Im 5. Sinfoniekonzert erlebte das Publikum Außerordentliches. Es standen zwei Werke auf dem Programm, die Kultcharakter genießen. Das 3. Klavierkonzert von Rachmaninow gilt als eines der schwierigsten Klavierkonzerte überhaupt, es ist so etwas wie der Mount Everest unter ihnen. „Also sprach Zarathustra“ von Strauß ist durch seinen atemberaubenden Sonnenaufgangsbeginn weltbekannt, der Kubriks Film „2001: Odyssee im Weltraum“ spektakulär eröffnete und der dadurch fast zu einem Hit der Popkultur wurde. Zwei populäre Werke, ausverkauftes Haus. Aber beide Werke sind nicht nur „Kult“, sie sind auch von hoher musikalischer Qualität, das wurde durch dieses Konzert wieder einmal sehr deutlich.
Das Niedersächsische Staatsorchester spielte unter der Leitung von Xian Zhang, die eine der führenden Dirigentinnen unserer Zeit ist. Derzeit leitet sie als Chefdirigentin das New Jersey Symphony Orchestra und ist Principal Guest Conductor des BBC National Orchestra & Chorus of Wales.
Vor der Pause stand das 3. Klavierkonzert von Sergei Rachmaninow auf dem Programm, mit dem tschechischen Pianist Lukáš Vondráček als Solisten, der 2016 den renommierten Brüsseler Königin Elisabeth Wettbewerb gewonnen hat.
Das Stück ist ein großes romantisches Klavierkonzert, vielleicht das letzte seiner Art. Es ist ein Konzert sinfonischen Ausmaßes und verbindet höchste Virtuosität mit fast lyrischem Ausdruck. Die Spannung wird dadurch gehalten, dass Klavier und Orchester gleichwertige Partner sind. Das Stück ist für mich wie ein komplexes Gemälde, auf dem sich feine Figuren (Klavier) vor einem satten, reichen Farbhintergrund (Orchester) abzeichnen.
Xian Zhang führte mit straffem Tempo durch das Konzert. Die Musik erklang ohne jeden Hang zur Sentimentalität, frei von auch dem kleinsten Anflug von Hollywood-Süßlichkeit. Das Stück stellte sich so als das dar, was es ist – große Musik.
Der erste Satz beginnt sehr romantisch mit einer melancholischen Melodie im Ton eines Volkslieds. Diese Melodie wird dann im Laufe des Satzes noch einmal aufgenommen und sie wird auch den Satz beschließen. Schnell entwickelt sich ein komplex verwobenes Geflecht aus Klavier- und Orchestertönen, voller Farbe. Das Orchester erklang selbstbewusst, fast ruppig – ein gleichwertiger Partner des Klaviers.
Wunderbar zarte Passagen wechseln sich mit hochvirtuosen Passagen ab. Die Mitte des Satzes wird von einer großen Steigerung im Klavier und im vollem Orchester geprägt. Diese Passage und dann die Solokadenz waren durchzogen von fast dämonischer Energie, fast furchterregend, Klangmagie bannte das Publikum in den Sitzen fest. Noch wichtiger als die Fingerfertigkeit des Pianisten ist für mich sein Vermögen, die ruhigen Stellen zum Singen zu bringen, ohne sentimental oder süßlich zu werden. Lukáš Vondráček gelang es, wirklich jede Note mit Eigenleben zu versehen, unendlich zart, verzaubernd.
Melancholisch, fast traurig beginnt der ruhige zweite Satz mit einer langen Orchestereinleitung, deren Melodie dann vom Klavier aufgenommen wird. Der ganze Satz ist ein langes, trauriges Lied, von Klaviergirlanden umrankt, voller ungewöhnlicher Harmonien. Schnellere Passagen sind in den Schluß eingearbeitet, können aber die Grundstimmung nicht brechen. Attaca geht es in den dritten Satz über, energisch vorantreibend, es herrscht nun eine viel lebhaftere Stimmung. Der Mittelteil des Satzes ist eine ruhige Abendmusik, in der man im Klavier und in den Holzbläsern die Vögel singen hört. Für mich ist dies der schönste Teil der ganzen Komposition. Insbesondere hier zeigten sich Pianist und Orchester als perfekte Einheit. Der Satz endet in einer großen hymnischen Steigerung, das grabesdunkle d-Moll wendet sich ins jubelnde, siegreich alles überwindende D-Dur. Wie eine Sturmflut aus Tönen brechen Klangwogen über das Publikum herein. Lukáš Vondráček und das Orchester steigerten sich gegenseitig in einen Rausch aus Klang hinein. Gänsehautmusik.
Nach einem kurzem Moment der Stille setzte lauter Jubel mit Bravorufen ein, der kaum enden wollte. Eine Sternstunde.
