Dieses spannende Konzert trug die Überschrift „Nähe“, ich hätte es spontan mit „Nachtmusiken“ überschrieben. Aber Nähe, es passt. Aus der Einsamkeit, dem Grauen und der Isolation der ersten Programmhälfte geht es einen nächtlichen Weg hinaus in die jubelnde Freiheit. Ist es nicht das, was wir uns gerade alle ersehnen? Suchen wir nicht alle gerade die lange vermisste Nähe?
Das Konzert kombinierte „En face“ (für großes Orchester mit Schlagzeug solo und Schauspieler) von Sarah Nemtsov aus dem Jahr 2018 mit der 7. Sinfonie von Gustav Mahler aus dem Jahr 1905. Das glänzend aufgelegte Niedersächsische Staatsorchester unter Leitung von Titus Engel, Dirigent des Jahres 2020 in der Kritikerumfrage der Opernwelt, spielte zwei Werke, wie sie unterschiedlicher kaum sein konnten. Aber im Nachhinein zeigte es sich als stimmige Kombination.
Das Konzert lief in der Reihe „More then music“, in der Musik mit anderen Künsten kombiniert wird. In „En face“ nämlich begegnen sich die Welt des Konzerts und die des (Musik)Theaters.
Die Komponistin Sarah Nemtsov wurde 1980 in Oldenburg geboren und studierte Musik in Hannover. Ihre Musik beschäftigt sich oft mit der Literatur, so auch hier. „En face“ aus dem Jahr 2018 beruht auf dem Text „Einsamkeit“ des jüdisch-polnischen Schriftstellers Bruno Schulz, 1942 im Ghetto von Drohobycz ermordet. Darin träumt sich eine Person in die Freiheit, eingeschlossen seit Jahren in einem Zimmer. Innen und Außen, Traum und Wirklichkeit überlagern sich. Der Text ist voller Kontraste, Schwermut und groteske Elemente kommen zusammen. Einsamkeit und Isolation, in dieser Zeit der Pandemie brennend aktuell.
Entstanden ist das Werk für das Philharmonische Staatsorchester Cottbus. Es ist eine Art Doppelkonzert mit den Bezugspunkten Polen und Deutschland. Der Komponistin war es wichtig, dass so etwas wie eine Begegnung auch im Stück selbst stattfindet. Die Aufführung hier in Hannover ist die zweite Aufführung des Werks.
Sarah Nemtsov setzt einen Schlagzeuger und einen Schauspieler als Solisten ein. Auf ihrer Webseite zum Stück schreibt sie: „Ich wählte zwei Solisten, die einander ‚verzerrtes‘ Spiegelbild sein sollten – als würde der eine den anderen imaginieren: Ein Schauspieler, der den Text rezitiert, an einem Tisch sitzend – und ein Schlagzeuger auf der anderen Seite.“
Beide sitzen dabei in einer Art Zimmer. Das Schlagwerk mit einer Fülle ungewöhnlicher Elemente (z.B. Tassen, Flaschen, Schlüssel, ein siebenarmiger Leuchter) bildet einen Raum um den Schlagzeuger herum. Er hat Alltagsdinge als Instrumente, wie man sie wohl in einem Zimmer eines polnisch-jüdischen Schriftstellers finden könnte. Der Schlagzeuger benutzt keine Schlägel, sondern betätigt das alles mit seinen Händen. Die Töne werden elektronisch verstärkt. Das ist nicht nur virtuos, das ist auch innerlich, intim. Der Schauspieler sitzt in einer Art kleinem Bühnenbild auf der anderen Seite der Bühne, in seinem Zimmer, mit Büchern, einer Tasse. Mit den Requisiten erzeugt auch er Geräusche. Seine Rezitation und diese Geräusche werden ebenfalls elektronisch verstärkt. Das großbesetzte Orchester spielt seine eigene Rolle, hüllt die Solisten ein, tritt ihnen aber auch mal entgegen.
