November, der Monat des Gedenkens an die Toten – aber auch der Beginn der Weihnachtszeit und damit der Hoffnung. Dieses Konzert hatte dazu das passende Programm. Drei Komponisten, die mit Trauer, Krisen und Verlust umgehen, auf ganz verschiedene Weise. Das melancholische Bratschenkonzert „Gospodi vozvah“ von Marko Nikodijević wurde umrahmt von Sergej Rachmaninows sinfonischer Dichtung „Die Toteninsel“ und von Stücken aus Peter Tschaikowskis Ballett „Der Nussknacker“. Stephan Zilias und dem Niedersächsischen Staatsorchester gelangen wunderbare Interpretationen.
Sergej Rachmaninows düstere sinfonische Dichtung „Die Toteninsel“ ist wie mit dunklen Farben gemalt, sie ist ein Bild aus schwarzen, grauen, erdfarbenen Tönen. Sie ist inspiriert von einem gleichnamigen Bild von Arnold Böcklin: Ein Boot bringt einen Sarg zu einer düsteren, geheimnisvollen Insel, vielleicht zu einem Begräbnis. Neben dem Fährmann ist noch eine weitere Person auf dem Boot, wie ein Geist ganz in Weiß gehüllt steht sie hinter dem Sarg.
Wie ein Sog ist dieses Bild in Musik umgesetzt. Es beginnt mit dem Schwanken des Boots auf dem Wasser, im Fünfertakt. Die Musik ist dunkel, ist düster, von Tod und Trauer durchzogen. In der Mitte des Stücks leuchten einige hellere Farben auf, wie Hoffnungsschimmer. Immer mehr gewinnt das Thema des „Dies Irae“ aus der Liturgie der gregorianischen Totenmesse an Deutlichkeit. Zum Tod kommt die Frage nach dem Weiterleben der Seele. Die Solovioline erhebt ihre Stimme, wie fragend. Ist das eine Seele am Himmelstor? Tröstlich antworten die Holzbläser. Leise verdämmert die Musik im wiegenden Rhythmus der Wellen.
Die Herausforderung ist, dieses dunkle Geflecht aus ineinander verwobenen Stimmen in einer Interpretation zu durchleuchten, alle Stimmen klar herauszuarbeiten. Hier gelang das hervorragend. Hier klang dieses Stück klar und fast durchsichtig. Das war Dunkelheit, durchströmt von Licht. Das war Tod und gleichzeitig Hoffnung. Herrlich und bewegend.
Als zweites Stück war ursprünglich eine Uraufführung geplant, ein Konzert für automatisches Schlagzeug und Orchester, ein Gemeinschaftswerk der Komponisten Marko Nikodijević (* 1980) und Robert Henke. Dieses Stück war aber offenbar nicht rechtzeitig fertig geworden. Es hatte den Untertitel „Automatik“ des Konzerts inspiriert. Stattdessen hörten wir das im vergangenen Jahr uraufgeführte Bratschenkonzert „Gospodi vozvah“ von Marko Nikodijević. Es spielte die großartige kanadische Bratschistin Sarah McElravy.
„Gospodi vozvah“ heißt übersetzt „Erhöre mich, o Herr“. Der Komponist integriert hier eine Psalmenmelodie aus dem serbisch-orthodoxen Gesangbuch in seine Musik. Das Werk wurde geschrieben, nachdem der serbische Komponist vom Tod seines Kompositionslehrers Srđan Hofman erfahren hatte. Das Werk, oft an der Grenze des Hörbaren, ist durchzogen von Anklängen an Kirchenmusik und an die serbische Volksmusik. Aber auch Rhythmen inspiriert von Techno-Musik finden sich, Zeichen des Lebens.
Es ist ein großartiges Werk, es hat mich begeistert und angerührt. Auch in der modernen Musik ist es möglich, Musik zu schreiben, die emotional mitreißt, die anrührt, die wirklich begeistert. Das Niedersächsische Staatsorchester und die Bratschistin Sarah McElravy legten ihre Seelen mit dieser Musik bloß. Ich habe selten so einsam klingende, traumverlorene, traurige Stimmen gehört. Die Solobratsche spielte hier keine Musik, sie weinte sie. Mir fällt einfach keine bessere Beschreibung ein. Erst zum Schluss bäumen sich Viola und Orchester gleichsam gegen das Schicksal auf. Das verinnerlichte Gebet wird in einem großen emotionalen Ausbruch zur Klage, bis sich die Musik wieder in die Stille zurückzieht. Ganz großartige Musik, ganz großartig gespielt, bitte mehr von Marko Nikodijević!
Für den großen Beifall bedanke sich Sarah McElravy mit einem Stück von Bach, das sie zusammen mit einem der Cellisten spielte.
Nach der Pause wurde es dann fröhlicher und lebensfroher mit Auszügen aus den Ballett „Der Nussknacker“ von Peter Tschaikowski. Puppen und Aufziehfiguren erwachen hier zum Leben, das ist eine Art Wiedergeburt nach dem Tod und der Trauer der ersten Konzerthälfte. Tschaikowski begann mit der Komposition nach dem Tod seiner Schwester, und offenbar wollte er wieder Licht in sein Leben bringen. Und so ist es, hier strahlte wieder das Leben auf, wunderbar instrumentiert. Im zügigen Tempo und ganz ohne Sentimentalität zogen diese musikalischen Sahnestücke an uns vorbei. Das war Musik, die glühte, die leuchtete, die Licht in diesen November brachte. Stephan Zilias und das Niedersächsische Staatsorchester spielten das mit Bravour. Der Jubel war verdient groß. Ein großartiges Konzert mit drei großartigen Stücken!
Zum Abschluss gab es noch ein Ständchen mit einem Auszug aus Parsifal für Eberhard Furch, den Gründer der „Stiftung Niedersächsisches Staatsorchester Hannover“. Eberhard Furch, im Publikum anwesend, feierte an diesem Tag seinen 95. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch auch von der GFO!
Achim Riehn