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Aufnahme aus dem Jahr 2010: Szene aus „Ein Sommernachstraum“ (c) Heiko Jacobs
Wir saßen unterm Dach des Opernhauses im Pausenraum der Bühnenarbeiter, an Bierzeltgarnituren zwischen halb gefüllten Aschenbechern und Bierflaschen, als die Tür hinter den Spinten der Bühnentechniker aufging und der Intendant hereinstürmte. Er hatte eine Kiste Bier mitgebracht, stellte sich darauf und begann eine Rede zu halten, die nur die Techniker hier oben hörten: Einer der Bühnenarbeiter hatte seinen letzten Arbeitstag nach 28 Jahren an der Staatsoper Hannover. In diesen 28 Jahren war dieser Mitarbeiter nicht aufgestiegen, weder zum Seitenmeister oder Vorhangmeister oder Bühnenmeister, er war immer ein „einfacher“ Kollege geblieben. Dennoch ließ es Hans-Peter Lehmann sich nicht nehmen, eine Lobrede auf eben diesen Mitarbeiter zu halten und erzählte frei, wie es seine Art war, Anekdoten von Opernabenden, bei denen eben dieser Kollege tatkräftig den Abend gerettet hatte. Es war im April/Mai 2001, während der letzten Wiederaufnahme seines Ring-Zyklus und kurz vor dem Ende der Ära Lehmann.
Den Menschen Lehmann zeichnete diese Wertschätzung seiner Mitmenschen, gerade auch der Mitarbeiter, nicht nur der „Stars“, und des Publikums aus. Als Student passierte es mir bei der Dernière seiner „Parsifal“-Inszenierung, dass ich mit einem Freund wenige Minuten vor Beginn ohne Karte vor der Glastür stand, das Foyer dahinter schon leergefegt. Da lief innen der Intendant vorbei, sah uns beide stehen, schloss die Tür auf und schob uns schnell noch über die „Tapetentür“ in der Rotunde in die Regieloge, wo wir mit den Korrepetitoren zusammen die Aufführung erleben durften.
„Parsifal“ war Lehmanns erste Inszenierung für Hannover. Als Kind sah ich mit meinem Vater die beeindruckende Aufführung vom 27. September 1981, eine Woche nach der Premiere (und viele weitere Aufführungen in den nächsten Jahren). Später am Ende meine Architekturstudiums stand für mich im Raum, über das Werk eine Doktorarbeit zu schreiben. Ich bat ihn, der das Werk von 1966 bis 1973 in der Wieland-Wagner-Inszenierung szenisch weitergeführt und unter anderem in Zürich und Brüssel inszeniert hatte, mir 20 Minuten in seinem Büro Zeit zu schenken: Wenn ich ihm in dieser Zeit nichts Neues über die Partitur erzählen könne (denn eine Dissertation soll ja Neuland betreten!), möge er mich vor die Tür setzen. Zweieinhalb Stunden später war Prof. Lehmann mein Doktorvater. Die Freundschaft meiner Familie mit Erika Maria und Peter Lehmann hielt lange, bis er sich aus der Öffentlichkeit zurückzog. Noch an diesem 05. Februar haben wir über ihn gesprochen, bevor wir einen Tag später die Nachricht von seinem Tod erhielten.
Rainer Wagner hatte zuletzt am 15. Dezember noch in einem sehr schönen Artikel zum 90. Geburtstag gratuliert, Stefan Arndt am 7. Februar einen großen Nachruf in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung verfasst. Was ist von uns, von den Freunden des Opernhauses Hannover, da noch zu ergänzen?
Man kommt an dem Begriff der Ära kaum vorbei. 21 Jahre leitete er das Opernhaus, lange Zeit mit dem vor vier Jahren verstorbenen Generalmusikdirektor George Alexander Albrecht an seiner Seite und unterstützt von der Gesellschaft der Freunde des Opernhauses unter Dr. Hans-Jürgen Paul. Das Haus stand mit seinem Ensemble für eine Breite des Repertoires, die heute kaum mehr abzubilden ist. Das Kernrepertoire der deutschen Oper, Mozart, Weber, Wagner, Strauß allen voran, bildete das Zentrum. Wer die Klassiker auch der italienischen Oper kennenlernen wollte, konnte auch hier die Repertoirestücke regelmäßig erleben. Im Gegensatz zur heutigen Praxis der Opernhäuser blieben Inszenierungen immer über viele Jahre auf dem Spielplan und boten auch Nachwuchssängerinnen und -Sängern die Möglichkeit, darin zu wachsen. Lehmann interessierte sich für die Menschen, die das Werk deuten und für die Menschen, die im Werk zu entdecken sind. Zuallererst müsse man dem Werk vertrauen und das Stück lieben, um seine Relevanz für unsere Zeit freilegen zu können.
Ein zweiter Strang seiner Amtszeit war die Aufführung selten gespielter Werke des 20. Jahrhunderts, oft auch mit immensem Aufwand. Lehmann selbst inszenierte u.a. Troades (Reimann), Eine florentinische Tragödie (Zemlinsky), Die Soldaten (Zimmermann), König Hirsch (Henze), Wozzeck (Berg), Palästrina (Pfitzner) und als Uraufführungen Draußen vor der Tür (Thoma) und Gilgamesh (Kirchner). Er lud auch viele Gastregisseure ein, um das Repertoire und Raritäten zu inszenieren. Von letzteren seien erwähnt: Sly (Wolf-Ferrari), Lulu (Berg), Die Geister von Versailles (Corigliano), Das Schloss (Reimann), Griechische Passion (Martinů), Billy Budd (Britten), Le Grand Macabre (Ligeti) und Penthesilea (Schoeck). Immer wieder setzte er besonders mit Hannover verbundene Werke wie Steffanis Enrico Leone, Ermano Wolf-Ferrari (der bereits in der Krasselt-Ära in Hannover vielgespielt wurde) und natürlich Heinrich Marschner (Der Bäbu konzertant, Hans Heiling in eigener Inszenierung) auf den Spielplan.
