Zwei Beschreibungen des Chaos vor der Schöpfung, als Gegenpol dazu reine Musik der Harmonie, dann ein Werk, das als geordnetes Chaos die Menschen bei der Uraufführung schockiert hat – ein kontrastreiches Programm! Von Rebels „Chaos“ und Haydns Einleitung aus der „Schöpfung“ spannte sich der Bogen über Mozarts „Sinfonia concertante“ hin zu Strawinskys „Le Sacre du printemps“.
Der Kontrast zwischen Chaos und Ordnung hat die Musik immer interessiert. Wie geht das Eine in das Andere über? In diesem wunderbar gespielten, aufregenden Konzert des Niedersächsischen Staatsorchesters unter der Leitung von Stephan Zilias bekam man faszinierende Einsichten.
Mit „Le Chaos“, der Einleitung der Tanzsuite „Les Élements“ von Jean-Féry Rebel aus dem Jahr 1738 begann das Konzert. Mit einem auch heute noch schockierenden, dissonanten Toncluster in größter Lautstärke brach die Musik über uns hinein, Musik wie aus dem 20. Jahrhundert.
Wer war Jean-Féry Rebel? Er wurde 1666 in eine Musikerdynastie hineingeboren, er starb 1747 in Paris. Von ihm stammen musikdramatische Werke, hauptsächlich komponierte er Instrumentalmusik. Er diente als Hofkomponist am französischen Königshof und hatte das Amt des königlichen Kammerkomponisten inne. „Les Eléments“ ist sein letztes Werk, es ist eine Art Tanzsuite über die vier Elemente Erde, Wasser, Luft und Feuer. „Le Chaos“ ist der vorgestellte Eröffnungssatz, er beschreibt das ungeordnete Chaos, aus dem die Elemente entstehen.
Der Toncluster des Chaos zu Beginn ist spektakulär, er enthält aber schon die Ordnung der Welt (der Musik) in sich. In ihm sind nämlich zwei Akkorde zusammengelegt, die eigentlich im Sinne eines tonalen Kadenzschrittes aufeinander folgen müssten. Im Verlaufe dieses Satzes löst Rebel dann dieses Miteinander in ein Hintereinander auf, entwickelt die musikalischen Themen der vier Elemente. Zu Beginn sind sie noch roh und wild, aber langsam lässt Rebel Ordnung eintreten und das Stück in Dur, in göttlicher Harmonie enden.
Dieses kurze Stück ist ganz erstaunlich und von fassungslos machender Modernität. Das Orchester ließ die harschen Übergänge wie Risse in einer Musikwelt des Barocks erscheinen, durch die die Moderne hindurchleuchtet. Faszinierend die unvermittelt hereinbrechenden Triller in den höchsten Lagen der Holzbläser, dissonanter als fast alles klingend, was ich bisher mit Barockmusik verbunden habe. Hätte hier Alfred Schnittke als Komponist gestanden, ich hätte das sofort geglaubt! Nichts an diesem Werk klingt wie 1738! Großartig!
In Mozarts „Sinfonia concertante Es-Dur KV 297b für Oboe, Klarinette, Horn und Fagott und Orchester“ sind wir dann im Reich der Harmonie angekommen. Mozarts Musik ist rein und klar, sie ruht in sich. Das gilt auch für diese Sinfonia, bei der nicht sicher ist, wie weit sie wirklich von Mozart stammt. Die Fachleute streiten sich darüber, ob es sich um eine Fälschung, um die Bearbeitung mozartscher Fragmente oder um eine spätere Fassung einer verschollenen Pariser Sinfonia concertante für vier Bläser und Orchester handelt.
Der erste Satz ist positiv und warm. Höhepunkt des Satzes ist die virtuose Solokadenz für die vier Solistinnen und Solisten. Im melancholisch-ruhigen zweiten Satz ist die Musik ganz bei sich. Dieser Satz ist Mitte dieser Sinfonia und er ist das geordnete, harmonische Zentrum in einem Konzert über das Chaos. Weiter weg von Chaos kann Musik kaum sein. Im dritten Satz wird ein Thema aufgegriffen und zehnmal variiert. Hier ist die Stimmung verspielt und tänzerisch, Freude und positive Stimmung dominieren. Göttliche Harmonie muss positiv enden! Ordnung kann gut tun.
Dies war Wohlfühlmusik im besten Sinne, weit weg von der Moderne bei Rebel. Die vier Solisten Peter Amann (Fagott), Katharina Arend (Klarinette), Eleanor Doddford (Oboe) und Felix Hüttel (Horn) zeigten großes Können. Wunderbar harmonisch spielten sie zusammen. Nicht vier Solisten und Solistinnen standen auf der Bühne, wir sahen und hörten eine Einheit, ein Instrument aus vier Stimmen. Es machte einfach Freude, dieses abwechslungsreiche Zusammenspiel zu erleben. Auch im Zusammenspiel mit dem Orchester hatte ich den Eindruck, dass ein Team auf der Bühne stand, interessiert an der Musik. Es ist einfach schön, einmal so eine harmonische, friedliche Welt der Musik zu erleben.
Als Zugabe spielten die vier Solistinnen und Solisten ein Madrigal, intim und bewegend.