Im Text spricht der Schauspieler darüber, dass ihm in seiner Einsamkeit selbst sein Spiegelbild fremd geworden ist, dem er niemals von Angesicht zu Angesicht („en face“) gegenübersteht. Die Nähe ist verschwunden. Aber indem wir diese Musik zu diesem Text hören, stehen wir dem Schauspieler wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüber, sind im nah. Und der Schauspieler ist seinem Spiegelbild nah, dem Schlagzeuger.
Diese Musik wirkte auf mich wie ein gigantischer Alptraum um die beiden Protagonisten (Aleksander Wnuk – Perkussion, Felix Briegel – Sprecher) in ihren „Zimmern“ herum. Dunkle Töne, bedrohlich, abgrundtiefe Schwärze – all das spiegelte die Stimmung des Textes wieder. Das Orchester ist die bedrohliche Außenwelt, so bedrohlich, dass man die Zimmer lieber nicht verlassen sollte. Der Sprecher kämpft dagegen an mit einem leicht ironischen Tonfall, der Schlagzeuger mit einem fast intimen Klangfeld (das die Mikrofone gern etwas mehr hätten verstärken können). Zum Schluss verdämmert dieser Horrorfilm, es kommt so etwas wie Hoffnung auf (harmonische Klavierakkorde wie Glockenklänge). Dann entschwindet die Musik, wird immer mehr ausgedünnt. Der Sprecher sagt, dass man nur eine Tür öffnen muss, um hinauszukommen. Führt wirklich ein Weg aus diesem Skelettgarten aus Musik heraus? „En Face“ ist hochemotionale, moderne Musik, sehr faszinierend! Ein großes Werk!
Nach diesem Alptraum im Dunkel geht Mahler in seiner 7. Sinfonie dann aus der Nacht hinaus ins Licht und bildete damit die passende Fortsetzung zur ersten Programmhälfte.
Die beiden Nachtmusik-Sätze der 7. Sinfonie entstanden im Sommer 1904, noch vor Vollendung der 6. Sinfonie. Im Sommer 1905 vollendete Mahler dann das Werk in der Sommerfrische am Wörthersee, musste dazu aber eine Schreibblockade überwinden. Nach der dramatisch-düsteren 6. Sinfonie erscheint die 7. Sinfonie fast fröhlich. Sie ist für mich eine Huldigung der Natur und der Romantik. Es finden sich Vogelstimmen, Naturlaute, Kuhglocken, es gibt nächtliche Serenadenklänge mit Mandoline und Gitarre. Aber es ist Mahler: düstere Märsche und verzerrte Walzer fehlen auch hier nicht. Ungewöhnlich „unmahlerisch“ ist das strahlende, helle Finale. Jeder der fünf Sätze ist eine eigene musikalische Welt. Wieviel Nähe haben wir zu jeder dieser Welten, wieviel Nähe wollen wir zulassen?
Titus Engel und das Niedersächsische Staatsorchester interpretierten die Sinfonie überraschend harsch und düster in der Stimmung. Mir erschien das wie ein Nachhall des ersten Teil des Konzertes. Ich hatte die 7. Sinfonie als ein bisschen süßlich in Erinnerung (und sie daher nie so richtig gemocht), davon war hier nichts zu spüren. Es war eine ungewohnte Interpretation, die das Moderne der Musik sehr viel stärker herausstellte als das Romantische.
Geheimnisvoll dräuend beginnt der groß angelegte erste Satz („Langsam. Allegro risoluto ma non troppo“). Allmählich aber schwingt sich die Musik auf. Lyrische Passagen und optimistisch-dramatische Abschnitte wechseln sich ab. Es klingt für mich wie der fröhliche Aufbruch zu einer Wanderung, der Alpensinfonie von Strauss in der Stimmung nicht unähnlich. Die Musik ist eher romantisch, manchmal pastoral bewegt, mit einem triumphalen Schluss. Das klang in dieser Interpretation des Niedersächsischen Staatsorchesters fast aggressiv. Titus Engel trieb das Orchester voran, das Tempo war zügig. Sentimentalität konnte nicht auskommen, das Moderne dominierte.
