In diesem Konzert des Niedersächsischen Staatsorchesters unter der Leitung von Joel Sandelson trafen zwei Welten aufeinander. Das neue Orchesterwerk „O Flower of Fire“ der britisch-guayanischen Komponistin Hannah Kendall mit einer Videoinstallation von Akhila Krishnan traf auf die 4. Sinfonie von Gustav Mahler.
Aber auch in sich tragen diese beiden Werke zwei Welten. Das war ein wirklich schönes Konzert, spannend und mitreißend.
Hannah Kendall ist Britin mit guayanischen Wurzeln, ihre Musik verbindet beide Welten, vereinigt die Welten „Afro“ und „Euro“. Hier im Konzert erklang „O Flower of Fire“ erstmals zur Videoinstallation von Akhila Krishnan. Hier treffen damit drei Welten aufeinander. Dieser Konzertteil war Bestandteil der Konzertreihe „More than Music“, die Musik mit anderen Kunstformen zusammenbringen will. Musik und Video bildeten eine bemerkenswerte Einheit.
„O Flower of Fire“ ist ein faszinierendes, sehr emotional mitreißendes Stück für großes Orchester. Hannah Kendall nutzt das europäisch-klassische Orchester und seine Klänge und erweitert dies mit fremden, für mich fast geheimnisvoll klingenden Klängen. Sie erweitert das Klang- und Instrumentenspektrum, eine karibisch-afrikanische Musikwelt kommt hinzu. Beide Welten durchdringen sich, mischen sich, vereinen sich. Es gibt mit Dreadlock-Ringen präparierte Harfen, die völlig fremdartig klingen. Mundharmonikaklänge sind zu hören, dieses Instrument wird häufig in afroamerikanischen Spirituals benutzt. Fünfzehn Spieluhren spielen bekannte klassische Melodien und Melodien aus der ursprünglichen Sklavenmusik. Das alles ergibt in Summe eine wirklich beeindruckende und ergreifende Musik. Die Musik spiegelt so eine Zwischenwelt wieder, sie vermittelt zwischen den Kulturen, sie vermittelt zwischen dem Außenseiter sein und dem Dazugehören. Hinreißend und wunderschön die flirrenden, leisen Passagen, wie Musik aus einer anderen Welt. Das war großartig umgesetzt vom Orchester unter Joel Sandelson, das war eine lebendige, glutvolle Wiedergabe.
„O Flower of Fire“ beruht auf einem Gedicht von Martin Carter, das sich mit Schöpfungsmythen auseinandersetzt. Die Videoinstallation von Akhila Krishnan nimmt diese Gedanken auf. Die Videos bekräftigen die Musik und reagieren auf sie. Schwarzweiß ist das, abstrakt, kreisende Ringe, sich bewegende Linien, Planeten und Gaswolken. Alles kreist in dieser Welt, die sich formt, die entsteht. Das macht einen erhabenen, kosmisch-kühlen Eindruck. Die Videos sind hinter und neben dem Orchester zu sehen, rahmen es ein. Die Musik ist so das Zentrum der Welt, die Quelle der Welt. Ich fand es sehr beeindruckend und ganz wunderbar, eine perfekte Einheit von Musik und Video. Beides zusammen versetzte mich fast in Trance.
Nach der Pause gab es (ohne Videos) die 4. Sinfonie von Gustav Mahler. Auch diese Sinfonie ist eine Sinfonie zwischen den Welten. Sie beschreibt das himmlische Leben in kindlich-naiven Tönen und hinterfragt das durch Ironie und Brechung. Himmel und Hölle stehen immer nah beieinander in dieser Musik, keine Seligkeit ist hier ungetrübt. In der Konzertankündigung wird ein Zitat von Mahler selbst wiedergegeben. „Stell dir das ununterschiedene Himmelblau vor (…). Das ist die Grundstimmung des Ganzen. Nur manchmal verfinstert es sich und wird spukhaft schauerlich: doch nicht der Himmel selbst ist es, der sich trübt, er leuchtet fort in ewigem Blau.“ Besser lässt sich die Stimmung dieser Sinfonie kaum beschreiben. Auch hier gelang dem Niedersächsischen Staatsorchester unter Joel Sandelson eine mitreißende Darbietung.
