Im Jahr 1978 hatte „Lear“ von Aribert Reimann Premiere. Shakespeares Drama über Tod und Wahnsinn wurde zu einer Oper, die es als eine der wenigen Opern aus der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts ins Repertoire geschafft hat.
Wie kann man sich „Lear“ nähern? Das ist eine so ganz andere Musik als zum Beispiel der „Parsifal“. Warum funktioniert das Stück so gut? Seit der Premiere Ende der Siebziger hat es 40 Neuinszenierungen gegeben, kaum eine Oper der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts schafft das. Und das bei einer Musik der Avantgarde, die wirklich kompromisslos ist, die sich überhaupt nicht anbiedert. Für mich ist es eigentlich ganz einfach: Das Stück ist unglaublich wirksam und das liegt gleichermaßen am Libretto und an der Musik.
Das auf dem Stück von Shakespeare basierende Libretto von Claus H. Henneberg ist sensationell gut gestaltet. Das maßlose Stück ist extrem gestrafft und außerordentlich bühnenwirksam umgesetzt. Das sind Sätze, die sich wie Nadelstiche in die Seele bohren. Und dann diese Musik, die das krasse Gegenteil einer „Taschentuch-Oper“ ist! Diese Musik zielt nicht ins Herz, sie zielt in die Magengrube. Nichts am Stück ist politisch, dieser „Lear“ interessiert sich nur für das Schicksal des Menschen.
Das ist keine Oper für alle, das ist schon eine Herausforderung! Wenn es aber so bezwingend und mitreißend umgesetzt wird wie hier an der Staatsoper Hannover in der Inszenierung von Joe Hill-Gibbins, dann verwandelt sich das in ein epochales Ereignis. Ich sah und hörte keine moderne Oper, ich wohnte einem Naturereignis bei!
Die Geschichte ist schnell zusammengefasst. Der alte König Lear, müde geworden, will das Reich unter seinen drei Töchtern aufteilen. Goneril und Regan, die beiden älteren Töchter, bekunden ihm in höchst wortreichen, lügnerischen Tönen ihre Liebe. Die jüngste Tochter Cordelia aber ist zu schüchtern und zu ehrlich, um sich so anzuschleimen. Sie wird verstoßen, die beiden älteren Töchter bekommen das Reich. Sie werden es sogleich müde und wollen Lear seine Rechte nehmen. Ein Kampf um das Reich bricht aus, der schließlich fast nur Tote hinterlässt. Lear erkennt zu spät seine Fehler und gleitet in den Wahnsinn ab. Gedoppelt wird dieses Drama mit der Geschichte des Grafen Gloster, der wegen einer Intrige seinen Sohn Edgar verstößt und den bösartigen Bastardsohn Edmund zum Erben einsetzt. Ihre Verwicklung in den Kampf ums Reich endet ebenfalls in Blut und Tod.
„Lear“ ist ein Stück der Extreme. Die Musik ist eine Mischung aus nicht ganz strenger Zwölftonmusik mit schattenhafter Tonalität. Die Musik ist so unbarmherzig wie das Stück. Gleichzeitig ist sie aber auch voller Emotionen. Bei aller Komplexität enthält die Musik viele Bezüge zwischen den Szenen. Jede Person hat ihren eigene musikalischen Charakter bekommen. Das ist nicht eingängig, nicht wohltönend, aber es ist packend und mitreißend. Zudem gelingt Aribert Reimann etwas Großartiges: trotz der Klangmassen sind die Gesangsstimmen immer gut hörbar, so gut, dass ich die Übertitel fast nicht gebraucht hätte.
Der musikalische Eindruck ist einfach nur grandios. Das Niedersächsische Staatsorchester spielt in riesiger, erweiterter Besetzung. Allein die Violinen zum Beispiel wurden auf 24 fast verdoppelt. Hinter der Spielfläche auf einem Podium sitzt das riesige Schlagwerk, rechts am Rand der Bühne sind zwei Harfen postiert. Der Orchestergraben war für die riesige Besetzung einfach zu klein. So wurde als Lösung gewählt, Teile des Orchesters einfach in das Bühnenbild zu integrieren.
Das Spiel des Orchesters unter der Leitung von Generalmusikdirektor Stephan Zilias kann einfach nur als unbeschreiblich bezeichnet werden. Diese Musik lebte, sie bebte, sie erschütterte, blieb gleichzeitig bei aller Wucht durchsichtig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man das viel besser machen könnte. So wurde diese Musik zu einem krassbunten, brutal-romantischen Zauberteppich und gestattete es den Sängerinnen und Sängern, das Stück zu „leben“.