Die Nachtmusik des 2. Satzes („Nachtmusik, Allegro moderato“) beginnt mit einem Konzert aus Vogelstimmen. Es geht dann in eine Art Serenade über, in ein romantisches und beschwingtes Abendlied. Schauen wir von fern einem Fest zu? Zusammen mit dem Marschrhythmus erinnert das an einen nächtlichen Spaziergang, lebendig und fröhlich. Auch hier wurde die Fröhlichkeit gedämpft, der Marschrhythmus hatte eine gewisse Unerbittlichkeit. Das Beschwingte erschien so wie eine Fassade.
Dem 3. Satz („Scherzo. Schattenhaft“) fehlt die Bezeichnung Nachtmusik, dabei befinden wir uns hier stimmungsmäßig tief in der Nacht. Es huscht an uns ein unheimlicher, spukhafter Walzer vorbei. Geister, Irrlichter, Träume – sie tanzen in diesem Rhythmus durch eine dunkle Welt. Ich denke bei diesem Satz immer an einen Gang über einen Friedhof in einer Sommernacht. Hier passte für mich die Herangehensweise von Orchester und Dirigent am besten. In so einem fast ruppigen Tempo wirkt das noch unheimlicher als gewohnt.
Romantischer als der 4. Satz („Nachtmusik, Andante amoroso“) kann Musik kaum sein. Die Musik ist ganz intim und kammermusikalisch, liedhafte Romantik pur. Zu den Klängen von Mandoline und Gitarre singt vielleicht jemand ein Ständchen in der Nacht unter einem Fenster. Zum Schluss versucht die Musik einen kurzen, dramatischen Aufschwung, aber fast sofort sind wir wieder in der serenadenhaften Stimmung. In diesem Satz hätte ich mir aber doch gern ein bisschen mehr Süße und Romantik gewünscht. Nicht alle Nächte sind düster, es kann auch mal voller Duft sein. Hier schwang immer ein Unterton von Bedrohlichkeit mit. Das würde ich gern noch einmal hören, um es einordnen zu können.
Im 5. Satz („Rondo-Finale, Allegro ordinario“) geht es dann hell, leuchtend und strahlend in den Tag hinein. So viel Optimismus, so viel Triumph, so viel Licht – ich erkenne Mahler fast nicht wieder. Es ist ein Jubelfinale, ein „per aspera ad astra“. Das Hauptthema erinnert mich immer an die Melodie „Schlösser die im Monde liegen“ (bitte fragt mich nicht warum). Es wechseln sich immer mehr steigernde Apotheosen ab mit lyrischen Inseln, bis schließlich die Musik in festlichstem Jubel endet. Ist das Ironie, ist das absichtliche Übertreibung? Feiern wir uns zu Tode? Oder sind wir nach den Nachtgedanken endlich im Licht angekommen? Bei Mahler bin ich mir nie sicher! Mit diesem Satz konnte ich mich bisher nie so richtig anfreunden, weil er zu triumphal-auftrumpfend daherkommt. Herrlich aber, wie hier durch Dirigent und Orchester der Musik das fast übertrieben Fröhliche etwas ausgetrieben wurde! Hier ging es gegen den Strich gebürstet hinaus ins Licht, das hatte fast etwas von Ironie. Es klang so viel doppelbödiger als erwartet! So gefällt mir das!
Ich hörte ein beeindruckendes Konzert, fantastisch dargeboten von allen Beteiligten. Das Orchester spielte auf gewohnt hohem Niveau. Es ist fast ungerecht, bestimmte Instrumentengruppen hervorzuheben – aber die Hörner waren so gut, dass ich das doch erwähnen möchte. „En Face“ schien mir die perfekte Ergänzung zur 7. Sinfonie von Mahler, es war der Abgrund, aus dem es hinaus ins Licht geht. Zwei wirklich schöne Stücke in beeindruckenden Interpretationen – verdient gab es für beide Programmhälften viel Beifall!
Achim Riehn