„Es ist von allem viel zu viel in diesem Werk, es fährt 80 Minuten lang die vollkommene Überwältigungsstrategie.“ So sagte es GMD Stephan Zilias im Programmheft über die Turangalîla-Sinfonie von Olivier Messiaen. Wie klingt so ein Werk live, reißt es die Zuhörenden in den Himmel oder in den Abgrund? Ich kannte dieses Stück bisher nur aus Aufnahmen, sehr gespannt besuchte ich dieses Konzert.
Wie war es? Kurz gesagt: Es hat mich umgehauen. Ich hatte nicht erwartet, dass mich diese Musik so beeindrucken würde. Aber das funktioniert nur, wenn die musikalische Umsetzung so groß gelingt wie hier.
Die Turangalîla-Symphonie hatte nämlich bisher beim Hören von CD bei mir zwiespältige Eindrücke hinterlassen. Einige der Sätze fand ich nur chaotisch-laut und lärmend, andere waren von zauberischer Schönheit. Eine Kürzung auf die Hälfte der Sätze hätte eine bessere Sinfonie ergeben, so mein Eindruck. Solche Stücke finde ich für ein Live-Erlebnis immer besonders interessant, weil sich danach solche vorgefassten Meinungen oft drastisch ändern. So war es auch heute!
Die Sinfonie entstand in den Jahren 1946 bis 1948 für das Boston Symphony Orchestra. Deren damaliger Leiter Sergei Kussewitzki hatte den Auftrag erteilt. Die Uraufführung fand im Dezember 1949 in Boston unter der Leitung von Leonard Bernstein statt.
„Turangalîla“ ist ein Wort aus dem Sanskrit, es bezeichnet ein bestimmtes rhythmisches Muster. Dieses Muster spielt auch in der Sinfonie eine wichtige Rolle. „Turanga“ kann man frei mit Zeit, Tempo übersetzen, lîla bedeutet so etwas wie Spiel oder Anmut. Messiaen hat umfangreiche Erläuterungen zu seiner Sinfonie hinterlassen, Ausschnitte dazu waren im Programmheft abgedruckt. „Turangalîla“ bedeutet für ihn „gleichzeitig Liebeslied, Hymne an die Freude, Zeit, Bewegung, Rhythmus, Leben und Tod.“ Es handelt sich um „die verhängnisvolle und unwiderstehliche Liebe, die alles transzendiert und sich über alles andere hinwegsetzt, die Liebe, so wie sie durch den Liebestrank Tristans und Isoldes symbolisiert wird.“
Die Turangalîla-Sinfonie ist eines der Werke der neuen Musik, die sich im Repertoire gehalten haben. Die aufwendige Besetzung, die schwierigen Soloparts und die lange Spieldauer stehen allerdings einer häufigen Aufführung entgegen. Die Bezeichnung Sinfonie ist hier nicht im klassischen Sinn zu verstehen, es handelt sich um ein umfangreiches, zehnteiliges Werk für Orchester.
Zum großen Orchester kommen zwei Soloinstrumente hinzu. Das Klavier spielt eine äußerst virtuose Rolle, man kann diese Sinfonie auch als gigantisches Klavierkonzert auffassen. Hier konnte als Solistin Tamara Stefanovich gewonnen hat, eine der Lehrerinnen von Stephan Zilias. Im Programmheft wird sie mit folgenden bemerkenswerten Satz zitiert: „[This is,] on a pianistical level, one of the Mount Everests.“
Das zweite Soloinstrument ist ein seltener Gast in den Konzertsälen, es sind die Ondes Martenot, im Konzert gespielt von Thomas Bloch. Dieses elektro-akustische Instrument wurde in den 1920er Jahren erfunden, sein Klang ist geisterhaft und mystisch, er erinnert an Klänge aus dem Computer. In der Filmmusik zu „Ghostbusters“ hatte es einen sehr passenden Auftritt. Seinen Klang kann man gleichzeitig hassen und lieben. Ich zum Beispiel konnte es wegen seiner Feuerwehrsirenen-Glissandi bisher eher nicht leiden.
