Dieses Konzert mit dem Titel „Träume“ verband Musik von Komponistinnen und Komponisten unterschiedlicher Generationen miteinander. Alle hatten Träume. Beethoven träumte in seiner 3. Sinfonie von der Revolution, von einer besseren Welt. Hannah Kendall, 1984 in London als Tochter guyanischer Einwanderer geboren, träumt in „Disillusioned Dreamer“ ebenfalls von dieser besseren Welt. Aber auch die Empfindungen finden sich wieder, wenn diese Träume enttäuscht werden und scheitern. William Kraft dagegen erfüllt uns einen Traum: Wir hören ein Konzert für Pauke und Orchester! Wollten wir nicht immer schon einmal so etwas Exzeptionelles hören?
Foto: Achim Riehn
Jonathan Stockhammer war als Dirigent für den erkrankten Stephan Zilias eingesprungen. Zusammen mit dem Niedersächsischen Staatsorchester setzte er dieses originelle Konzert bezwingend um.
Das Konzert begann mit dem kurzen „Disillusioned Dreamer“, uraufgeführt im Jahr 2019. Dieses Stück erklang hier im Konzert in europäischer Erstaufführung. Hannah Kendall wurde 1984 geboren. Sie schloss zunächst ein Studium in Kulturmanagement ab und arbeitete als Pressesprecherin am Barbican Centre London. Dann schloss sich ein Kompositionsstudium am Royal College of Music an.
Das Orchesterwerk greift eine Szene aus Ralph Ellisons Roman „Invisible Man“ auf und verwandelt sie in Musik. Dieser Roman ist eine Abrechnung mit der Stellung schwarzer Menschen in der von Weißen dominierten amerikanischen Gesellschaft. Dabei soll nach Aussage von Hannah Kendall aber die Musik nicht den Text bebildern, sondern dessen Gefühlsinhalt aufgreifen und verstärken.
Hannah Kendall hat eine moderne, farbreiche Musik geschrieben. Mit kurzen Klanggesten beginnt das Stück. Es sind Melodiepartikel, die sich immer mehr miteinander verbinden, zu einem Geflecht aus miteinander wetteifernden Stimmen. Mehrmals nehmen die Einzelstimmen diesen Anlauf, immer endet es in einem Stimmengewirr. Den Schluss bilden wieder die einsamen Melodiepartikel, desillusioniert. Für mich fehlte in dieser Musik ein Kulminationspunkt, um mich emotional mitzureißen. Aber ich war nicht gut drauf an diesem Abend, vielleicht konnte ich mich einfach nicht genug darauf einlassen.
Das zweite mir bisher nicht bekannte Stück des Programms packte mich mehr. William Kraft (1923 – 2022) war langjähriger Solopaukist des Los Angeles Philharmonic Orchestra und auch dessen erster Composer in Residence. Er hatte neben Perkussion und Pauke auch Komposition, Orchestration und Dirigieren studiert. Sein Konzert für Pauke und Orchester Nr. 1 wurde 1984 uraufgeführt. Arno Schlenk, seit 1999 Solo-Pauker des Niedersächsischen Staatsorchesters, spielte dieses We4k im Konzert als Solist. Es gibt unzählig viele Konzerte für Violine oder Klavier, die für Pauke sind selten. Können die Pauken überhaupt vielseitig genug sein, um eine Solorolle zu übernehmen? Dieses Konzert beantwortete diese Frage mit einem entschiedenen Ja!
Anders als sonst finden sich hier die Pauken vorn links in der Mitte des Orchesters wieder. Sie hören sich sofort anders an, sie sind nicht mehr das klangferne Fundament, sie können alle ihre Farben zeigen. Sie übernehmen eine führende Rolle, spielen Melodien und Themen. William Kraft kannte sein Instrument als Solopauker genau, er reizte dessen Möglichkeiten perfekt bis an die Grenzen aus. Entstanden ist eine mitreißende Musik mit einem fast unglaublichen Spektrum an Klangfarben. Arno Schlenk spielte das mit Bravour, es war eine Freude, zuzuhören und zuzusehen.
Die schnellen Sätze erinnerten mich trotz aller Modernität manchmal fast an die Klänge einer Big Band aus dem Jazz, das tanzte, das brachte die Füße zum Schwingen. Orchester und Pauke warfen sich gegenseitig die Melodien zu, agierten und jauchzten (ein besseres Wort fällt mir nicht ein) miteinander. Der langsame Satz erinnerte mich mit seinen schwebenden, geheimnisvollen Tönen an Musik von Penderecki und Ligeti. Pauke, Streicher, Celesta und Schlagzeug erzeugten hier eine fast mystische Stimmung. Besonders beeindruckt hat mich eine Stelle im dritten Satz. Hier spielen die drei Orchesterschlagzeuger und die Solopauken allein. Das war furios, wie eine aus den Fugen geratene, überbordende Jazzsession! Auch das Paukensolo in diesem Satz war hinreißend.