Auch Operetten hatten ihren beständigen Platz, unter anderem Kalmán, Offenbach und Millöcker. Hans-Peter Lehmann selbst inszenierte Die Lustige Witwe am Opernhaus zu einer Zeit, als das noch als „leichte Muse“ herablassend belächelt wurde. Auch das ist ein gutes Publikum, war sein Credo, mit dem gleichen Recht, große Kunst erleben zu dürfen. Und aus dem gleichen Grund fand im Opernhaus auch Rockmusik (Rockmusical Warlock, Rockballett Lady Macbeth) ihren Platz.
An zentrale Punkte setzte er gerne besondere Raritäten: Zur Wiedereinweihung der Staatsoper nach dem Umbau des Zuschauerraums durch Dieter Oesterlen inszenierte er 1985 Moses und Aaron (Schönberg). Im Vorfeld wurde Lehmann viel dafür kritisiert, dass er keine Festoper ausgewählt hatte. Also machte er sich selbst auf in die Schulen, um dort bei einem jungen, offenen Publikum für das Werk und seine Inszenierung zu werben. Der Lohn war ein riesiger Erfolg. Die Umbauzeit davor wurde im Theater am Aegi (Tosca u.a.), der Eilenriedehalle (West Side Story) und dem Kuppelsaal mit denkwürdigen Aufführungen von Jephta (Händel) und Rienzi (Wagner, konzertant) überbrückt.
Und zu seinem Abschied als Intendant inszenierte er mit dem Bühnenbild von Kathrin Kegler und dem für dieses Werk zurückgekehrten Dirigenten George Alexander Albrecht Mathis der Maler von Paul Hindemith. Für diese Produktion lud er mich als Regiehospitant ein. Ich bat damals darum, vier Wochen lang, vor der Regiearbeit, als Bühnentechniker ein Praktikum machen zu dürfen, um hinter den Kulissen „ausbaden“ zu dürfen, was der Regisseur und die Bühnenbilderin mit ihren Entscheidungen so „anrichten“, eine lehrreiche Erfahrung. Und der Grund, warum ich, wie eingangs erwähnt, damals zwischen den Bühnenarbeitern unter dem Dach des Opernhauses im Pausenraum saß. So kam es, dass ich auch bei Lehmanns letzter Aufführung der Götterdämmerung, die seit 1993 lief, die Kulissen schieben durfte.
Sicher kann man seine Inszenierung des „Ring des Nibelungen“ als Hauptwerk seiner Regiearbeit in Hannover nennen. Sie bildet auch das Motto „Danach trachtet mein Sinn“ und Titelbild des Buches über die Lehmann-Ära von Sabine Sonntag, seiner langjährigen Dramaturgin und persönlichen Referentin. In der Ausstattung von Ekkehard Grübler wurden starke Bilder gefunden, die das Werk unter dem (Expo-)Leitmotiv Mensch – Natur – Technik ausgedeutet haben. Schon zu Beginn des Rheingolds war die Naturzerstörung angelegt. Da wurde das Gold der Nibelungen in Halbringe geschmiedet, die einen Ringe-Tunnel ergaben, in dem sich der Riese Fafner verkroch und durch den er sich verwandelte: Die Ring-Höhle selbst wurde zum Drachen. Der Walkürenfelsen mit seinen fünf Armen war der Ort, wo Wotan und Brünnhilde von Göttern zu Menschen wurde. Der pentagonale Felsen wurde am Ende der Götterdämmerung während des „Geburtsmotiv“, wie Lehmann das letzte Motiv des Rings zu Recht nannte, zum Symbol eines neuen Menschen, der in einer Welt ohne Macht, nur in der Liebe überlebt. Ein optimistisches Bild, wie Lehmann ein optimistischer Menschenfreund war.
Bei der letzten Aufführung der Götterdämmerung, die ich als Praktikant der Bühnentechnik erlebte, passierte noch einmal etwas Besonderes. In Bayreuth kommt nach der Aufführung des Zyklus oft das ganze Orchester auf die Bühne, um sich seinen eigenen Schlussapplaus abzuholen. Dies hatte inzwischen auch Hannover übernommen, aber nicht genug: Hans-Peter Lehmann machte über die Haus-Lautsprecheranlage eine Durchsage, dass jeder, der hinter den Kulissen war, jede Garderobiere, jeder Kartenabreißer, jede Servicekraft, jeder in der Maske und Requisite auf die Bühne kommen solle zum Schlussapplaus. So stand einmal, kurz vor dem Ende seiner Amtszeit, das ganze Haus auf der Bühne. Denn jeder trägt zum Gelingen der Aufführung bei und auf jeden kommt es an.
Er war ein Menschenfreund und ein Freund des Publikums und hat seinem Publikum und den Freunden des Opernhauses Hannover viele glückliche Theatermomente beschert: als Regisseur, als Intendant, als Gast auf unseren Veranstaltungen und als Freund. Hans-Peter Lehmann war, wie seine Frau Erika-Maria, ein stets hochinteressierter und aufgeschlossener Gesprächspartner. Vieles von seinen Werken und Gedanken klingt in den Räumen des Opernhauses bis heute nach. Wir verdanken ihm viel und danken ihm dafür.
Text: Dr.-Ing. Heiko Jacobs für den Vorstand der Gesellschaft der Freunde des Opernhauses Hannover