Für ein Orchester sind diese achtzig Minuten eine enorme Herausforderung. Die unglaubliche Komplexität dieser Musik ist beeindruckend und furchterregend zugleich. Im Programmheft ist in einer Äußerung von Stephan Zilias der Respekt zu spüren: „Als Dirigent ist es unglaublich wichtig, mit dem Orchester zu klären, welche Strukturen zusammengehören und wer worauf hören muss. Genaue Analyse ist da für mich als Dirigent der einzige Weg, um zu überleben.“
Die Turangalîla-Sinfonie erwies sich dann als ein überschäumendes Werk, in dem sich auf herrlichste und originellste Art und Weise Neue Musik, Atonalität und Tonalität, Kitsch, Vogelstimmen, Filmmusikeindrücke und ostasiatische Einflüsse vermischen. Gamelan-ähnliche Rhythmusschichten des Schlagwerks bilden oft den Hintergrund für die Abläufe. Heftige und laute Sätze wechseln sich ab mit zartesten Tönen. Helle, metallische Klänge dominieren. Mehrere Themen ziehen sich durch das ganze Stück und sorgen so für Zusammenhalt. Es ist ein Stück des Hochdrucks und der Intimität. Mich erinnerte es an eine von einem Urwald überwucherte Ruinenstadt: Strukturen sind da, aber sie verschwinden fast hinter einer Unmenge von Details. Bei einer schlechten Interpretation sieht man nichts im Dickicht – zum Glück war dieser Abend ganz anders.
Die Sätze 1 „Introduction“ und 2 „Chant d’amour“ sind eher unruhig. Die Themen werden vorgestellt, gleich zu Beginn das machtvolle „Statuenthema“. Komplizierte rhythmische Überlagerungen treffen auf komplexe, intime Klavierpassagen, Gamelan-Musik trifft auf an Filmmusik erinnerndes Material. Hier setzte schon die Überraschung ein, fast war es ein Schock. Was beim Hören von CD strukturlos und chaotisch wirkte, das war auf einmal viel klarer und durchsichtiger. Die Gamelan-Rhythmen tanzten, so wunderbar leicht wurden sie vom Niedersächsischen Staatsorchester umgesetzt. Stephan Zilias brachte Struktur und Klarheit in ein vermeintliches Chaos, er verwandelte Struktur in Leben, in Tanz.
Den Satz 3 „Turangalîla I“ habe ich schon beim Hören der Aufnahmen gemocht. Zart beginnt er, wie ein stiller Sommermorgen. Düstere Klänge ertönen (Glocken, Ondes Martenot, Posaunen), Klänge aus einer dunklen Kirche. Die Verarbeitung gemahnt an eine rhythmisch komplexe Mischung aus Choral und Gamelan-Musik. Ein ruhiges Thema der Oboen kommt hinzu. Wunderbar wurden diese Kontraste hier durch die Musikerinnen und Musiker herausgearbeitet.
Nach einem fast tänzerischen Beginn wird Satz 4 „Chant d’amour II“ dann schnell unruhig und unstet. Es gibt filmmusikartige Ausbrüche, die in romantische Passagen münden, dann wird es fast zerbrechlich zart. Der Satz ist eine große impressionistische Farbmalerei, unterbrochen von wilden, strukturlos erscheinenden Stellen. Eine ruhige Klavierpassage wie aus Vogelklängen geformt wird vom Statuenthema abgelöst, das wie ein Phantom erscheint. Ganz zart klingt die Musik aus, ein schöner Satz! Das Orchester verwandelte dieses Farbenspiel in eine glühende, glänzende Schwelgerei, herrlich!
Der Satz 5 „Joie du sang des étoiles“ erinnert an einen fröhlichen, chaotischen Rummelplatz, das könnte fast von Charles Ives stammen. Auf CD klang dieser Satz für mich fast unerträglich, chaotisch, ohne Ausdruck. Stephan Zilias, das Orchester und die Solisten verzauberten dies in eine Orgie an Fröhlichkeit, durchzuckt von südamerikanischen Rhythmen. Wer hier nicht innerlich mittanzte, der musste wohl taub sein, grandios. Ich konnte meine Füße beim Zuhören nicht stillhalten.
Ein Höhepunkt war für mich ist der sechste Satz „Jardin du sommeil d’amour“. Die Musik ist durchgehend ruhig und zart, hier scheint die Zeit stillzustehen. Es ist ein großer Nachtgesang, ein Liebesgesang voller Farben. Die Ondes Martenot betten sich hier wunderbar ein. Impressionistische Klänge des Klaviers fügen diesem Nachtgarten die Vogelstimmen hinzu (Amsel, Gartengrasmücke und Nachtigall). Messiaen erläutert, dass hier die Liebenden vom Liebesschlummer umfangen in einem paradiesischen Garten träumen. Dem Orchester gelang dieser Satz wirklich zauberisch. Die Zeit stand still, aber das machte nichts. Es hätte die Ewigkeit werden können. Die Ondes Martenot spielten hier ihre große Stärke aus. Die Vogelstimmen auf dem Klavier wirkten fast hypnotisch, grandios gespielt von Tamara Stefanovich.
Satz 7 „Turanglîla II“ ist dann wieder schneller. Das Klavier spielt fremdartige Vögel, dann ertönen bedrohliche und düstere Klänge, wie aus einem Horrorfilm. Es ist ein dunkler, merkwürdiger Satz, das Statuenthema taucht auf wie ein Geist. Aber auch hier herrschte Klarheit und Struktur in der Dunkelheit, danke an das Orchester!