Wenn Musik nicht eine reine Schönklang-Musik ist wie hier, dann kommt es für mich besonders auf die Inszenierung an. Es rettet ja nicht das Schließen der Augen und das Konzentrieren auf das Dahinschmelzen im Wohlklang. Aber bei diesem „Lear“ wollte man immer nur zuschauen, so gut war das umgesetzt.
Regie führte Joe Hill-Gibbins, der an der Staatsoper Hannover auch schon „Greek“ inszeniert hat. Zusammen mit dem Bühnenbild von Tom Scutt gelang ihm eine emotionale Meisterleistung. Das waren Bilder, die sich ins Gedächtnis einbrannten. Die Bühne ist voll von reinweißen kubischen Kartons, darüber eine fast klinisch wirkende Beleuchtung, die aber auch zu glühenden Farben wechseln kann. Die Kartons sind das einzige relevante Requisit auf der Bühne. Zu Beginn der Oper formen sie einen großen Würfel, diese Ordnung wird dann im Lauf der Oper immer mehr zerstört. Geradezu atemberaubend fällt dieser große Würfel zu Beginn der Sturmszene in sich zusammen. So wie die Personen immer mehr außer sich geraten, so ist es auch mit dem Bühnenbild. Lear gleitet in den Wahnsinn, alle anderen Personen in Krieg, Mord und Tod, die festgefügte Karton-Welt gerät total aus den Fugen. Einige Kartons sind so verstärkt, dass die Personen auf der Bühne auf sie heraufklettern können. Mit diesen Würfeln wird geworfen, es wird gegen sie getreten, es wird auf sie eingestochen. Eine Welt versinkt im Chaos.
Auch die Kostüme von Evie Gurney sprechen eine eindeutige Sprache. Sind die Schwestern zu Beginn noch in unschuldigstem Weiß gekleidet, so gewinnen bei Goneril und Regan im Verlauf des Abends immer mehr blutigrote Farbtöne die Oberhand. Die Würfel, die Farben der Kostüme, die Farben der Leuchtstoffröhren – mehr braucht es nicht. Mit geringsten Mitteln ist alles einleuchtend und selbsterklärend. Der Horror ist in den Figuren und in deren Musik, das braucht nicht zusätzlich überbildert zu werden.
„Lear“ ist ein „Anti-Parsifal“. Am Schluß ist von Lear nichts mehr da. Es ist ein Stück über die Zersetzung, über das Sterben. Diese Inszenierung bildet das kongenial ab. Das Bühnenbild, die Welt, zerfällt. Am Schluß ist Lear allein, die Bühne ist leer. Nichts mehr von der geordneten Welt ist übrig.
Was gesanglich geboten wurde, das war von Weltklasse. Dabei musste der Abend mit etwas Unerwartetem umgehen. Michael Kupfer-Radecky hatte in der Premiere bravourös den Lear gesungen. Leider fiel er krankheitsbedingt für die weiteren Vorstellungen aus. Lear ist eine sehr schwere Rolle, kein gängiges Repertoire, wie Ersatz finden? Die gefundene Lösung ging damit aber sehr einfallsreich um. Es sang Fredrik Zetterström, der die Partie des Lear 2013 in Malmö interpretierte. Ganz in schwarz gekleidet stand er an seinem Pult vorn links im Bühnenraum, wie ein Geist. Tomas Möwes, der den Lear in Amsterdam und Essen verkörperte, übernahm den szenischen Part. Das funktionierte, Lear in zwei Personen, auseinandergefallen. Fredrik Zetterstöm sang präzise, mit klarer und warmer Stimme, sehr präsent, sehr gut, ein vollwertiger Ersatz. Tomas Möwes vollführte glaubhaft und fast ein bisschen zu krass die Verwandlung vom König im weißen Pelzmantel hin zum heruntergekommenen Wahnsinnigen.
Den Gesangspartien sind jeweils ganz eigene Welten zugeordnet. Die älteste Tochter Goneril hat einen eher starren, unbeweglichen Gesangsstil, mit großen, exaltierten Sprüngen. Die Sprünge wirken so, als ob sie sich etwas beweisen müsste. Angela Denoke sang das mit großer Stimme und großer Ausstrahlung, leuchtend und höhensicher.
Die zweitälteste Tochter Regan singt in überdrehten, selbstverliebten Koloraturen, sie will eindeutig Goneril übertrumpfen. Sie wird immer von „Holzbläser-Groupies“ umwimmelt. Die komplizierten Koloraturen waren perfekt für Kiandra Howarth, das war mühelos, das glitzerte und funkelte, das sprühte vor Bosheit. Eine Zerbinetta mit vergifteten Messern! Dieses Duo der bösen Schwestern machte richtig Angst.