Zart beginnt der erste Satz mit Flötentönen über Schellenklang. Tänzerisch und heiter geht es weiter. Ein Holzbläsermotiv ertönt, das an das Kinderlied „Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann“ erinnert. Zu diesen naiven, kindlichen Tönen kommt ein weihevolles zweites Thema hinzu. Ohne die heitere Grundstimmung zu brechen, wird dies alles komplex verarbeitet. Motivfragmente wirbeln durcheinander, Komplexität steht gegen fast kindliche Melodik. Das Butzemann-Thema führt zu einem kurzen, heftigen Höhepunkt. Dann kehrt das Hauptthema zurück, die Musik wird ruhiger, fast verklärt. In dieser Stimmung endet der Satz mit einem kurzen, auftrumpfenden Höhepunkt. Sehr gefiel mir, wie Joel Sandelson hier die Kontraste zwischen naiv und sanft und fast bedrohlich herausarbeitete. Großartig die Soli in den Holzbläsern und den Hörnern.
Der zweite Satz ist erheblich bizarrer. Eine geisterhafte Solovioline erhebt sich über ein leises Orchester. Das ist eine spukhaft unheimliche Musik, „der Tod spielt auf“. Aber dieser Tod ist nicht bedrohlich, er ist nur unbegreiflich, anders, irgendwie bizarr. Ein Ländler kann sich nicht gegen diese Groteske durchsetzen. Eine Art Walzer wird durch bedrohliche Töne in den Bassstimmen unterlaufen. Die Solovioline kehrt zurück, aber nicht mehr ganz so unwirklich wie zu Beginn. Ruhig endet dieser Satz, der verstörende Töne neben die Idylle stellt. Dieser Satz war für mich fast zu idyllisch gespielt, aber das ist Ansichtssache. Großartig Stefan Zientek an der „Teufelsgeige“.
Ruhig, getragen, elegisch-weihevoll beginnt der dritte Satz, ein trauriger Gesang in den Streichern, zu denen sich die Holzbläser gesellen. Klagend setzt die Oboe ein, die Musik verändert sich allmählich. Die Stimmung wird dunkler, die Dramatik und die Binnenspannung nehmen zu. Heftige Orchesterausbrüche, die die Welt untergehen lassen, stehen neben idyllischen Passagen, die wie tröstliche Lichtinseln wirken. Schmerz steht neben Trost. Nach einer kurzen überdrehten Passage kehrt die Musik des elegischen Beginns wieder, die Musik wird ruhiger. Heftig und aufstrahlend bricht das Thema des ersten Satzes ein, ruhig verklingt dann der Satz. Die musikalische Darbietung gefiel mir sehr gut, herzbewegende Elegie traf auf schroffe Passagen, die Soli wieder wunderbar!
Im vierten Satz steht das vom Sopran gesungene Lied „Wir genießen die himmlischen Freunden“ („Das himmlische Leben“) aus „Des Knaben Wunderhorn“ im Mittelpunkt. Die vier Strophen mit ihrem naiven Texten über das Leben im Himmel werden durch orchestrale Zwischenspiele verbunden. Wieder trifft fast kindlich-naive Melodik auf komplexe Musik, die zur Naivität einen Gegenpol bildet. Den Übergang zur Schlussstrophe bildet ein regelrecht idyllisches Orchesterzwischenspiel. In dieser letzten Strophe wird die Musik immer leiser und intimer. Ganz zart verdämmert der Satz und damit diese Sinfonie. Auch diese Musik gelang wunderbar, das Sopransolo von Ketevan Chuntishvili war himmlisch anrührend. Das war eine außerweltliche Idylle mit fast ironischen Schärfen!
Ein tolles Konzert also, mit zwei großartigen Kompositionen und einer die Musik ins Überirdische hebende Videoinstallation. So machen Konzerte Spaß, mehr davon! Verdient gab es für beide Stücke viel Beifall.
Achim Riehn