Regisseur Ersan Mondtag und Dirigent Stephan Zilias gelingt eine spektakuläre Auferstehung des „Vampyrs“ von Marschner. Die Inszenierung ist eine Huldigung an die Ausgestoßenen. Ein Fest für das Auge wird geboten, prächtiges Bühnenbild, tolle Kostüme, gut gesungen und gespielt ist es auch. Trotzdem bleiben viele Fragen offen. Über diese Inszenierung wird das Publikum wohl noch lange diskutieren! Ist das so wie dargeboten noch eine Oper? Und wenn nicht, was ist es dann?
Heinrich Marschner leitete ab 1831 über drei Jahrzehnte als Königlicher Kapellmeister die Oper in Hannover. Daneben war er aber auch ein anerkannter und erfolgreicher Komponist. Der Durchbruch gelang im bereits im Jahr 1828 mit der Oper „Der Vampyr“. Sie traf den Nerv einer Gesellschaft, die fasziniert war von Schauergeschichten. Marschners Oper beruht dabei auf dem „Urmythos“, der Novelle „The Vampyre“ von John Polidori. Deren Held hat sein Vorbild im britischen Schriftsteller Lord Byron, der die Menschen mit seiner Lebensweise und seiner Art gleichzeitig fasziniert, schockiert und abgestoßen hat.
Heinrich Marschners Oper steht stilistisch zwischen Weber und Wagner. Sie ist ein Bindeglied zwischen der deutschen Spieloper und dem Musikdrama. Elemente aus beiden Richtungen mischen und überlagern sich, sind miteinander im Wettstreit. Das Musikdrama war als Gattung noch nicht ausgereift, Wagner noch fern, die Komponisten auf der Suche. Dazu ist das Libretto mit seinen naiven Herz-Schmerz-Reimen keine literarische Meisterleistung. Jede Inszenierung muss sich der Herausforderung stellen, wie sie mit diesem Konflikten umgehen will. Soll man eine dieser Richtungen bevorzugen oder nicht? Soll man die Gegensätze betonen oder kaschieren? Der Umgang mit diesen Fragen ist auch zentral für den Ansatz von Ersan Mondtag.
Der Inhalt der Oper ist recht einfach gestrickt und schnell erzählt. Der Vampyr Lord Ruthwen kann ein weiteres Lebensjahr gewinnen, wenn er innerhalb von 24 Stunden drei junge Frauen aussaugt und tötet. Der junge Aubry kennt Ruthwens Identität als Vampyr, ist aber durch einen Eid daran gebunden, ihm zu helfen und nicht zu verraten. Aber es tut sich ein Problem auf. Aubry möchte Malwina, die Tochter des reichen Lords von Davenaut heiraten. Der hat aber andere Pläne. Seine Tochter soll noch heute mit Lord Marsden verheiratet werden, in dem Aubry entsetzt Lord Ruthwen erkennt. Große Krise!
Mit den ersten beiden Frauen hat Lord Ruthwen leichtes Spiel. Janthe fällt ihm gleich zu Beginn der Oper zum Opfer. Emmy tötet er kurz vor ihrer Hochzeit, zu der die Festgesellschaft schon versammelt ist. Malwina soll das dritte Opfer werden. Aubry steht vor einem Dilemma: seine Braut retten oder dem heiligen Schwur treu bleiben. Es gelingt ihm aber, die Hochzeit zu verzögern. Lord Ruthwen schafft es nicht, in der ihm zugewiesenen Zeit Malwina zu töten. Er überschreitet die Frist und stirbt. Happy End für Aubry und Malwina.
Musikalisch bietet die Oper viel, vielleicht zu viel. Es gibt leichte Spielopernszenen (Malwina und Aubry), es gibt große Massenszenen voller Komik (Emmys Hochzeitsfest), es gibt Drama. Die Figur des Lord Ruthwen nimmt den fliegenden Holländer vorweg, Emmys Ballade ist ein direkter Vorgänger von Sentas Ballade. Richard Wagner hat sich ziemlich sicher beim Holländer von den dramatischen Konzepten im Vampyr inspirieren lassen.
