Was für ein Abend! Die Premiere von „Sweeney Todd“ fand an der Staatsoper Hannover am Tag nach dem Tod des Komponisten statt, eine passendere Ehrung als diese erstklassige Inszenierung mit ihren bezwingenden Gesangsleistungen ist kaum vorstellbar. Aber wer „nur“ ein Horror-Musical erwartet hatte, der wurde überrascht. Positiv überrascht, so meine Meinung.
Der niederländische Film- und Theaterregisseur Theu Boermans arbeitete das Drama hinter der schwarzen Komödie heraus, verjagte jeden Hauch von klischeehaftem Gothic-Grusel. Er zeigte neben Spaß und Komik auch das, was sich dahinter verbirgt: eine Tragödie. Man genoss den wohligen Schauer, den die Geschichte auslöste, man amüsierte sich – und litt mit dem Helden mit, dessen Beweggründe man nur zu gut verstehen konnte.
Stephen Sondheim war einer der großen Musical-Komponisten Amerikas. Und nicht nur das, er war auch ein bedeutender Texter. Vom ihm stammt der Text der „West Side Story“, von ihm stammen Hits wie „Send in the Clowns“, er gewann einen Oscar, acht Grammys, neun Tonys und den Pulitzer-Preis.
„Sweeney Todd“ entstand 1979 auf ein Textbuch von Hugh Wheeler, Stephen Sondheim schrieb die Songtexte und die Musik. Allein dieses Stück mit dem schönen Untertitel „The Demon Barber of Fleet Street“ hätte gereicht, um Sondheim berühmt zu machen. Es ist eine wunderbare Mischung aus Musical und Thriller, aus Romantik und schwärzestem Humor, aus Komödie und herzzerreißendem Drama. Tragik und Witz sind aufs Feinste ausbalanciert. Stephen Sondheim selbst hat „Sweeney Todd“ als tiefschwarze Operette bezeichnet und das trifft es sehr gut. Wohl nie in der Musikgeschichte traf so viel Witz und Schwung auf so viel Blut.
Aber unter all dem morbiden Vergnügen verbirgt sich eine düstere, sozialkritische Geschichte. Das Stück handelt von einem normalen Menschen, der durch die Machenschaften einer morallosen Oberschicht zerstört wurde und der Rache will.
Der Barbier Benjamin Barker kommt nach fünfzehnjähriger Verbannung nach London zurück. Auf dem Schiff hat er sich mit dem jungen Anthony befreundet. Jetzt will er seinen alten Barbierladen besuchen. Von der Pastetenbäckerin Mrs. Lovett erfährt er da, dass Richter Turpin damals seine Verbannung inszeniert hatte, um Barkers Frau Lucy zu verführen. Die hat sich danach vergiftet, so Mrs. Lovett, die gemeinsame Tochter Johanna ist jetzt die Ziehtochter des lüsternen Richters.
Mrs. Lovett hat Barkers Barbierwerkzeuge über die Jahre aufbewahrt. Barker beschließt, seinen alten Laden unter dem Namen Sweeney Todd wieder zu eröffnen und sich am Richter zu rächen. Sein Rasiermesser soll sein Werkzeug der Rache werden. Erstes Opfer wird sein Barbier-Konkurrent Pirelli, der ihn erkannt hat und zu erpressen versucht. Dessen Assistent Tobias wird von Mrs. Lovett „adoptiert“. Mrs Lovett und Sweeney Todd beschließen, die Mordopfer in den Pasteten von Mrs. Lovett zu verarbeiten. Anthony hat sich währenddessen in Johanna verliebt und versucht sie zu retten (was die Geschichte für alle nicht einfacher macht).
Sweeneys Blutrausch wächst, es ist ihm egal, ob jemand schuldig ist, die Pastetenproduktion läuft auf Hochtouren. Es endet in einer Orgie der Gewalt. Sweeney Todd erwischt den Richter, tötet seine als Bettlerin lebende Frau (die er nicht erkennt) und dann auch Mrs. Lovett (die ihm die Identität seiner Frau verschwiegen hatte). Sweeney wird zum Schluss von Tobias getötet. Johanna und Anthony bleiben zurück. Alle sind tot, die ihnen die Hintergründe erklären könnten. Der Chor setzt den Schlusspunkt unter die grausame Geschichte.
Stephen Sondheim hat diese Drama-Komödie in eine Musik gekleidet, die Musical, Operette und Filmmusikzitate genial miteinander verbindet, durchkomponiert wie eine große Oper. Herrlich romantische Balladen gibt es, dramatischen Sprechgesang, Anklänge an Horrorfilme, Ensembles und Arien, große Chorszenen, feinste Instrumentation.