Nach der Pause erklang „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauß. In dieser sinfonischen Dichtung orientiert sich der Komponist an dem gleichnamigen dichterisch-philosophischen Werk des Philosophen Nietzsche. In ekstatisch-hymnischer Prosa berichtet dort ein Erzähler vom Wirken eines fiktiven Denkers, dem der Namen des persischen Religionsstifters Zarathustra zugeordnet wird. Strauß nimmt die Stimmung der Dichtung auf. In der Partitur finden sich gliedernde Überschriften, die aber für das Verständnis der Musik nicht entscheidend sind. Vielleicht kann der Ablauf so zusammengefasst werden: Zarathustra begrüßt die in einem Sonnenaufgang sich offenbarende Natur (das klare C-Dur, der Durchbruch des Lichts) und beschließt, zu den Menschen hinabzugehen, um mit ihr seine gewonnene Weisheit und seine Sehnsucht (das überirdisch-verklärte H-Dur des Geistes) zu teilen.
Das Niedersächsische Staatsorchester ist für seine Strauß-Interpretationen bekannt, die Musik liegt dem Orchester. Heute kam dazu noch das glühende und straffe Dirigat von Xian Zhang – eine ideale Kombination.
Das Stück beginnt mit dem atemberaubenden ‚Sonnenaufgang‘, der Begegnung mit der alles überstrahlenden Natur. Für mich ist das ein Tor, das sich öffnet, das Tor zur Erkenntnis. Dies liegt nicht nur an der Musik allein, sondern auch an der Nutzung im Film „2001“. Diese Musik muss den Zuhörer erschüttern wie eine Gottesbegegnung, sonst funktioniert sie nicht. Das gelang hier wunderbar, die abgrundtiefen und unirdischen Töne des Beginns ließen einen bis ins Mark erschauern.
In ‚Von den Hinterwäldlern‘ sind wir dann in einer dunkleren Welt, die voller Schatten ist, einer Welt noch ohne Erkenntnis der Wahrheit. Streicher stimmen einen fast religiös anmutenden Choral an, andächtig im Tonfall. Es ist mystische Musik, ein Lichtschimmer in dunkelster Nacht. Hymnische Steigerungen folgen, in die sich immer wieder das Sonnenaufgangsmotiv der Natur hineinmischt. Die Energie der Musik wurde durch das Orchester praktisch physisch spürbar.
Der Abschnitt ‚Von den Freuden und Leidenschaften‘ ist dann emotional, voll innerer Bewegung und Überschwang, ein sich Emporkämpfen aus der Dunkelheit. Im ‚Grablied‘ zeichnen sich Oboe und Solovioline in klagenden Melodien vor einem Orchesterteppich ab. Motive der vorhergehende Teile werden aufgegriffen, wie Erinnerungen an eine vergangene Zeit. Dirigentin und Orchester gelang es wunderbar, alle diese Farben und Stimmen mit Leben zu erfüllen und trotzdem dabei transparent zu bleiben.
‚Von der Wissenschaft‘ ist dann gewissermaßen eine Parodie einer gelehrten Fuge. Das Thema nimmt Teile des Naturmotivs auf und verarbeitet sie gelehrt (trivial?). Die tiefen Streicher unter Führung der Kontrabässe haben einen großen Soloauftritt, den sie bravourös und präzise gestalteten.
Die Überschrift ‚Der Genesende‘ für den nächsten Abschnitt ist fast etwas ironisch. Nach so viel trockener Pseudo-Gelehrsamkeit kann man nur genesen, wenn man sich betrinkt (so meine Interpretation). Die Musik spitzt sich dann in einer dramatischen Steigerung zu. Hochkomplex sind die Orchesterpassagen. Es endet fast orgiastisch, das Sonnenaufgangsmotiv mischt sich hinein und erhebt sich strahlend über die tosende Musik. Selten habe ich dies so bezwingend und voller Feuer gehört wie heute. Generalpause – so etwas kann nicht gut gehen.
Die Musik kämpft sich aus der Stille und dem Dunkel wieder empor, das ‚Tanzlied‘ beginnt. Der aufsteigende Jubel des Orchesters geht in einen Walzer über, voll mit wienerischem Charme und voll mit Lebensfreude, immer mehr vom Orchester mitreißend. Die Genesung ist gelungen. Endlich ist die Musik ganz bei sich. Immer wieder klingt das Motiv der Natur herein. Xian Zhang und dem Orchester setzten das Opernhaus fast in Brand, mit so viel hervorloderndem Feuer spielten sie.
Zwölf Glockenschläge in der hymnischen Steigerung leiten dann in das ‚Nachtlied‘ über. Die Musik beruhigt sich, verklärt sich. „Also sprach Zarathustra“ verdämmert in einem abendlichen Lied, immer leiser, in hohen Tönen ausklingend, im H-Dur des Geistes und der Sehnsucht. In den tiefen Streichern pocht dazu pizzicato das Naturmotiv. Der Bogen zum Beginn des Werks ist geschlagen. Das ist eine Abendmusik, wie es sie auch im dritten Satz des Rachmaninow-Klavierkonzerts gegeben hat, eine für mich verblüffende Stimmungsähnlichkeit. Auch dieses Abgleiten in das ganz Zarte, Intime gelang dem Orchester wunderbar.
Der erste Teil des Konzerts war eine Sternstunde, der zweite Teil eine Stunde des Feuers. Der Beifall mit seinen Bravos war enthusiastisch und wollte kaum enden. Wenn schon zwei Kultstücke, dann so! Am besten gleich noch mal!
Hans-Joachim Riehn