Marschner ist ein Romantiker reinsten Herzens. Seine Musik ist eigenständig, sie behauptet ihren Platz zwischen Weber und Wagner. Sie ist immer gut durchhörbar. Die Harmonik ist stark mit Chromatik durchsetzt, den Personen sind so etwas wie Leitmotive zugeordnet. Im Klang erinnert das an den ganz frühen Wagner. Oft ist die Musik weniger wie die einer Oper, sondern eher wie ein Konzertstück mit den Gesangsstimmen als Soloinstrumenten. Dies erhöht allerdings die Schwierigkeiten für Sängerinnen und Sänger, da sie oft wenig vom Orchester unterstützt werden.
Wie geht nun Ersan Mondtag (*1987 in Berlin) mit diesen Herausforderungen um? Er ist einer der erfolgreichsten Regisseure und Bühnenbildner der jüngeren Generation, bekannt für seine bildmächtigen, überbordenden Inszenierungen. Gerade war er in den Schlagzeilen mit Langgaards „Antikrist“ an der Deutschen Oper Berlin und Webers „Freischütz“ in Kassel. Der „Antikrist“ erwies sich als Sensationserfolg, der „Freischütz“ erntete eher zwiespältige Reaktionen. Alle Voraussetzungen für einen aufregenden Abend waren also gegeben (im Kino hätte zum Zuschauen eine große Portion Popcorn gehört).
Ersan Mondtags Inszenierung nimmt Bezug auf den Kern des Vampirmythos. Der Archetyp des Blutsaugers wurde in verschiedenen Zeiten genutzt, um Menschen und Gruppen von Menschen auszugrenzen und zu stigmatisieren. Die ganze Inszenierung ist voll mit Bezügen auf diese Thematik. Der Bogen spannt sich dabei vom Ausgangspunkt des ausgegrenzten „Freaks“ Lord Byron über die nationalsozialistische Propaganda, die Juden als Blutsauger verunglimpft hat hin bis zu Karl Marx, für den das Kapital der Vampir war. Diese Aspekte sind der im Libretto erzählten Geschichte des erotisch anziehenden Vampirs hinzugefügt und sie finden sich im Bühnenbild und den Kostümen wieder. Gleichzeitig wird der Vampyr ambivalent dargestellt, es wird nicht die Geschichte des bösen Vampirs nacherzählt.
Für mich hätte das ausgereicht, um die Geschichte für die heutige Zeit interessant zu machen. Aber Ersan Mondtag setzt noch einen drauf. Die ursprünglichen Bühnendialoge sind zum größten Teil ersetzt durch schauspielartige Szenen dreier Sprechrollen. Sie stehen für die der Geschichte hinzugefügten Aspekte.
Diese drei Figuren sind unsterblich, sie irren seit Jahrhunderten über die Erde. Da gibt es die ehemalige Liebesgöttin Astarte (Oana Solomon), die jetzt die Schutzherrin der Schauergestalten, der Freaks und der Geister ist. Sie ist die Vampirmeisterin, die Lord Ruthwen die vierundzwanzigstündige Frist gewährt. Da gibt es den ewigen Juden Ahasver (Jonas Grundner-Culemann), der über die Erde irrt, sein Volk beweint und der nicht sterben kann. Und da gibt es Lord Byron (Benny Claessens), den Dandy, den Freak, den Störenfried, den Ursprung des Mythos vom Vampir. Auch äußerlich sind sie unterschiedlich: Astarte wie eine Wiedergeburt von Frankensteins Braut aus dem gleichnamigen Film, Ahasver im Totenhemd, Lord Byron in pink, mit blauen Haaren, wie eine Kopie des Komikers Dirk Bach (oder von Elton John).
