Ich liebe dieses Angebot der „Kostproben!“. Ich bekomme Einblick in eine Produktion im Entstehungsprozess, sehe eine Probe, erhalte hautnah Informationen vom Regieteam und kann dann darüber mit dem Team diskutieren und Fragen stellen. Das alles für 10 Euro, genial! Auch diese Kostprobe war wieder ein Highlight. Vor dem Probenbesuch gaben die Dramaturginnen Sophia Gustorff und Judith Wiemers und der Regisseur Felix Seiler dreißig Minuten lang Einblicke in das Stück und in ihr Regiekonzept.
Eingangsfrage war, was in der heutigen Zeit Herausforderungen für klassische Operettenproduktionen sind. Felix Seiler hatte da eine klare Meinung: Die Menschen müssen lachen, sie müssen sich unterhalten fühlen. Das ist eine nicht einfache Aufgabe. Es ist ja immer zu bedenken, was aus einer hundert Jahre alten Komödie heute noch komisch ist, wie man gegebenenfalls das Stück heute komisch machen kann. Herausgearbeitet werden muss auch, was die Konflikte im Stück sind, die auch heute noch relevant sind. Das Wichtigste aber sei, mit einem liebevollen Auge an das Stück zu gehen und es nicht zu einer hohlen Klamotte werden zu lassen.
„Die Zirkusprinzessin“ ist in den 20er Jahren entstanden, das war die Blütezeit des Zirkus. Zirkus ist der Revue verwandt, dem Variete. Das war ein wunderbarer Rahmen, um damals alles an Künsten zu präsentieren, was die Menschen interessierte. Wie wird dieser Zirkus heute in Szene gesetzt? Felix Seiler will auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, die Inszenierung wäre der bessere Zirkus. Da kann man seiner Meinung nach nur verlieren. Ihn interessiert die Kerngeschichte und die setzt er in dieser Welt des Zirkus um. Hauptperson ist „Mister X“, ein verarmter, desillusionierter Adliger, der im Zirkus auftritt, um sich über Wasser zu halten. Dort trifft er die Frau wieder, die er geliebt hat, eine Frau aus dem Hochadel. Zwei Welten treffen aufeinander, Zirkus und Adel, zwei Welten, die nicht verschiedener sein können.
Der 1. Akt spielt im Foyer des Zirkus, das ist für das Regieteam ein toller Theaterort, praktisch und einfach. Der Adel geht in den Zirkus. lässt sich belustigen, mit den armen Menschen dort am Rand der Existenz will er aber nichts zu tun haben. In der Inszenierung wird der Zirkus dargestellt als Gegenwelt zur kalten, geld- und machtgierigen Adelswelt. Ganz konsequent wird der Zirkus daher in einer Eislandschaft stehen, der Adel wird prächtigste Pelzmäntel tragen, die Zirkusmenschen ihre abgetragenen Kostüme.
Natürlich steht immer im Raum, ein Stück in die Gegenwart zu ziehen. Das geschieht in dieser Inszenierung nicht. Es geht um Menschen, die von der Gesellschaft ausgestoßen worden sind, das ist zeitlos. Die „Zirkusprinzessin“ wird als das inszeniert, was sie im Kern ist: ein dunkles Märchen.
Das funktioniert für Felix Seiler die ersten zwei Akte lang gut. Im sehr kurzen dritten Akt ist „die Luft raus“, der ist müde, nicht komisch, enthält eine unbefriedigende Auflösung. Das Team hat sich daher entschieden, das Stück mit einem neu geschriebenen Schluss des zweiten Akts befriedigender enden zu lassen.
In der Probe sahen wir dann einen Durchlauf des ersten Akts. Das Bühnenbild war da, geprobt wurde ohne Kostüme, aber mit Orchester. Mich faszinierte das aber auch so schon sehr. Die Bühne ist eine Eiswelt voller Schnee, in der sich in der Mitte das Zirkuszelt erhebt, ein Ort der Wärme. Das Bühnenbild lässt wirklich frieren! Von den Zirkusvorstellungen sieht man nur Schatten im erleuchteten Zelt, wir schauen von außen darauf. Das macht einen sehr stimmigen Eindruck. Die dunklen, traurigen Abgründe des Stücks fanden so die perfekte Bühne, genau wie die komischen Elemente. Auf der Bühne wurde wunderbar und lebendig agiert, dazu kommt eine Musik, die ungarisches Kolorit und amerikanischen Jazz bezaubernd mischt. Die 20er Jahre werden lebendig. Wir werden eine Produktion sehen, die der Geschichte mit ihren tragischen und komischen Aspekten Achtung erweist. Wir werden eine Produktion sehen, die nicht auf Teufel komm raus aktualisiert. Nichts wirkt hier ins Lächerliche gezogen.
In der Nachbesprechung mit den beiden Dramaturginnen konnten wir dann die Eindrücke noch vertiefen. Die Kostüme werden die Kluft zwischen Zirkus und Adel noch betonen, es sind „überhöhte“ Kostüme. Zu den Songs wird es dann auch Übertitel geben. Es ist ausdrücklich erwünscht, nach den Songs zu klatschen, das Stück ist kompositorisch darauf ausgelegt.
Aus dieser Kostprobe habe ich wieder viel mitgenommen. Eine Menge davon werde ich für meine Besprechung der Vorstellung verwenden, hier will ich ja nicht zu viel vorwegnehmen. Wer an einer Kostprobe teilnimmt, geht mit dem Gefühl heraus, schon mal hinter das Papier eines geheimnisvollen Geschenks geschaut zu haben. Mit den Kostproben ist immer irgendwie Weihnachten!
Achim Riehn