„Ich bin immer noch fassungslos. So etwas Trauriges und Ehrliches habe ich nie gesehen“. Das schrieb der Musikkritiker Arno Lücker nach der Premiere. Besser kann man den Eindruck kaum beschreiben, den diese ganz außerordentliche Produktion hinterlässt.
„Orfeo ed Euridice“ von Christoph Willibald Gluck ist in Hannover seit Jahrzehnten nicht aufgeführt worden. Jetzt kommt die Oper hier in der ersten Wiener Fassung in Originallänge auf die Bühne. Ballettcompagnie und Opernensemble vereinen sich in dieser Produktion und widmen sich einem der Klassiker der Musikgeschichte.
Die Oper aus dem Jahr 1762 brach mit den starren Formen der Vorgänger. Mit größtem Effekt reduzierte Gluck die Handlung und die Personenanzahl, konzentrierte die Musik auf das Wesentliche. Nur drei Einzelfiguren, dazu Chor, Ballett, das war revolutionär (und ist es immer noch). Musik, Gesang und Tanz stehen in diesem Stück gleichberechtigt nebeneinander. Lisaboa Houbrechts (Inszenierung) und Diego Tortelli (Choreografie) haben diese Herausforderung angenommen – in dieser Inszenierung verschmilzt das zu einem bewegenden Gesamtkunstwerk.
Wir sehen und hören eine hypnotische, meditative Mischung aus Oper, Ballett und Schauspiel, die uns viel zum Thema Tod zum Nachdenken gibt. Wir werden mit einer hoch emotionalen Frage konfrontiert: Wie kann man weiterleben, wenn ein geliebter Mensch gestorben ist, der sich selbst zu diesem Tod entschlossen hat?
„Orfeo ed Euridice“ bringt eine Geschichte aus der griechischen Sagenwelt auf die Bühne. Euridice, die Frau des Sängers Orfeo, ist am Hochzeitstag an einem Schlangenbiss gestorben. Er kann diesen Tod nicht verwinden und trauert so tief, dass ihn der Liebesgott Amore in die Unterwelt lässt. Er darf Euridice zurückzuholen. Doch ist es ihm verboten, sie anzublicken, solange sie sich noch im Reiche der Schatten befindet. Sobald er sie ansieht, ist sie dem ewigen Tode verfallen. Natürlich ist Orfeos Liebe zu groß, er schaut sich um. Euridice stirbt ein zweites Mal. Orfeo will sich umbringen, aber Amore hält ihn ab und vereint ihn mit seiner geliebten Frau. Happy End.
Gluck hat diese Oper als „Azione teatrale per musica“ („Theatralische Aktion zur Musik“) bezeichnet und damit klar als Mischung verschiedener Künste deklariert. Glucks Musik ist nicht prunkend, keine Musik um der Musik willen. Sie bildet quasi den Raum, in dem sich dieses Gesamtkunstwerk entfalten kann. Hier wird nicht mit Virtuosität geprotzt, sondern „die besondere Geschichte der beiden Liebenden in ungehörter Klarheit und Reinheit erzählt“, so der Dirigent der Aufführung Benjamin Bayl.
Es geht in dieser Oper um eine menschenunmögliche Liebe, um unseren Umgang mit Tod und Trauer. Das muss eine Inszenierung herausarbeiten. Sie muss auch auf irgendeine Art und Weise mit dem wohl dem Zeitgeschmack entsprechend angeklatschten Happy End umgehen (das im ursprünglichen Mythos nicht vorkommt).
Regisseurin Lisaboa Houbrechts stammt aus Belgien. In ihren Stücken verbindet sie gern verschiedene Kunstformen wie Schauspiel, Musik, Bildende Kunst und Tanz. Zusammen mit dem italienischen Choreografen Diego Tortelli führt sie uns hinein in diese Geschichte um Liebe und Tod. Dies ist ihre erste Operninszenierung, so Lisaboa Houbrechts auf Instagram. Ihr Regiekonzept beruht auf zwei Prämissen: Integration der Künste und ein selbst gewählter Tod.
Für Lisaboa Houbrechts ist Euridice kein Opfer. Sie ist selbst in den Tod gegangen (das Stück selbst lässt die genauen Umstände des Todes offen) und sie will auch nicht zurück ins Reich der Lebenden. Die Figur des Amore tritt in der Inszenierung als Ärztin auf, die dieses Sterben begleitet hat. Wir sehen in der Inszenierung, wie Orfeo durch den Prozess der Trauerbewältigung geht, von verzweifelter Wut und Trauer bis hin zur Akzeptanz des Todes. Die Inszenierung soll die Tragik des Todes zeigen, aber gleichzeitig uns auch weitere Fragen stellen. Gibt es eine Schönheit des Trauerns? Die Musik legt das ja nahe. Gibt es in diesem schweren, abgrundtiefen Gefühl eine Art von Schönheit?