Für die Inszenierung konnte der Niederländer Theu Boermans gewonnen werden. Er ist nicht nur für seine Schauspielinszenierungen bekannt, sondern auch für Produktionen für Kino und Fernsehen. Besonderes Aufsehen erregte er mit dem Weltkriegs-Musical „Der Soldat von Oranje“, das er in einem stillgelegten Flugzeughangar inszenierte. Diese Inszenierung hat in den Niederlanden Kultstatus erlangt.
Theu Boermans arbeitet aus dem in seiner Grundstimmung mit der Dreigroschenoper verwandtem Stück das zugrundeliegende Drama heraus, ohne das Makaber-Schaurige und die Komik der Geschichte zu vernachlässigen. Den Fokus legt er dabei auf die Entwicklung der Hauptfigur. Im Programmheft sagt er: „Für mich ist das Sujet von Sweeney Todd eher eine Erzählung über ein Opfer der Verhältnisse und die Frage, wie jemand zu einem Serienmörder werden kann, sobald er seiner Gier nach Rache nachgibt.“
Sweeney Todd ist seelisch bis aufs Tiefste verletzt, er ist zu Boden gestoßen worden, wehrlos und verletzt, ohne Rechte. Aber er gibt nicht auf, der Drang nach Rache beherrscht ihn, nichts anderes ist mehr in ihm. Für ihn hat die Welt keinen Wert mehr, auch die Menschen haben keinen Wert. Sweeney Todd kennt kein Maß und im Lauf des Stückes fallen alle Grenzen. Selbst die Rache verliert Ihren Sinn, der Blutrausch bestimmt sein Handeln. Todd ist zu keiner emotionalen Beziehung mehr fähig, auch die Partnerschaft mit Mrs. Lovett ist nur etwas eigentlich Belangloses für ihn. Innerlich ist Sweeney Todd schon lange kalt und tot. Die Botschaft ist: Gibt man sich dieser Rache hin, dann gibt es kein zurück mehr. Wir sehen in dem Stück Schritt für Schritt Sweeneys Weg in den Untergang.
Todd ist ganz klar das Zentrum des Dramas, hier gibt es nichts von Humor. Für das Makaber-Komische ist insbesondere Mrs. Lovett zuständig, diese Mischung aus Menschenfleisch verarbeitender Bäckerin und hochanständiger, zuneigungssüchtiger Kleinbürgerin. Ab und zu verfällt sie in Hamburger Dialekt, eine gruselige Version von Heidi Kabel.
Das Musical kommt in zwei Sprachen auf die Bühne, gesprochener Text deutsch, gesungener Text in englischer Sprache mit deutschen Übertiteln. Da habe ich wegen des Sprachwechsels immer Bedenken, weil es mich aus der Konzentration auf eine Sprache herausreißt, hier aber funktionierte es gut.
Das Regiekonzept hat auch Auswirkungen auf das Bühnenbild, so Theu Boermans im Programmheft: „Wir haben versucht, vom pittoresken historischen Hintergrund des viktorianischen Englands wegzubleiben, und stattdessen zum Kern einer universellen Geschichte vorzudringen. Wir wollten den Fall eines unschuldig verurteilten, vielleicht eher durchschnittlichen Bürgers, der zum Mörder wird, so klar wie möglich auf die Bühne bringen. Dafür musste auch der Bühnenraum von unnötigem Ballast befreit werden. Das hat in diesem konkreten Fall die historische Zeit und die viktorianische Epoche mit ausgeschlossen.“
Dieser Ansatz wird durch Bühnenbild (Bernhard Hammer), Kostüme (Mattijs van Bergen), Lichtgestaltung (Susanne Reinhard) und Videos (Arjen Klerkx) beeindruckend unterstützt. Das in anderen Inszenierungen oft übertrieben Victorianische ist nur noch in Details zu ahnen, statt Schmutz und Dreck sehen wir eine manchmal fast klinisch rein anmutende Szenerie.