Diese drei Figuren betten die Gesangsszenen in ein ganzes Geflecht von Assoziationen ein. Das funktioniert, wenn man sich darauf einlässt. Außerdem ist es gut gespielt. Aber es ist doch ein sehr komplexer Überbau. Ahasver und Astarte hätten aus meiner Sicht ausgereicht, da ihre philosophisch angehauchten Dialoge der Oper die Nebenbedeutungen beifügen. Das hätte der Oper eine melancholisch-poetische Bedeutungsebene gegeben.
Die Rolle des Lord Byron ist problematischer. Benny Claessens spielt sie mit beachtlicher Bühnenpräsenz, das ändert aber nichts daran, dass diese Rolle für mich das Stück „kippen“ lässt. Ich fand mich auf einmal in einer überdrehten Show wieder. Sogar eine Musical-Einlage gab es: „There’s a vampire in my bed“! Das hatte durchaus Schauwert, es war für mich aber schwer, dann wieder zurückzufinden in die Musik. „Der Vampyr“ ist schon Spieloper und Musikdrama, jetzt kam zum Schauspiel noch Anarcho-Comedy dazu. Ob das passt, darüber kann man trefflich streiten! Ja, alles bedeutungsvoll – aber als Publikum muss man das erst einmal im Kopf zusammenbekommen! Wäre hier weniger mehr gewesen? Am Schlussbeifall gemessen, schien Lord Byron dem recht jungen Publikum durchaus zu gefallen.
Aber diese drei kommentierenden Figuren haben für mich geklärt, was dieser Abend ist: eine Opernrevue, eine schräge, wilde Mischung. Die Oper wird als Abfolge von Nummern betrachtet, die in eine Rahmenhandlung wie aus Schmidts Tivoli in St. Pauli eingebettet ist. Der augenzwinkernde Kontrast zwischen den neuen Sprechtexten und den naiven und manchmal unfreiwillig komischen Reimen des Librettos verstärkte diesen Eindruck.
Das grandiose Bühnenbild (ebenfalls von Ersan Mondtag) bildet die der Geschichte hinzugefügten Bedeutungsebenen subtiler ab. Das Bühnenbild verortet die Geschichte hier in Niedersachsen. Die ersten zwei Aufzüge werden vom Portal der in der Progromnacht niedergebrannten Synagoge in Hannover dominiert. In der zweiten Hälfte der Oper bildet die Front des Braunschweiger Schlosses (einer Einkaufs-Galerie) den beeindruckenden Hintergrund für das Geschehen. Auf dem Schloss sind sogar hannovertypische Graffiti-Schriftzüge zu sehen! Großartig die Lichtgestaltung von Sascha Zauner! Neon leuchtete, aber es gab auch Zeichen des Verfalls. Das Schloss stand auf einer Drehbühne, seine Rückseite verwandelte sich so in eine monumentale Totenhalle mit übergroßen Nonnenstatuen. Das große Portal des Schlosses diente als Übergang zwischen beiden Seiten. Allen Menschen, die am Bühnenbild mitgearbeitet haben, ganz viel Beifall für ihre Leistung!
Die faszinierenden Kostüme von Josa Marx standen dem Bühnenbild in nichts nach. Sie betonen, dass eigentlich alle auf der Bühne irgendwie Freaks sind. Lord Davenaut tritt als Ölscheich im schwarzem Umhang auf (aussaugender Kapitalismus!), die Gäste der Hochzeiten tragen alle Bekleidung aus schwarzem Lack. Es erinnert mehr an eine Fetischparty als an eine Hochzeitsgesellschaft. Auch Emmy wirkt so wie eine strenge Domina, die sich aber zu gern von ihrem Vampirverehrer in silbernem Outfit verführen lässt. Das Gefolge der Vampirmeisterin sind Untote, mit zwei Reihen Augen auf den Köpfen, Blutspuren auf den Körpern, Messern und Pfeilen im Körper. Ihre Schleppe lässt die Vampirmeisterin von Kindermonstern (voll süß!) tragen, die sich auch mal unter das Volk mischen. Das Zecherquartett und die zänkische Ehefrau auf der Hochzeit ganz in Gold, es ist eine Pracht für das Auge. Malwina in Popart-Kleidung der Sechziger und Aubry als eher konservativer Gentleman heben sich mit ihren Kostümen deutlich ab, sie sind die „Normalen“ in diesem Pandämonium.