Euridice, unter lebenslangen Depressionen leidend, hatte hier schon lange den Wunsch gehabt zu sterben. Und die Inszenierung greift das auf, was uns die Musik sagt: Die schönste Musik findet sich in der Unterwelt. Es gibt also Schönheit im Tod.
Um die Botschaft des Stückes und den Umgang der Regisseurin mit dem Stoff klarer herauszuarbeiten, ist das Stück mit kleinen textlichen Erweiterungen ergänzt worden. Noch vor der Ouvertüre ertönt vom Band eine Triggerwarnung: es wird um Selbstmord gehen. Während der Ouvertüre taucht dann Orfeo auf, verzweifelt, in zorniger Trauer. Er fragt, warum wir nicht nach Hause gehen. Offenbar will er alleingelassen werden. Später erzählen zwei eingespielte Texte von der Depression Euridices. Amore erscheint als tröstende Ärztin, die Euridice in den Tod begleitet hat und sich nun auch um Orfeo kümmert. Sie bewahrt ihn davor, sich ebenfalls umzubringen. Orfeo muss lernen, den Tod zu akzeptieren. Der Schluss ist kein Happy End, aber ein Gedenken in Freude an die Toten. Der Tod lässt sich nicht besiegen, er lässt sich nur akzeptieren.
Neue Deutungen und Überschreibungen sind für mich nur akzeptabel, wenn sie sich aus dem Stück ableiten lassen, wenn es also eine Verbindung gibt. Lässt sich die Selbstmordthese mit der Oper und mit dem Mythos verbinden? Ich finde ja.
Euridice stirbt an einem Schlangenbiss. Es bleibt offen, ob das freiwillig war
Auf dem Weg aus der Unterwelt fleht sie Orfeo an, sich umzudrehen. Warum freut sie sich nicht einfach darüber, dass er sie aus der Unterwelt holt? Sie kann sich doch denken, dass das mit Auflagen verbunden war! Wenn sie nicht herausgeholt werden will, dann würde das ihr Verhalten erklären. Der freudige, optimistische Schlusschor „Trionfi Amore“ steht ebenfalls nicht im Widerspruch zu dieser Interpretation. Orfeo akzeptiert die Entscheidung von Euridice. Er nimmt das Schicksal an. Das ist ein Triumph der Liebe über den Tod.
Lisaboa Houbrechts konstruiert also nicht eine ganz neue Handlung, sie wertet die Handlung nur anders. Das ist für mich eher eine atmosphärische Neutönung. Diese neue Färbung gewinnt besondere Tiefe durch das Zusammenwirken mit dem Ballett. Unterstützt durch den Choreografen Diego Tortelli und die Tänzerinnen und Tänzern des Staatsballetts wird dies alles zu einem vollends bewegenden Ereignis.
Gluck hat das Stück als Mischung aus Oper und Ballett angelegt, das wurde auf faszinierende Art und Weise auch so umgesetzt. In dieser Inszenierung tritt das Ballett nicht getrennt vom Geschehen auf, es erweitert die Gefühle der Hauptpersonen und des Chores, dehnt sie auf die ganze Bühne auf. Alles ist nun voll mit diesem Emotionen und das überträgt sich unmittelbar und faszinierend berührend auf das zuschauende Publikum. Die Choreografie doppelt nicht einfach die Personen, sondern schafft eine eigene, allumfassende Welt. Die Tanzenden sind ein Ausdruck der Gedanken und Gefühle der Personen. Eine Oper so zu sehen ist ungewohnt, auf den ersten Blick ist das fast wie ein Schock. Aber schnell wird man hineingezogen in diesen Sog. Das Ballett ist nicht permanent auf der Bühne. Agieren die drei Hauptpersonen aktiv miteinander, dann sind die Personen allein auf der Bühne. Intimität und Konzentration wechseln sich so ab mit Phasen der Ausweitung der Emotionen.
Der Chor (neben Orfeo die zweite Hauptperson des Stückes) ist mit seinen Bewegungen in die Choreografie integriert. Das Geschehen machte einen poetischen, fast hypnotischen Eindruck. Lisaboa Houbrechts hatte ihre Intentionen dazu in der Einführung zu einem Probenbesuch dargelegt: Emotionen sollen in Bewegung umgesetzt werden. Tanz, Chor und die Soli haben eigene Arten von Bewegungen, die aus alltäglichen Bewegungen abgeleitet worden sind. Der Choreograf Tortelli bildet dies mit Mitteln des modernem Ausdruckstanz ab, mal anmutig und weich, mal voller Leidenschaft, zuckend und wild. Das ist packend, bewegend, mitreißend, emotional, manchmal fast verstörend.