Die erste Konzerthälfte zeigte uns einen Weg aus dem Chaos in die göttliche Harmonie. Hier ging alles gut aus. Die zweite Konzerthälfte bewies, dass ein geordnetes Chaos in einer uns fremden Ordnung enden kann, die wild, böse und schockierend ist.
In Joseph Haydns Oratorium „Die Schöpfung“ geht es um die Erschaffung der Welt aus dem Chaos, dem ungeordneten Nichts. Das Oratorium basiert auf John Miltons Epos „Paradise Lost“, das die biblische Schöpfungsgeschichte dichterisch behandelt.
Das Oratorium beginnt mit einem Orchestervorspiel: „Die Vorstellung des Chaos“. Rebel ließ die Welt aus einem Toncluster entstehen, Haydn nutzt dazu einen Ton, ein C in fünf Oktaven. Ist Chaos eine absolute, göttliche Ordnung? In diesem Vorspiel nutzt Haydn alle Möglichkeiten, um mit den Erwartungen des Publikums zu spielen. Chaos ist hier geordnete Desorientierung. Gewohnte harmonische Fortschreitungen und Hörerwartungen werden unterlaufen, führen in die Irre. Die Grundtonart wird erst kurz vor Schluss erreicht. Schroffe Wechsel in der Dynamik, Wechsel der Lautstärke, ungewohnte Akkordverarbeitungen, fast so etwas in Glissando – all dies ging über die Klangerwartungen von Haydns Zeit weit hinaus. Chaos ist hier eine Ordnung, die neu ist und über unser Verständnis hinausgeht.
Auch hier klang diese Musik in der Interpretation des Niedersächsischen Staatsorchesters unter Stephan Zilias überraschend modern. Es ist faszinierend, wie viel Neues sich in alter Musik entdecken lässt, wenn sie so wie hier nicht als Pflichtstück des klassischen Repertoires abgehandelt wird. Überraschendes kann man hören, es muss nur herausgearbeitet werden! Hier hatte ich bei jeder Note das Gefühl, etwas Neues zu erfahren!
Aus dem göttlich reinen C entstand das Chaos, die Orchestereinleitung endet in einem leeren Intervall aus zwei Tönen, einer Quinte, so etwas wie Harmonie ist erreicht. Im Konzert ging es nun bruchlos mit Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“ weiter. Wieder sind wir in einer Ordnung, die für die Zeit der Entstehung „unerhört“ war.
Wie eine Naturgewalt brach „Le Sacre du printemps“ von Igor Strawinsky 1913 über das Publikum hinweg und löste einen der größten Theaterskandale aller Zeiten aus. Das Thema des Balletts ist eine archaische Vergangenheit, aber die musikalischen Mittel waren und sind alles andere als archaisch. Noch heute kann diese Musik schockieren. Die Themen der Musik haben ihren Ursprung in der Vergangenheit, in der Folklore, in frühslawischen Melodien, aber kaum etwas in der Umsetzung lässt dies ahnen. Das Orchester verwandelt sich in eine gigantische Beschwörungsmaschinerie. Permanent wechseln die Rhythmen. Das war genauso von noch nie gehörter Neuheit wie die Behandlung des Orchesters, beginnend mit dem beinahe geisterhaften Fagottsolo zu Beginn bis ihn zu brachial marschierenden Akkordballungen. Was wie Chaos klingt, ist aber genauestens geordnet. Göttliche Harmonie muss nicht unsere Harmonie sein. Ordnung kann weh tun.
Ich war gebannt und fasziniert! Diese fast gewalttätige Musik mit so viel Klarheit und Durchsichtigkeit zu erleben, das war schon ein Ereignis. Ich hörte einfach atemlos zu! Bei so einer präzisen und leidenschaftlichen Darbietung fallen die Details noch mehr positiv auf. Das grandiose Fagottsolo von Peter Amann war da die passende Einleitung. Ich mag den „Sacre“ sehr, kenne ihn fast auswendig. Aber so abgrundtief dunkel, so rhythmisch gnadenlos präzise, so messerscharf, so gewalttätig und gleichzeitig klar habe ich ihn selten gehört. Pulsschlagerhöhung auf 120 – mehr muss ich dazu nicht sagen. Ein ganz großes „Bravo!“ für Stephan Zilias und das Orchester!
Der Beifall am Schluss war intensiv und lang anhaltend, vollkommen verdient! Ein so spannendes Konzert so gut zu Ohren gebracht muss so gefeiert werden.
In unserer unruhigen Zeit ist das Motto „Chaos“ des Konzerts bedrückend aktuell. Wir alle wünschen uns, dass es in der reinen Harmonie Mozarts endet, in einer Welt, die wir intuitiv verstehen können. Aber die Welt wird nicht so, wie wir sie uns wünschen. Schauen wir uns um, so sind wir doch eher in der beängstigenden Welt des „Sacre“. Gibt es da Ordnung, so ist sie nicht auf Anhieb zu sehen. Das Orchester beschloss den Abend mit dem sehr bewegenden „Prayer for Ukraine“ des ukrainischen Komponisten Mykola Lysenko, der geistlichen Hymne der Ukraine. Musik kann uns zwar nicht retten, aber sie kann uns helfen.
Das Konzert wurde von NDR Kultur aufgezeichnet und kann dort am 20.03.2022 ab 11:00 Uhr gehört werden.
Achim Riehn