Dirigent Stephan Zilias und das Niedersächsische Staatsorchester überzeugen auf ganzer Linie. Durchsichtig und präzise ist das, wunderbar ausbalanciert, alle feinen Details in der Instrumentation liegen offen.
Marschners Art der Komposition macht es den Sängerinnen und Sängern nicht leicht, da sie von der Musik kaum getragen werden. Ihre Stimmen sind eigenständige Instrumente, die oft den richtigen Ton allein finden müssen. Das gelang dem Ensemble aber gut.
Michael Kupfer-Radecky überzeugte in der Titelrolle des Lord Ruthven. Die Rolle verlangt ein großes Ton- und Ausdrucksspektrum zwischen Holländer-Dunkelheit und zartem Liedgesang. Das gelang anrührend, es machte Freude, hier zuzuhören.
Mercedes Arcuri stattete ihre Malwina mit strahlenden Spitzentönen und der richtigen Mischung aus Koketterie und Drama aus. Hier muss man die Leichtigkeit der Spieloper mit der Energie einer Königin der Nacht zusammenbringen – Mercedes Arcuri kann das!
Aubry ist eine etwas undankbare Rolle, die sich nicht so richtig zwischen Naivität und Drama entscheiden kann. Norman Reinhardt gelang es aber, beide Seiten dieses Menschen glaubhaft darzustellen, mit Weichheit und auch Durchschlagskraft.
Nikki Treurniet machte aus der Emmy ein faszinierendes Rollenportrait. Ihre Ballade war ein Meisterstück. So selbstbewusst und klangschön gelang dies, dass man es fast nicht glauben mochte, dass Emmy dann so leicht dem Vampyr zum Opfer fällt!
Shavleg Armasi gestaltete seine Rolle des Lords von Davenaut ebenfalls überzeugend mit sonoren Basstönen. Er ist ja liebender Vater und gleichzeitig harscher Haustyrann, ein jovialer Daland. Das war zu jeder Zeit glaubhaft (sein etwas albernes Ölscheichkostüm trug er auch mit Würde).
Auch die kleineren Rollen wie der Sir Berkley von Daniel Eggert, der George Dibdin von Philipp Kapeller und die Janthe von Petra Raduloviv wurden sehr gut interpretiert. Alle machten aus ihren Rollen kleine Glanzstücke.
Das Zecherquartett (Pawel Brozek, Peter O’Reilly, Darwin Prakash, Markus Suihkonen) mit dazukommender zänkischer Ehefrau (Weronika Rabek) gelang ebenfalls hinreißend. Da hätte man gern mehr von gehört!
Der Chor (Chorleitung Lorenzo Da Rio) hat viel zu singen und ist dazu darstellerisch gefordert, auch das überzeugte jederzeit. Großartig gelang die Dramatik der Schlussszene.
Alles in allem ist „Der Vampyr“ in dieser Inszenierung ein sehens- und hörenswertes Spektakel. Ist es Ersan Mondtag gelungen, mit seinem Konzept zu überzeugen? Er packt (zu) viel hinein in seine Inszenierung, aber besser zu viel als zu wenig. Bühnenbild und Kostüme sind ein Fest für das Auge, auch die musikalische Umsetzung überzeugt. Es wird alles stimmiger, wenn man nicht mit der Erwartung eines gewöhnlichen Opernbesuchs hineingeht. Eine Opernrevue, das ist es! Mein Fazit: Hineingehen, zuschauen, zuhören – und dann mit der Begleitung über das alles streiten! Ein aufregender Abend wird auf jeden Fall geboten!
Achim Riehn