Im langen und eher hektischen achten Satz „Développement de l’amour“ kommen alle Themen der Sinfonie zusammen und werden in fast klassischer Manier verarbeitet. Hymnische Signale versuchen die Unruhe in „Romantik“ umzubiegen, aber das gelingt erst ganz zum Schluss. Wieder schafften es die Musikerinnen und Musikern, hier nicht den Eindruck von Chaos aufkommen zu lassen. Die Musik war vielgestaltig, sie war hymnisch, sie war klar.
Satz 9 „Turangalîla III“ wird nach verträumtem Beginn rhythmisch komplex. Der Satz geht ruhig weiter, eine klare Thematik gibt es nicht. Klavier, Gamelan-Schicht, Holzbläser und Ondes Martenot bestimmen das Geschehen. Es ist eine Musik aus Farbtupfen, Regentropfen, es ist eine Landschaft im Regen. Abrupt endet dieser schöne Satz. Das Orchester machte daraus ein zartes Klanggemälde. Wieder tanzten die Rhythmen, wieder lebte es, sehr schön!
Hymnisch beginnt Satz 10 „Final“: Gleich kommen die Soldaten im Western! Es ist ein sehr bewegter Satz, fast ein bisschen fröhliches Hollywood. Dann wird es wieder chaotisch turbulent, bis die Sinfonie in einer majestätischen Steigerung endet. Hymnisch, strahlend, voller Freude – anders kann ich hier die Interpretation nicht beschreiben!
Live ist die Turangalîla-Sinfonie ein wirklich faszinierendes Ereignis, überwältigend, aber auch herausfordernd. Achtzig Minuten lang ist man als Zuhörender einem Überschwall an ganz unterschiedlichen Gefühlen ausgesetzt. Man taucht ein in ein Universum der Gefühle, man taucht unter. Schwelgen, Tosen, Zartheit, Farbenspiel, Spaß und Kitsch, alles ist vorhanden.
Zu Beginn dieses Textes hatte ich mein Vor-Urteil abgegeben, dass eine Kürzung auf die Hälfte der Sätze eine bessere Sinfonie ergeben hätte. Aber live ist der Eindruck ganz anders, diese Vielfalt an Stimmen und Stimmungen sind wohl nur live klar dazustellen. Lärm verwandelte sich heute in Klangzauber, ein Farbenmatsch verwandelte sich in ein hyperimpressionistisches Bild. „Schuld“ daran war diese großartige Interpretation! Die Musik war für das in jeder Position bestens aufgelegte Orchester keine Pflichtaufgabe – mit so viel Freude und Energie erledigt man keine Pflicht! Die Musik war für den Dirigenten Stephan Zilias keine Pflichtaufgabe – niemals würde man sonst diese Musik so detailreich, präzise und klar zum Klingen bringen. Auch die beiden Solisten trugen grandios zum Bild bei. Thomas Bloch gelang es, mit den Tönen der Ondes Martenot zu verzaubern (ich nehme die Feuerwehrsirene ausdrücklich zurück). Der fast angsterregend komplexe Klavierpart klang bei Tamara Stefanovich so, als ob es nichts Leichteres gäbe, voller Rhythmus, voller Gefühl.
Das Opernhaus war wegen Pandemie und 2G+ (und vielleicht auch wegen des unbekannten Werks der Neuen Musik) nicht sehr stark besetzt. Beim Schlussapplaus war das nicht zu hören. So viel Applaus, so viele Bravos habe ich für ein modernes Werk noch nie gehört, einen so lange anhaltenden Beifall auch nicht. In meiner Sitznachbarschaft mischten sich unter die Bravos sogar „Zugabe!“-Rufe.
Dieser Abend hat es geschafft, dass diese Musik für mich zu leben begonnen hat. Den Schluss überlasse ich meiner Begleitung, die mit einem recht kritischen „na ja ….“ (nach dem Hören der CD) ins Konzert gegangen war. Dieses Konzert bekam die Ehre des ersten Tweets: „Ich bin total geflasht und begeistert! Einfach wow. Was für ein Werk, was für ein Orchester. Ich kann nur empfehlen, sich das morgen anzuhören!“ Ich schließe mich uneingeschränkt an!
Meine CD (berühmtes Orchester, berühmter Dirigent) werde ich einmotten. Ich brauche keine tote, uninspirierte Musik. Den Abend heute hätte ich gern als Live-Aufnahme. Und übrigens: Wer von dieser Sinfonie Sätze streichen will, der hat nicht alle Tassen im Schrank.
Achim Riehn