Das Bühnenbild von Clémence Bezat trägt viel zur Wirkung bei. Es ist streng und fast würdevoll monumental, es erinnert an eine große Trauerhalle auf einem Friedhof, fünf hohe Pfeiler im Hintergrund. Die Farben sind gedeckt, dunkel, fahl, auf und ab schwebende Scheinwerfer verändern das Licht. Diese Dunkelheit findet sich auch in den von schwarzen und braunen Farbtönen dominierten Kostümen von Anna Maria Rizza wieder. Ein kleines Podest in der Mitte der Bühne dient Orfeo gleichsam als Trauermittelpunkt.
Nach der Pause sind wir in der Unterwelt. Die Säulen des ersten Akts sehen nun anders aus, ihre Umrisse werden durch Efeuranken nachgebildet, die von oben herabhängen. Sind das Pflanzen, die aus der Welt der Lebenden nach unten wachsen? Sanftes Licht fällt in diesen Säulen nach unten, die Blätter glühen, als ob sie das Licht eines Sonnenuntergangs spiegeln. Ganz langsam bewegen sich diese Rankensäulen auf und ab, der Eindruck ist unwirklich und unendlich romantisch. Amore regiert mit weiß gekleideten Pflegerinnen und Pflegern über dieses Totenreich. Zum Schlusschor sind diese Säulen verschwunden, ganz langsam hebt sich aus dem Bühnenboden eine schwarze Säule. Die Toten schreiben mit Kreide Namen daran, auch auf den Boden. Es sind vielleicht die Namen der Toten. Die Säule ist so ein großes Grabmal. an dem man trauern und sich erinnern kann. Orfeo tut es auch.
Musikalisch war dies ein Abend, der höchste Ansprüche erfüllte. Zu bezwingendem Gesang kam eine geradezu wunderbar gespielte Musik. Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover unter der Leitung von Benjamin Bayl spielte bewegend, voller Klangfarben, herrlich präzise und stimmungsvoll abgetönt in allen Einzelstimmen. Das war eine meisterliche Interpretation dieser Musik, regelrecht überwältigend. An einigen Stellen hielt ich förmlich den Atem an, so gefangen war ich.
Zum Niederknien war Nina van Essen als Orfeo. Leuchtende Töne, warm im Klang, kraftvoll und auch melancholisch, immer perfekt im Ausdruck, dazu darstellerisch großartig auch an den choreografisch komplexen Stellen – geht es besser? Ich kann es mir kaum vorstellen. Das war ein Orfeo, mit dem man mitlitt, dem man jederzeit die Qual abnahm, die er in seiner Trauer empfand. Herzbewegend!
Meredith Wohlgemuth war in jedem Moment eine fulminante Partnerin. Ausdrucksstark sang sie, mit frischer, strahlender, eindringlicher Stimme, ganz hervorragend. Perfekt harmonierte ihre Stimme mit der von Nina van Essen, ein wahrhaftiges Traumpaar auf der Bühne. Es wundert nicht, dass Orfeo diese Euridice nicht vergessen kann!
Die rätselhafte kleinere Rolle der Amore war bei Silvia Frigato hervorragend aufgehoben. Klar, rein und warm die Stimme, voller Menschlichkeit im Spiel, sehr überzeugend!
Neben den Solistinnen hat der Chor (Einstudierung Lorenzo Da Rio) eine Hauptrolle, ja ist geradezu ein zentraler Bestandteil. Mit vollem und reinem Klang überzeugte er auf ganzer Linie. Hervorragend fügte er sich in die Choreografie ein.
Nun habe ich voller Begeisterung ganze Kübel von Lob über die Sängerinnen und Sänger ausgeschüttet. Beim Ballett bleibt mir nichts anderes übrig, als das wieder zu tun. Das war eine herzbewegend, was da an tanzgewordener Emotion auf die Bühne gezaubert wurde. Die Ballettcompagnie der Oper Hannover ist einfach meisterlich!
Das war eine wirklich einmalige Erfahrung, ein zu Herzen gehendes Ereignis, traurig und gleichzeitig tröstlich, einfach wunderbar. Das war eine Meisterleistung von allen Beteiligten, das war voller Herzblut. Das Experiment einer Vereinigung aller Sparten in einem Kunstwerk ist vollauf gelungen. Die Ovationen des Publikums sind mehr als verdient. Hingehen!! Ich kann mich Arno Lücker nur anschließen: „Ich bin immer noch fassungslos. So etwas Trauriges und Ehrliches habe ich nie gesehen“.