Die dritte, gute Tochter Cordelia wird dagegen von Streichern begleitet. Alle ihre Melodien beruhen auf einer Zwölftonreihe, die auch das Motiv B-A-C-H enthält. Diese Reihe ist in drei Vierergruppen geteilt, jeweils eine der Gruppen dominiert jeweils die Musik. Das weckt in der Gestaltung manchmal Erinnerungen an Musikbilder der Renaissance. Die Cordelia war bei Meredith Wohlgemuth wunderbar aufgehoben. Lyrisch und klar die Stimme, anrührend und leuchtend, wunderbar. Eine Pamina in einer Welt voll musikalischer Bosheit.
Edgar, die zweite „gute“ Person, bekommt Musik, die ebenfalls auf dieser Reihe basiert, aber um mehrere Töne versetzt. Zum Niederknien schön wurde diese Musik mit ihren vielen Farb- und Registerwechseln durch den Countertenor Nils Wanderer umgesetzt. Das hatte engelhafte Schönheit, da konnte ich nur atemlos und mitgerissen zuhören. Edgar hat eindeutig die schönste Musik der Oper bekommen und Nils Wanderer verwandelte das dazu noch in ein emotionales Wunderwerk.
Der machtgierige Edmund dagegen wird immer von Blechbläsern begleitet, die Stephan Zilias einmal „hungrige Hyänen“ nannte. Besser kann man es nicht sagen, das sind Blechbläser, die hetzen, die jagen, die töten wollen. Robert Künzli sang diesen Edgar mit der Strahlkraft eines Siegfried, mit Energie, Attacke und dem stählernem Silber eines Heldentenors.
Meisterhaft gestaltete Kammersänger Frank Schneiders mit seinem geschmeidigen Bass die Rolle des geblendeten Grafen Gloster. Zur perfekten musikalischen Gestaltung kam noch eine bezwingende, zu Herzen gehende Rollenverkörperung. Gesang und Schauspiel erster Güte, das ist Frank Schneiders!
Alle Personen haben ihre Musikwelten und die verändern sich kaum während des Stücks. Anders ist es mit dem Narren. Diese Rolle ist eine Schauspielerrolle, sie wird mit einem Streichquartett begleitet, um die Stimme nicht zu überdecken. In der Gesangsstimme ist seine Musik fast tonal, volksliedhaft – es ist die einzige tonal-ähnliche Musik in dieser Oper. Zuerst ist die Musik des begleitenden Streichquartetts wild und zerklüftet, aber im Laufe des Stücks wird sie immer leichter und einfacher. Der Narr hat das Orchester gezähmt. Vielleicht will der Narr uns damit sagen, dass im Laufe des Stücks alle anderen Personen immer verrückter werden als er, ein Narr ist nicht mehr nötig. Der Schauspieler Nico Holonics gab dieser Rolle im rosa Tierkostüm fast etwas Anrührendes. Er sagt und singt die Wahrheit, er kommentiert, er warnt – aber niemand hört ihm zu. Wir im Publikum schon!
Auch die etwas kleineren Rollen waren großartig besetzt. Marco Lee versah den Grafen von Kent mit dem Glanz seiner schönen Tenorstimme, Darwin Prakash gab den Albany die volle Wärme seines Baritons. Klar und leuchtend sang der Tenor Pawel Brozek den Cornwall, mit vollem Bass Yannick Spanier den König von Frankreich. Fabio Dorizzi und Ingolf Kumbrink überzeugten in den kleinen Rollen als Bediensteter und als Ritter.
Eindrucksvolle Auftritte hatte auch der Männerchor in der Einstudierung von Johannes Berndt und Lorenzo Da Rio. Sehr beeindruckend in seiner Präzision gelang zum Beispiel das „Trinklied“ der betrunkenen Ritter im ersten Teil.
Das war wirklich eine Vorstellung zum Niederknien! Bezwingende Inszenierung, tolle Sängerinnen und Sänger, zauberisch umgesetzte Gewalt-Musik, das war ein Abend, der im Gedächtnis bleiben wird. Dank dieser fast bestmöglichen Umsetzung war nichts an der Musik von Reimann unverständlich oder unzugänglich. Ja, sie ist brachial, ja, sie ist meist nicht wohltönend, aber das ist egal: Sie passt unglaublich genau zum Geschehen. Ja, es ist Musik, die dich kompromisslos in den Sitz drückt, mit bösartiger Wucht, aber sie macht das mit unglaublicher Intensität. Es ist selten, dass sich Musik, Bühne, Gesang und Regie zu so einem perfekten Bild zusammensetzen – hier gelang das. So soll Musiktheater sein! Der Jubel des Publikums war einhellig.