Auf der schräggestellten Drehbühne befindet sich ein leuchtend weißes Podest, eine Art viereckiges Labyrinth, dessen Teile auseinandergezogen und in anderen Konstellationen wieder zusammengesetzt werden können. Es bilden sich so Gänge, Räume, Treppen und Irrwege. Das erinnert an eine abstrakte Skulptur. Dieses Podest bildet alle Schauplätze des Musicals ab, ist mal das Haus des Richters, mal Johannas Zimmer, mal die Irrenanstalt. An den Seiten dieses Blocks befinden sich dann Mrs. Lovetts Pastetenladen und der Barbiersalon von Sweeney Todd, nur mit einigen wichtigen Details angedeutet. Als Reminiszenz an das London Jack the Rippers gibt es nur noch die bühnenhohen Vorhänge an den Seitenwänden. Sie verwandeln die ganze Szenerie in so etwas wie eine riesige Trauerhalle.
im Hintergrund der Bühne befindet sich eine riesige Leinwand. ihre Bilder dienen dazu, die jeweilige Stimmung der Szene zu unterstützen. Es sind abstrakt-impressionistische Bilder, die hier unaufdringlich das Geschehen unterstützen. Ab und zu wird die Drehbühne von oben gefilmt und auf der Leinwand gespiegelt, eine Art emotionale Dopplung.
Das Bühnenbild lenkt die Aufmerksamkeit so ganz auf die Personen. Realistisch und präzise durchgestaltet ist allerdings die schaurige Pasteten-Produktionsstrecke: Barbierstuhl, Leichenschacht, fallende Leiche, Lagerkeller, Fleischverarbeitung und Backofen. Besonders gruselig wird es, wenn Szenen daraus – von oben gefilmt – auf die Leinwand im Hintergrund projiziert werden.
Die Kostüme von Mattijs van Bergen sind schlicht, eher aus der heutigen Zeit. Interessant ist ihre farbliche Gestaltung. Sie macht es einfach, jede Person gleich zu erkennen. Aber ich glaube, Theu Boermans und Mattijs van Bergen benutzen Farben auch als Symbole. Der Chor (die Gesellschaft) ist eher grau und unauffällig. Die Bettlerin (Lucy) fügt sich in ihren schmutzigen Tönen hier ein – aber eigentlich trägt sie ein besudeltes Weiß der Unschuld. Jede der weiteren Hauptpersonen hat Ihre eigene Farbe. Zu Sweeney Todd gehört das Dunkelrot, das Rostrot – die Farbe des vergossenen Blutes. Auch sein Freund Anthony ist in roten Tönen gekleidet. Rot ist auch die Farbe der Liebe. Blau gehört zu Mrs. Lovett – die Farbe der Treue. Weiß gehört zum Richter – nach außen unschuldig. Seine Schuhe sind rot, wie in Blut getaucht – er geht ja auch über Leichen. Ebenfalls in Weiß tritt Johanna auf – hier ist die Reinheit real. Büttel Bamford erscheint in Grün, Tobias in Gelb, Pirelli ist Pink und Glamour.
Das Licht (Susanne Reinhardt) und die Videos (Arjen Klerkx) tragen viel zur Wirkung der Inszenierung bei. Sie lenken die Aufmerksamkeit, sie projizieren die Stimmungen der Protagonisten, sie machen alles stimmig. Manchmal leuchten die Wände in blutrotem Licht, Todds Blutrausch eruptiert so gleichsam aus ihm heraus. Besonders eindrucksvoll wird der Schluss des Stückes: der Chor mit Kerzen, gedämpftes Licht, die Geschichte verschwindet in der Dunkelheit. Es endet, wie es in der ersten Szene begonnen hat, mit der Ballade von Sweeney Todd („Attend the tale of Sweeney Todd.“). Das Musical wird so zu einer gigantischen Einblendung, einer Vision aus der kollektiven Erinnerung.
Die musikalischen Darbietungen standen den Finessen der Inszenierung in nichts nach. Das Niedersächsische Staatsorchester unter Leitung von James Hendry lieferte eine erstklassige Vorstellung ab. Die Musik ist vielgestaltig und kleinteilig, es gibt Einflüsse aus der Oper, aus der Operette, aus der Filmmusik großer Horrorfilme. Es gibt Ensembles, Balladen, Sprechgesang, das ist unglaublich komplex für ein Musical. Orchester, Sängerinnen und Sänger müssen zusammenkommen und eine Einheit werden, damit diese spezielle Musik wirkt. Stephen Hendry schaffte es, dass das alles zusammenpasste. Er schaffte es, den großen Rahmen zu spannen. Und das Orchester zeigte, dass es diese Musik genauso gut und mit spürbarer Freude spielen kann wie große Oper und große Sinfonik. Für das Ensemble war das jederzeit eine sichere Basis. Hervorheben möchte ich Maxim Böckelmann, der die Chorszenen beeindruckend auf der Orgel begleitete.
Dem Chor der Staatsoper Hannover unter Leitung von Lorenzo Da Rio gelangen großartige Momente, wenn sie mit Gänsehauteffekt ihre Auftritte in Szenen wie aus einer griechischen Tragödie verwandelten. Auch die gut choreografierte Statisterie ist hier hervorzuheben.
