Mit sehr stimmungsvoller, emotionaler Musik begeisterte dieses Sinfoniekonzert! Es gab drei Stücke aus den letzten achtzig Jahren zu hören. Eher zeitgenössische Musik also, kein Repertoireklassiker dabei, ein ungewöhnliches Programm. Aber moderne Musik kann leuchten! Drei außerordentlich farbenreiche und hoch emotionale Kompositionen begeisterten! Die musikalische Darbietung war so gut, dass es mir zeitweise die Tränen in die Augen trieb. Ich war bei einer wirklichen Sternstunde dabei.
Das Konzert kombinierte „Aeriality“ der isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdottir mit dem Violinkonzert von Benjamin Britten und dem „Konzert für Orchester“ von Witold Lutosławski. Eine Art Naturmusik traf auf ein von Kriegsängsten durchzogenes Violinkonzert und ein Orchesterkonzert, das sich mit orchestralem Feuer einer Einordnung verwehrte. Alle drei Stücke wurden durch Gemeinsamkeiten verbunden: Naturklänge, Vogelklänge, die Verwendung alter Formen wie die der Passacaglia.
Am Pult stand der schweizerische Dirigent Baldur Brönnimann, Chefdirigent der Basel Sinfonietta, des führenden Orchesters für zeitgenössische Musik in der Schweiz. In den letzten Jahren stand er am Pult vieler renommierter Orchester, hier seien nur die Sinfonieorchester des Hessischen und des Westdeutschen Rundfunks genannt.
Für das Violinkonzert konnte die gefeierte Violinistin Carolin Widmann gewonnen werden. Ihre Bandbreite reicht von den großen Violinkonzerten über Kammermusik hin bis zu für sie komponierte Werke. Beim letzten Violinwettbewerb in Hannover war sie Vorsitzende der Jury.
Das Konzert begann mit „Aeriality“ der isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdottir (*1977). Sie hat Cello und Komposition studiert und gehört inzwischen zu den bedeutendsten zeitgenössischen Komponistinnen. In Skandinavien und den USA werden ihre Werke schon häufig aufgeführt, in Deutschland ist sie noch weniger bekannt. Ihre Werke sind moderne Musik, sie sind aber emotional zugänglich und faszinierend. Das gilt auch für das 2011 komponierte „Aeriality“, das einem beim Hören mit seinen großen Bögen, seinem Farbenreichtum und seiner fast meditativen Stimmung zum Träumen und ins Schweben bringt. Ganz von fern erinnert es mich in der Stimmung an Ligetis „Lontano“.
Ich kann über Musik, die für mich neu ist, am besten in Assoziationen sprechen. „Aeriality“ ist eine Naturmusik. Dunkle Töne erklingen, lang angehalten, ein ruhiger Teppich, darüber so etwas wie die Klänge ferner Vögel. Laute tiefe Akkorde verklingen jeweils langsam. Das ist wie die Betrachtung eines dunklen, wolkenüberzogenen Meeres, wie eine dunkle Meditation. Dann dringen hellere Klänge herein, so etwas wie Mondlicht, das auf das Meer fällt. Eine unheimliche Tonwand baut sich auf, eine bedrohliche Geistererscheinung. Das geht in einen fast romantischen Teil über, der an die Musik des finnischen Komponisten Rautavaara erinnert und an dessen „Cantus Arcticus“. Dann höre ich wieder das ruhige Meer mit seinem Chor ferner Vögel. Ein langer Akkord scheint auf, wie Nordlicht über einem Teppich aus wenigen dunklen Tönen, der Akkord vergeht in der Stille. Das ist Musik von magischer Kraft, so muss moderne Musik sein!
Wunderbar klar und durchsichtig gelang die Interpretation. Es war ein Rausch der Orchesterfarben, eine ergreifende und berührende Musik. Ich habe die Durchsichtigkeit bewundert, ich konnte alle Einzelstimmen aus dieser Wolke an Musik heraushören. Stimmen tauchten auf und verschwanden wieder. Das war eine tolle Leistung des Orchesters und des Dirigenten!
Benjamin Britten (1913 – 1976) schrieb sein Konzert für Violine und
Orchester d-Moll op. 15 mit Mitte Zwanzig in den Jahren 1938/39.
Begonnen wurde es in England, dann wanderte Britten in die USA aus und
beendete da das Konzert nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.
