati und den klagenden Tönen des Fagotts ist fast ein bißchen unheimlich. Es ist eine schmerzvolle, traurige Musik, die mich an eine Begräbnismusik erinnert. Emotionale Ausbrüche zeigen, dass dies eine Seelenzustandsmusik ist. Tröstende Aufhellungen enden immer wieder in heftigen Aufschreien und Aufbrüchen. Dieser Satz spiegelt in der Stimmung das „Ciel d’hiver“ ins Dunkle – es ist eine Nacht ohne Sterne. In diesem Konzert klangen diese Ausbrüche aus dem Dunkel wie Verzweiflungsschreie. Die Musik wurde hier wirklich zu einer Seelenmusik. Für mich wurde spürbar, dass sich der Komponist bei der Komposition gerade in einer schwierigen Lebensphase befand.
Schnell und dahinhuschend ist der dritte Satz. Elfen tanzen, oder Insekten. Das ist eine ganz andere Nachtmusik als der zweite Satz – zwei Welten treffen aufeinander. Ein sehr gesangliches Trio, von der Oboe dominiert, unterbricht dieses Treiben. Es ist so, als ob auf dieser Elfenwiese ein Mensch ganz unschuldig sein Instrument spielt. Die Stimmung ist äußerst romantisch. Überfallartig kommt der schnelle Teil wieder, dann besänftigt wieder die Oboe. Zum Schluss leitet ein triumphaler Aufschwung attacca in den vierten Satz über. Auch hier gestaltete Ariane Matiakh dies schnell im Tempo, geisterhaft, mit klar herausgearbeiteten Kontrasten. Diese Elfenmusik hatte dadurch bei aller Idylle auch etwas unterschwellig Bedrohliches, sehr gut!
Der fast euphorische Beginn des vierten Satzes zeichnet für mich eine sonnenüberstrahlte Landschaft am Meer. Die Musik leuchtet wie das strahlende Licht der Sonne. Aber dunkle Schatten sind in diesem Licht auch vorhanden. Eine Hymne baut sich auf in mehreren Wellen, sich steigernd, wie ein anbrandender Ozean im Sturm, großartig und gleichzeitig auch beängstigend. Im Programmheft steht ein Satz von Volker Tarnow: „Sibelius hatte die ligurische Küste und das Mittelmeer wie eine pandämonische Bedrohung empfunden.“ Zum Schluss steigert sich die Musik fast ins Überirdische, es ist eine Apotheose. Mit einem Bläserchoral endet die Sinfonie im Triumph.
Dieser Satz war für mich in der Gestaltung von Ariane Matiakh und des Niedersächsischen Staatsorchesters der Höhepunkt des Abends. Das Schroffe ging nahtlos ins Triumphale über, ein wunderbarer Kontrast war das. Das Orchester schaffte es, dass ich mitgerissen wurde von dieser Musik, fast nicht sitzenbleiben konnte. Sibelius hat sich nicht dazu geäußert, ob dies eine Art Hymne für die Unabhängigkeit Finnlands sein sollte, in dieser Interpretation konnte ich das sofort glauben. Wären kleine finnische Fähnchen da gewesen, ich hätte sie wohl geschwenkt. Ganz großartig!
Ein wunderbares Konzert ging so triumphal zu Ende. Das Niedersächsische Staatsorchester spielte in Hochform, weit weg von jeder Routine, angefeuert von einer präzise steuernden Ariane Matiakh. So liebe ich das, so liebe ich Gastdirigentinnen und -dirigenten. Gern wieder!
Achim Riehn