Das ganze Sängerensemble bestach durch wunderbare stimmliche und darstellerische Leistungen.
Scott Hendricks als Sweeney Todd steht fast ununterbrochen die über drei Stunden auf der Bühne. Seine Bühnenpräsenz war genauso beeindruckend wie seine farbenreiche und durchschlagskräftige Baritonstimme. Absolut großartig und wirklich Angst einflößend gelang sein Song „Epiphany“, in dem er die verpasste Gelegenheit beklagt, den Richter zu töten und in dem er beschließt, ab jetzt jeden umzubringen, der seinen Laden betritt. So viel Schauder war selten! Ich war froh, weit weg im Rang außer Reichweite zu sitzen.
Ein herrlicher Kontrast dazu ist die Mrs. Lovett von Anne Weber. Auch hier laufen einem Schauer über den Rücken, aber ganz anderer Art. Hinter einem Hamburger Zungenschlag verbirgt sich eine pragmatische Geschäftsfrau auf dem Weg nach oben, die ohne Gewissensbisse über Leichen geht. Anne Weber gelang es, dies mit leichter Zunge, Charme und viel Spielfreude darzustellen, ganz weit weg von einer Karikatur. Komik und Dramatik, beides gelang.
James Newby hat eine wunderbar tönende Baritonstimme. Hier zeigte er, dass er die auch im Musical hervorragend einsetzen kann. Sein Anthony war voller gesanglicher und darstellerischer Leidenschaft, ein Rollenportrait, das in Erinnerung bleiben wird. Besonders anrührend bleibt mir sein Song „Johanna“ im Gedächtnis, voll von herzerweichender, ehrlicher Romantik.
Für die Rolle der Johanna hat Nikki Treurniet genau die richtige Stimme, ein farbenreicher und warmer lyrischer Sopran. Sie gestaltete ihre Rolle in ihrer ganzen Verletzlichkeit sehr anrührend und glaubwürdig. Besonders beeindruckte sie mich im Song „Green Finch and Linnet Bird“.
Daniel Eggert mit seinem warmen Bass verwandelte den bösen Richter Turpin in eine fast schon sympathische Charakterstudie, ein selbstgerechter Wolf im Schafspelz. Großartig in seiner Mischung aus Komik und Tragik gelang das Duett „Pretty Women“ mit Sweeney Todd.
Wie es Philipp Kapeller als Büttel Bamford gelang, seinen höhensicheren und hellen Tenor mit so viel latenter Schmierigkeit in der Darstellung zu vereinen, das beeindruckte schon sehr. Das war so gut, dass ihn wahrscheinlich das ganze Publikum gern selbst in den Leichenkeller befördert hätte!
Pawel Brozek sang den Tobias mit jugendlichem Schwung und schöner Stimme so verletzlich sympathisch, dass man sofort verstehen konnte, dass ihn Mrs. Lovett unter ihre Fittiche nimmt. Es ging ans Herz, wie fein er Komik und Tragik dieser Figur herausarbeitete.
Peter O‘Reilly gelang ein herrlich gesungener und gespielter Auftritt als Pirelli. Sein divenhafter Auftritt im pinkfarbenen Anzug war einfach mitreißend und komisch.
Aus der eher kleinen (aber dennoch zentralen) Rolle der sich als Todds Ehefrau herausstellenden Bettlerin machte Monika Walerowicz eine anrührende Charakterstudie, für die es verdient viel Beifall gab.
Martin Kreilkamp aus dem Chor als Irrenhausdirektor Mr. Fogg ordnete sich nahtlos in das gute Gesamtbild ein.
„Sweeney Todd wollte immer ein guter Mensch sein“, so sagte es Regisseur Theu Boermans. Aber wie das Stück zeigt: das reicht nicht. Da sind wir ganz nah an der Realität. Der rote Faden der letzten Spielzeiten von „La Juive“ über „Otello“ setzt sich fort, Stücke, die auch diese Thematik verhandeln. Gibt man sich der Rache hin, dann gibt es kein zurück mehr.
Die Inszenierung und die musikalischen Leistungen verwandelten eine schwarze Komödie in eine lebensnahe Geschichte. Man kann sich gruseln, man kann lachen, aber man leidet wirklich mit. Was kann man mehr von einem Musical erwarten? Den Wunsch nach genießbaren Pasteten spare ich aus. Der Schlussapplaus des im Schnitt recht jungen Publikums wollte verdientermaßen kaum enden.
Achim Riehn