Uraufgeführt wurde es am 29. März 1940 in New York. Der
zeitgeschichtliche Hintergrund ist überall im Werk zu spüren, ich kann
die Angst vor dem Krieg und den Krieg hören. Das technisch äußerst
schwierige Konzert erinnert mich in seiner musikalischen Sprache sehr
an von Schrecken durchzogene Musik von Dmitri Schostakowitsch, ohne
aber zu kopieren. Carolin Widmann charakterisiert das Violinkonzert im
Programmheft sehr zutreffend so: „[Britten] beschreibt in diesem Werk
den Kampf, den Krieg, aber eben auch die zerbrechliche Menschlichkeit
als Gegensatz, als das höchste Gut, das es zu schützen gilt und das
ultimativ überleben wird.“
Die Solistin Carolin Widmann nahm sich die Zeit, in der Konzerteinführung ein paar Worte über dieses Violinkonzert zu sagen. Es ist eines ihrer Lieblingskonzerte und es ist für sie ein Privileg, dieses Konzert kennengelernt zu haben. Frau Widmann verstand es mit ihrer überaus sympathischen Art, uns mit Begeisterung anzustecken. Das Konzert ist für sie „ein Juwel“. Dass es „wahnsinnig schwer“ ist und teilweise fast unspielbar, das schreckt Frau Widmann nicht ab. Warum auch, das Konzert zeigte dies, sie kann das mit mühelos erscheinender Leichtigkeit.
Dieses Violinkonzert erwies sich als musikalische Sternstunde, das war eine Darbietung emotional wie selten. Ich hatte zeitweise Tränen in den Augen, war vollkommen mitgerissen. Wir konnten auf der Bühne eine vollkommene Harmonie zwischen Solistin, Orchester und Dirigent erleben.
Der erste Satz „Moderato con moto“ beginnt mit einem pochenden Paukenmotiv, das bald in andere Instrumentengruppen wandert. Eine elegische Melodie der Violine kommt dazu. Das pochende Motiv ist immer gegenwärtig, wie eine Bedrohung. Es geht aufgewühlt und fast aggressiv weiter. Das zarte Thema der Violine wird brutal unterdrückt durch das zweite Thema des Orchesters mit seinen militärischen, harten Klängen. Wunderschöne, elegische Inseln tun sich auf, ein zarter Tanz erklingt, die Solovioline behält mit ätherischen, bangen Tönen das letzte Wort.
Die musikalische Darbietung von Solistin, Orchester und Dirigent war bewegend, ein besserer Begriff fällt mir nicht ein. Hier von technischer Perfektion zu sprechen, das würde nicht den Kern treffen. Der unfassbar traurige, ergreifende Mittelteil rührte mich so sehr, dass ich kaum meine Emotionen kontrollieren konnte. Der leise, in den höchsten Höhen verklingende Schluss der Violine zeigte, dass eine solche Solistin von Weltklasse auch allerschwierigste Passagen mit unendlich viel Gefühl aufladen kann.
Der zweite Satz „Vivace“ ist schnell, energisch und vorantreibend, wie ein gehetzter Tanz. Ist das ein Totentanz? Wieder erinnert es mich an ähnlich verzweifelt-sarkastische, wilde Sätze bei Schostakowitsch. Dieser Satz ist von Kriegslärm durchzogen. Die Instrumentation ist ähnlich wie bei Schostakowitsch extrem: dumpfe Töne der Tuba treffen auf schrille Töne der Piccoloflöten. Die Violine versucht sich mit elegischen Tönen zu behaupten. Die Mitte des Satzes ist eine fast geisterhaft anmutende Passage. Der Satz endet mit der Kadenz, einer bedrückenden Mischung aus gesanglichen und zerrissenen Tönen. Das pochende Motiv des ersten Satzes schleicht sich herein. Attacca geht es in den dritten Satz über.
Carolin Widmann sagte in der Einführung, dass sie diesen Satz trotz der extremen Schwierigkeiten in der Originalgeschwindigkeit spielt. Dämonie und Emotion ist ihr hier wichtiger als mathematische Präzision. Und so war es, wir erlebten einen halsbrecherischen, wilden Dämonentanz, so wild wie selten etwas. Solistin und Orchester schienen sich gegenseitig noch anzustacheln, anzufeuern. Das war atemberaubend. Die Kadenz erwies sich als fast verzweifelte, zerrissene emotionale Darbietung, Musik wie auf einem Drahtseil, unter unfassbarer Spannung stehend. Mit fällt es schwer, das in Worte zu fassen!
Zum Schluss des Konzerts hat Carolin Widmann eine klare Meinung: „Der Schluss ist einer der größten Momente der Musikgeschichte“. Und so war es dann auch. In diesem dritten Satz „Passacaglia: Andante lento“ verwendet Britten eine der strengsten Formen der europäischen Musik, die Passacaglia. Ruhig und traurig beginnt es, so wie diese traurigen Sätze bei Schostakowitsch. Die Musik erhebt sich zu einem Klagegesang. Die Violine singt dazu, melancholisch, manchmal voller Schmerz. Es ist ein Gang über ein verlassenes Schlachtfeld in der Form einer Passacaglia. Das steigert sich in einen Ausbruch voller innerer Verzweiflung hinein. Ein leiser, trauriger Gesang der Violine beendet das Stück. Es ist ein Klagegesang, ein leiser Trauermarsch, ein Echo der Zeit. Die Zukunft bleibt offen in dieser Musik.
