Einblicke in den Probenprozess sind faszinierend, besonders wenn es dazu ein Vor- und ein Nachgespräch gibt. In dieser Kostprobe stand ein Besuch einer Probe zu einer zeitgenössischen Oper an – „Denis & Katya“, komponiert von Philip Venables (*1979) auf einen Text von Ted Huffman. In ein paar Tagen ist Premiere im Ballhof, es ist die Erstaufführung der deutschen Fassung.
Diesmal waren wir in eher kleinem Kreis. Chefdramaturgin Regine Palmai begrüßte uns und moderierte dann das Vorgespräch. Zu Gast dafür waren der Komponist (wann kann man schon einmal mit einem Komponisten reden!) und der musikalische Leiter Maxim Böckelmann.
Die Oper beruht auf einer wahren Geschichte aus dem Jahre 2016. Zwei russische Teenager, 15 und 16 Jahre alt (Denis, Katya) verschanzen sich in einer Waldhütte, voll mit Alkohol und Waffen. Sie fangen an, in den sozialen Medien zu posten, immer mehr angeheizt von ihren Followern. Es eskaliert immer mehr, sie beginnen, mit den Waffen zu schießen. Eltern und Polizei kommen dazu, es läuft aus dem Ruder, zum Schluss sind die Beiden tot, erschossen von der Polizei.
Philip Venables und Ted Huffman sind im Internet darauf aufmerksam geworden. Philip Venables erläuterte, dass sie sich damals viele Geschichten für eine Oper angeschaut hatten. Dieses wahre Geschehen erweckte dann aber besonders ihr Interesse. Die Geschichte hat viele Ebenen, das macht sie interessant und emotional packend. Es gibt das Paar (es erinnert in der Tragik an Romeo und Julia), es gibt das Geschehen im Internet, es gibt die Reaktionen von Freunden und Beteiligten, es gibt unser Eingehen darauf. Diese unterschiedlichen Ebenen sind alle in die Partitur eingegangen.
Komponist, Textdichter und eine Dramaturgin waren dann in Russland, um den Hintergrund zu recherchieren und die Sichtweisen von Betroffenen zu erfahren. Aus dieser Recherche wurden die Personen des Stückes geformt. Denis und Katya stehen nicht auf der Bühne, es wird in der Oper über die Beiden gesprochen und über sie nachgedacht. Auf der Bühne stehen Personen, die irgendwie beteiligt oder betroffen waren – eine Journalistin, ein Freund, Lehrer, eine Nachbarin, ein Arzt, eine Mitschülerin. Es gab viel Originalmaterial, weil Denis und Katya damals sehr viel gepostet haben, Teile daraus sind in das Libretto mit eingeflossen. Der Stoff wird strukturiert durch Ausschnitte aus den WhatsApp-Nachrichten zwischen Philip Venables und Ted Huffman darüber, wie sie ihn damals entdeckten.
Maxim Böckelmann erläuterte dann Details der musikalischen Umsetzung. Alle Personen werden von einer Sängerin und einem Sänger dargestellt. Dazu kommen einige wenige Instrumente (vier Celli). Gespielt wird nicht von Notenblättern, sondern von Tablets. In der Ecke der Bühne stehen vier Mikrophone, die das Geschehen aufnehmen. Die Partitur ist sehr detailliert und enthält sehr viele hilfreiche Angaben für die Umsetzung. Dies ist besonders wichtig, da die Personen und damit die musikalischen Welten schnell wechseln. Alle Beteiligten bekommen dazu über Kopfhörer ordnende Signale (einen Dirigenten gibt es nicht). Das ist insbesondere für Sängerin und Sänger sehr anspruchsvoll. Aber alle diese technischen Mittel dienen nur dazu, einen bestimmten musikalischen Zweck zu erreichen.
Für Maxim Böckelmann ist wichtig: es darf nicht technisch wirken, es muss musikalisch werden! Jede Person auf der Bühne hat ihre eigene musikalische Welt. Es ist ganz erstaunlich – all diese technischen Mittel ergeben schlussendlich ein fast „normales“ Opernwerk. Es entsteht ein analoges Musiktheater über etwas, das sich digital im Internet abgespielt hat. Das digitale Geschehen kommt zurück in die reale Welt.
In der anschließenden Probe erlebten wir zuerst einige technische Abstimmungen zu bestimmten Details der Klangmischung mit. Es war schon faszinierend, direkt neben dem Komponisten zu sitzen und seine Reaktionen und Anmerkungen live mitzubekommen. Immer wieder wurde ein „Markus“ oben in der Technik angesprochen, der mit unerschütterlicher Ruhe auf alles einging.
Danach gab es einen Durchgang durch ungefähr das erste Drittel der Oper. Die Bühne ist schlicht, eine weiße Fläche, zwei Stuhlreihen links und rechts, hinten eine große Videowand. Die vier Celli waren an den Enden der Stuhlreihen platziert. Sängerin (Weronika Rabek) und Sänger (Darwin Prakash) saßen dazwischen. Das Stück begann mit dem Tickern der ersten WhatsApp-Nachricht auf der Videowand, dann übernahmen die ersten Personen das Geschehen und erzählten ihre Sicht auf die Geschichte. Häufig wurde dabei der Text gedoppelt – zum gesprochenen Text kam ein (meist kürzerer) gesungener Text. Für mich waren das zwei Ebenen – die gesprochene Information, die gesungene Emotion, bei jeder Person musikalisch anders. Es machte einen dichten und atemlos-mitreißenden Eindruck. Die Musik ist modern, aber doch recht melodisch. Manchmal musste ich an die beängstigende Musik aus Psycho denken, dazu trugen die Streicher und die kurzen musikalischen Motive bei.
Nach der Probe saßen wir dann noch mit Frau Palmai in kleinem Kreis im Foyer zusammen und sprachen über verschiedene Dinge, die uns aufgefallen waren. Frau Palmai erläuterte, dass im weiteren Verlauf die musikalische Welt sich immer mehr verändern wird. Von der Stimmung eines Thrillers (das Geschehen wird erzählt) wandelt es sich zum Schluss in eine fast barock anmutende Musik (das Geschehen wird reflektiert). Der gesprochene Text wird weniger in dem Maße, wie die Emotionalität zunimmt (das ist meine Schlussfolgerung).
Diese Kostprobe hat sich wieder sehr gelohnt (schön dass es sowas gibt). Sie hat mich neugierig gemacht auf diese Oper, jetzt werde ich mir Karten kaufen. „Denis & Katya“ ist ein Stück, das zum Nachdenken anregt über unseren Umgang mit sozialen Medien. Ich wünsche mir, dass nicht nur Liebhaber neuer Musik kommen, sondern auch viele neugierige Operngänger. Zudem ist es ein Stoff, der auch junge Menschen „packen“ wird. Ich freue mich drauf!