Wunderbare Kombinationen aus Klangfarben waren in diesem Solokonzert zu hören. Es ist fast unglaublich, wie der Paukenklang mit den Kontrabässen verschmelzen kann, welche Zartheit Streicher und Pauke zusammen ausstrahlen können! In dieser Musik findet sich so vieles! Emotional, wild bewegt, Big Band Sound, leise und zarte Stellen, geheimnisvolle und mystische Klänge, das war sehr hörenswert und originell. Ich kannte den Komponisten bisher nicht, eindeutig ein Fehler!
Nach der Pause ging es dann mit einem bekannten Musikstück weiter. Ludwig van Beethoven (1770 – 1827) wollte seine 1804 uraufgeführte Sinfonie Nr. 3 Es-Dur 55 ursprünglich Napoleon widmen. Und in der Tat ist eine Art revolutionärer Musik zu hören, die Beethovens Begeisterung für die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hörbar macht. Doch dann stieß Napoleon den Komponisten durch seine Selbstkrönung zum Kaiser vor den Kopf. Jetzt erzählt die nun „Sinfonia eroica“ genannte Sinfonie auch von dieser Enttäuschung und vom Scheitern des Heldentums. Die Sinfonie gehört zu den meistgespielten Orchesterwerken des Komponisten, sie ist ein Repertoireklassiker, fast jeder kennt sie.
Jonathan Stockhammer wählte für diese Sinfonie ein zügiges Tempo und ließ keine Sentimentalität zu. Im Niedersächsischen Staatsorchester hatte er einen Partner, der dieses Konzept mit makellosem Spiel umsetzte.
Der erste Satz „Allegro con brio“ beginnt schon revolutionär, ohne wie bisher üblich mit einer Einleitung. Sofort ist das feurige, vorwärtsstrebende Hauptthema da. Das zweite Thema dagegen ist lyrisch, das ist ein großartiger Kontrast. Der „Held“ steht seiner Umwelt gegenüber. Sehr ungewöhnlich ist, dass dieser erste Satz in einem ungeraden Taktmaß steht. Das macht diesen Satz trotz aller Dynamik und Betonung des Rhythmischen auch tänzerisch. Im ganzen Satz treten charakteristische Tutti-Schläge des Orchesters auf, die schon die Sinfonie einleiten. Sie beenden den Satz auch nach einer großen Steigerung.
Diese Musik klang bei Jonathan Stockhammer fast streng, klar in den Konturen. Hier eilte kein feuriger Revolutionär in den Kampf, hier ging ein Kämpfer ernst und zielstrebig voran. Das war auf diese Art gespielt klar und gemessen, Musik ohne Überschwang, klassisch, nicht romantisch.
Der zweite Satz „Marcia funebre (Adagio assai)“ ist stimmungsmäßig das komplette Gegenteil. Er ist ein Trauermarsch, ein Gebet. Auch das zweite Thema singt von Verzicht und Entsagen. Der Satz bäumt sich in einer Steigerung auf, einer Art Vision des Jüngsten Gerichts, einem Blick ins Totenreich. Der Schluss sinkt zurück in die Stille des Beginns.
Auch hier in diesem Satz war die Interpretation anders als oft gehört. Die Musik ertrank nicht in Trauer und Pathos. Hier wurde norddeutsch getrauert, zurückhaltend, nach innen gekehrt. Nur an wenigen Stellen brachen Emotionen durch. Bei den fast solistischen Paukenstellen musste ich gleich wieder an das Paukenkonzert denken, lag hier die Verbindung?
Der dritte Satz „Scherzo (Allegro vivace)“ schafft es, nochmals eine ganz andere Stimmung zu erzeugen. Er ist ein fast phantastisch erscheinendes Scherzo, von geheimnisvollem Drängen erfüllt. Das ist weit weg vom damals üblichen Menuett im dritten Satz. Alles strömt dahin und geht nahtlos ineinander über.
Waren die ersten zwei Sätze der Sinfonie noch von Ernst und Strenge geprägt, so ließen die Musiker hier jetzt ihre Emotionen heraus. Auf einmal tanzte die Musik, zeigte Gefühle, zeigte fast so etwas wie Freude. Ganz wunderbar spielten hier die Hörner, um eine Instrumentengruppe hervorzuheben.
Musikalisch ungewöhnlich ist der vierte Satz „Finale (Allegro molto – Poco andante – Presto)“. Er besteht aus Variationen über ein Thema, das aus Beethovens Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“ stammt. Prometheus – die Auflehnung gegen die Götter, die gescheiterte Revolution, es passt in den Kontext. Eine dahinstürmende Coda beendet den Satz, fanfarenartig und triumphierend.
Dieser Satz gefiel mir an diesem Abend besonders. Wunderbar klar war jede musikalische Wendung zu hören, wunderbar klar war das Spiel jeder Instrumentengruppe herauszuhören. Präzision und Farbigkeit kamen hier zusammen, der musikalische Bau wurde von Emotionen durchglüht.
Das war ein würdiger Abschluss für diesen Abend, mit Recht mit viel Beifall für Dirigent und Orchester belohnt. Die Blumen überließ Jonathan Stockhammer dem Klarinettisten Ralf Pegelhoff, der heute nach fast vierzig Jahren in den Ruhestand ging. Blumen von Intendantin Laura Berman und GMD Stephan Zilias kamen dazu – und viel Beifall vom Publikum.
Achim Riehn