Dieser Schluss war wirklich zu Herzen gehend. Jeder Ton der Violine leuchtete in einer anderen Farbe, kostbar und einfühlsam vom Orchester begleitet, das war unfassbar emotional ausgestaltet. Großer Jubel, Bravorufe, vollkommen verdient. Man sollte kein Konzert mit Carolin Widmann (und diesem Orchester) verpassen!
Das dritte Stück des Konzerts stammt vom polnischen Komponisten Witold Lutosławski (1913 – 1994). Das „Konzert für Orchester“ ist wohl sein meistgespieltes Werk. Er beendete es 1954. Zu der Zeit war in Polen der „sozialistische Realismus“ verpflichtend, die westliche Moderne war verpönt. Die Verarbeitung von Volksmusik und traditioneller Formmodelle war dagegen erlaubt. Lutosławski nutzte diesen Spielraum voll aus, nahm sich Bartóks „Konzert für Orchester“ zum Vorbild und versteckte die Moderne hinter barocken Formen und der Volksmusik angenäherten musikalischen Themen. Im manchmal düster-wilden Tonfall lassen sich aber die Auswirkungen der politischen Repressionen spüren.
Das „Konzert für Orchester“ ist ein Virtuosenstück für das Orchester. Alle Gruppen des Orchesters können sich solistisch präsentieren. Es ist eine abwechslungsreiche, äußerst farbenreiche Musik, modern, aber trotzdem in der Tonalität verankert. Konfliktreich beginnt das Stück, endet dann aber doch voller positivem Elan. Es wurde eine großartige Leistung des gesamten Orchesters, mit wunderbarer Präzision brachte es jede Farbe zum Glühen.
Der erste Satz „Intrada“ ist sehr wuchtig. Pochend beginnt es, voller Erwartung, ein Pauken-Ostinato kommt dazu. Sehr energisch geht es weiter, eines der Hauptthemen ist Älteren vielleicht noch als Titelmelodie der Sendung „ZDF-Magazin“ bekannt. Das ist alles sehr farbig und fast monumental. Zart aber klingt der Satz aus. Wunderbar leuchtend gelang dies an diesem Abend, rhythmisch exakt und auf den Punkt, lebendig und energisch. Das Paukenmotiv zu Beginn hatte wirklich etwas vom Anklopfen des Todes.
Der zweite Satz „Capriccio notturno e Arioso“ ist eine Art Elfentanz, flirrend und glitzernd. Fanfaren leiten zu einem sehr viel dramatischeren, düsteren, fast gewalttätigen Teil über. Leise ist der Schluss, die Musik entschwindet mit Schlagzeugtönen. Auch hier gelang es dem Orchester, beide Seiten dieses Satzes wunderbar ausbalanciert darzubieten. Elfenmusik und Dramatik waren hier zwei Seiten einer Medaille.
Der dritte Satz „Passacaglia, Toccata e Corale“ beendet dann doch das Stück mit so etwas wie Zuversicht. Drei historische Formmodelle werden kombiniert. Ein dunkler, leiser Beginn mit gezupften Basstönen geht in eine Passacaglia über. Eine Art Trauerrhythmus baut sich auf, gezupft. Immer schriller, bedrohlicher, aufgeregter wird die Musik, die Spannung entlädt sich in einer auftrumpfenden Steigerung. Eine ganz leise Zwischenpassage klingt zart aus, dann wird es wieder lauter, vorwärtstreibend, fast ein bisschen tänzerisch, sehr rhythmisch. Eine Passage wie aus Vogeltönen führt zu einem bewegten Schluss, der das Stück fast triumphal choralartig ausklingen lässt.
Diese fast unerbittliche Passacaglia, über der die anderen Instrumente zu tanzen scheinen, drückte mich in dieser Darbietung wie gebannt in den Sitz. Der glühende, prächtige Schluss fegte dann mit seinen reinen Emotionen alle bedrückenden Gefühle in mit fort. Ganz großartig! Das Niedersächsische Staatsorchester und Dirigent Baldur Brönnimann harmonierten wunderbar miteinander!
In der Programmankündigung wurde ein schöner Satz von Anna Thorvaldsdottir zitiert: „Orchestermusik ist wie ein Ozean aus Klang – man kann nicht alle Wassertropfen einzeln wahrnehmen. Aber wenn sie alle zusammenkommen, erschaffen sie das Meer.“ Und es stimmt, dieses Konzert war wie ein Meer aus faszinierender Musik, vielgestaltig, wild, romantisch und in allen Farben glühend. So muss ein Konzert sein! Das Konzert war nicht ausverkauft, vielleicht hat das Moderne einige Menschen abgeschreckt. Hätte ich dieses Konzert versäumt, ich hätte mich zu Tode geärgert! Liebe Leute, habt mehr Mut, ihr versäumt sonst die Sternstunden!
Achim Riehn