Probenbesuche sind etwas Besonderes und immer spannend, ich liebe sie. Ich schaue hinein in das „Labor“, schaue zu, wie eine Inszenierung aus vielen Bausteinen entsteht. Vor- und Nachgespräche gehören dazu, sie geben tiefe Einblicke in das Geschehen. Man kommt mit anderen Probenbesucherinnen und -besuchern über das Gesehene ins Gespräch. Einen aufregenderen „Kultur-Booster“ gibt es kaum!
Selbst in diesen schwierigen Zeiten war diese Probe gut besucht. Zu Beginn erläuterten Dramaturg Martin Mutschler und Regisseurin Lydia Steier die Kernpunkte des Inszenierungsansatzes. Die Oper ist 1786 uraufgeführt worden. Für Lydia Steier ist es immer wichtig, einen Zugang zur heutigen Zeit zu finden. Welche Facetten des Stücks reflektieren das Heute? Das ist für sie die zu beantwortende Kernfrage, damit die Inszenierung interessant wird. Sehr wichtig ist der respektvolle Umgang mit dem Stück, aber die Gegenwart muss sich darin spiegeln.
In der Oper treffen zwei Gruppen aufeinander: die privilegierte Klasse und ihre Diener. „Im Figaro ist schon die Revolution am Werk“, dieses Zitat wird Napoleon zugeschrieben. Man muss die Revolution hinter der Komödie spüren, so Lydia Steier. Alle Personen auf der Bühne sind in Rage über ihre Situation, sind unzufrieden. Aber niemand hat eine Idee für eine Lösung. So wie es ist darf es nicht bleiben. Figaro dient dabei als Stellvertreter für unsere heutige Zeit. Er ist der Überzeugung, dass es anders werden muss. Einen Plan oder eine Vision aber hat er nicht. Der Graf ist der Chef im Haus, aber er ist ebenfalls sehr unzufrieden mit seiner Situation. Sein Palast zerbröselt, alles ist etwas schäbig, auch sein Leben ist im Zerfall.
Die Inszenierung zeigt hinter der Komödie eine Revolution, die im Gange ist, die sich aber als hohl und inhaltsleer erweist. Figaro entwickelt sich im Lauf des Stückes zum Opportunisten, zum Revolutionsführer ohne Plan. Revolution ohne Idee aber ist Vandalismus – das ist der Kern der Inszenierung. Für Lydia Steier verbirgt sich eine große Bitterkeit hinter dieser Komödie.
Sie musste schnell zurück in die Probe, Martin Mutschler erläuterte dann den derzeitigen Stand. Für uns gab es eine Bühnenorchesterprobe zu sehen. Musik und Darstellung kommen zusammen. Die Proben finden in einer schwierigen Situation statt. Notwendige Quarantänen führten dazu, dass selbst die Premierenbesetzung noch nicht endgültig feststeht.
Wir sahen dann einen Durchlauf des ersten Teils der Oper. Hier war von Revolution noch nicht viel zu spüren, wir sind (noch?) in einer Komödie. Viele witzige Details der Inszenierung brachten mich zum Kichern (die Nonnen!) und zum Staunen. Spielfreude und Trubel, ein prächtiges Bühnenbild, opulente Kostüme – die Zeit verging wie im Flug. Mit Details werde ich mich zurückhalten, schaut euch das dann selbst an! Es wird sich lohnen!
Die Hälfte der Personen auf der Bühne agierte noch in Alltagskleidung. Martin Mutschler erläuterte das im Nachgespräch. Normalerweise wird nicht in Originalkostümen geprobt, die sollen ja nicht so schnell verschleißen. Hier aber sollen sie gebraucht und etwas verschlissen wirken. Um das zu erzielen, kommen die fertigen Kostüme schon in den Proben zum Einsatz.
Das Geschehen auf der Bühne war so turbulent, dass es sogar zu einer kurzen Unterbrechung kam. Cherubino knallte so heftig aus dem Bett der Gräfin auf den Bühnenboden, dass sich die Sängerin einen Moment sammeln musste. Ein Schreckmoment, aber zum Glück war nichts passiert.
Alles machte schon einen guten Eindruck. Ab und zu lief noch der Regieassistent auf die Bühne und rückte etwas zurecht. Sängerinnen und Sänger haben wirklich viel zu beachten, nichts ist statisch in dieser Inszenierung, alles ist in Bewegung. Dafür sah das schon sehr perfekt aus. Die Premiere kann kommen!
Nach der Probe hatten wir noch die Gelegenheit, das Gesehene mit Martin Mutschler zu besprechen und Fragen loszuwerden. Die Inszenierung gibt vor der Ouvertüre einen kurzen Einblick in den Schluss der Oper. Das hat seinen Grund. Die Oper beruht auf einem Bühnenstück von Beaumarchais mit dem Titel „Der tolle Tag oder Die Hochzeit des Figaro“. Die Oper endet in einem Happy End, aber davor liegt dieser Tag – der Beginn zeigt, was sich Susanna von diesem Tag erträumt. Es wird dann so kommen, aber doch ganz anders.
Aufgefallen war uns die improvisatorisch-freie Begleitung der Rezitative am Klavier. Hier mischten sich Mozart-Klänge mit dezent moderneren Tönen. Das ist gewollt, das dient auch als Klammer zwischen der Zeit Mozarts und der heutigen Zeit.
Die Freude aller auf der Bühne am Geschehen war deutlich zu spüren. Martin Mutschler erzählte, dass sich Sängerinnen und Sänger im Probenprozess fast in einer Art Wettbewerb darin überboten hätten, ihre Rolle mit Details anzureichern. So kommt es dann dazu, dass eine Sängerin sich traut, den Spitzenton ihrer Arie im Zurückfallen auf ihr Bett zu singen.
Diese Probe lässt wieder einen tollen Abend erwarten, auch musikalisch und gesanglich hochklassig. Ich hoffe, dass die Pandemie es zulässt, das auch wirklich auf der Bühne zu sehen. Man würde wirklich viel verpassen, wenn man das nicht erlebt und hört! Hingehen!
Achim Riehn