Erste Inszenierung der neuen Intendanz: „Lohengrin“ – Politik und private Tragik vor mystischem Hintergrund

Wagners „Lohengrin“ ist nach 37 Jahren an der Staatsoper Hannover zu sehen und zu hören, als erste Inszenierung der Intendanz von Bodo Busse. Die Inszenierung ist eine Koproduktion mit der Opéra National de Lyon. Musikalisch und szenisch ist das ein sehr gelungener Einstand geworden. Bildmächtig und mit viel Raum für Diskussionen: Die Ebenen des Stückes, Kriegsvorbereitungen und symbolistisches Märchen, Privates und Öffentliches, werden durch den Regisseur Richard Brunel und sein Team spannend und realitätsnah miteinander verwoben. Am 3. Oktober 2025 erlebte ich eine mitreißende Vorstellung auf hohem Niveau, musikalisch von außerordentlicher Textverständlichkeit und Transparenz.

Schlussapplaus für Lohengrin – Foto (c): Achim Riehn

„Lohengrin“ wurde 1850 uraufgeführt, es ist eine der politischsten Opern von Wagner. Sie entstand in einer revolutionären Zeit voller Nationalismus, in der Deutschland um seine Identität rang. Das ist immer noch ein aktuelles Thema, jetzt im europäischen Maßstab. Wagner verwebt dies mit dem Mythos des Schwanenritters, verwebt die göttliche, märchenhafte Sphäre mit der politischen Welt und dem Privatem. Auch das ist zeitlos. Die Oper ist eine Art Märchen und gleichzeitig ein hochpolitisches und psychologisches Stück.

Gottfried, Thronfolger des verstorbenen Herzogs von Brabant, ist verschwunden. Seine Schwester Elsa von Brabant wird der Ermordung angeklagt. Ihr Ankläger Graf Telramund fordert die Herrschaft über Brabant. König Heinrich braucht Brabant für seinen Krieg, kann dafür aber keine Thronfolgestreitigkeiten gebrauchen. Im Traum ist Elsa ein Retter erschienen, der sie verteidigen wird. Und Lohengrin, dieser Retter, erscheint dann auch auf einem Schwan. König Heinrich nutzt die Gelegenheit, um die Situation durch einen Gotteskampf zu lösen. Lohengrin besiegt Telramund in diesem Zweikampf. Lohengrin heiratet Elsa und übernimmt die Herrschaft. Bedingung ist, dass sie nie nach seinem Namen oder seiner Herkunft fragt. Von Ortrud, der Gemahlin Telramunds, in Zweifel gestürzt, bricht Elsa aber nach der Hochzeit ihr Gelübde. Daraufhin enthüllt Lohengrin seine Identität als Gralshüter und muss sie und Brabant verlassen. Der Schwan ist Elsas Bruder Gottfried, der zurückverwandelt wird, während Elsa entseelt zu Boden sinkt.

Der „Lohengrin“ ist der Abschluss der ersten Schaffensperiode von Richard Wagner. Wir haben hier eine Art Zusammenfassung des Bisherigen, aber auch eine Brücke in die Zukunft. Mit dieser Oper verwirklichte Wagner die neue Form des durchkomponierten Musikdramas. Die Komposition ist nicht in einzelne Nummern aufgeteilt, jeder Akt wird ohne Unterbrechung aktweise durchgespielt. Es sind aber noch großartige Teile enthalten, die arienartig oder ensembleartig sind. Die Musik ist hochromantisch, schwelgerisch, oft eingängig. Wagner erweist sich als Meister der Melodie und der Instrumentation. Ganz unterschiedliche musikalische Welten stehen gegeneinander, kriegerischer Chor gegen die Sphäre des mystischen Grals, die gegen die fast moderne musikalische Welt von Ortrud und Telramund.

Richard Brunel (Mitarbeit Regie Catherine Ailloud-Nicolas) hebt die Relevanz des Stoffes hervor, es geht um Kriegsvorbereitungen, es geht um politische Ränkespiele, es geht um die Macht. Das politische Drama steht für den Regisseur im Zentrum. Aber das ist es nicht allein: Er verwebt das geschickt mit der privaten Tragik und dem mythischen Untergrund. Drei Welten treffen aufeinander und interagieren miteinander. Es sind Kontraste in der Geschichte, und solche Kontraste finden sich auch in dieser schwarzweißen Bühnenwelt wieder. Was Realität ist und was nicht, das lässt der Regisseur offen.

Die brutale, politische Realität zeigt sich schon während der Ouvertüre. Gottfried verschwindet nicht, sondern wird von Ortrud mit einem Kissen erstickt. Wie eine Geistererscheinung steht der grau und bleich scheinende Lohengrin dabei und beobachtet das Verbrechen. Er ist der geisterhafte Zeuge, und offensichtlich fasst er den Vorsatz, das Verbrechen aufzuklären.

Realistisch wird auch der Blick auf die heraufziehende Katastrophe des Krieges gelenkt. Das Land wird in einer Zeit der Mobilmachung gezeigt, im nationalen Rausch. König Heinrich tauscht die Krone gegen die Offiziersmütze und zeigt sich auch so als Kriegsherr. Der Krieg wird als unvermeidlich gezeigt. Je weiter die Oper voranschreitet, desto militaristischer wird das Geschehen, was sich deutlich an Kleidung und Auftreten des Chores zeigt. Auf Plakaten lesen wir von der „Generalmobilmachung“, während des Brautchors werden Unterschriften von den Frauen für den Eintritt ins Militär geleistet. Die große Szene zwischen Elsa und Lohengrin findet nicht im Brautgemach statt, sondern in der Kantine des Schlosses, nachdem die Soldaten und Soldatinnen den Raum verlassen haben. Ein Moment der Stille vor dem Krieg. Oft kommt mir diese Szene zu lang vor, weil sie so handlungsarm ist. Aber hier kam sie mir so lang vor, weil da etwas passierte: Die Beiden aßen zusammen, räumten auf, es war Erschöpfung zu spüren, die dann in Erregung umschlug. Die so greifbare private Entfremdung führt in eine Staatskrise.

Neben Privatem und Politischem ist auch die märchenhafte Ebene des Stückes immer gegenwärtig. Lohengrin ist der Schwanenritter, Vogelsymbole sind überall zu finden. Kolkraben sind an die Wände gezeichnet, hängen in vergitterten Käfigen von der Decke. Sind das Vorboten des Todes? Der Kolkrabe ist einerseits Symbol für Weisheit, Wissen und Führung, andererseits steht er für Tod, Unglück und das Böse. In der nordischen Mythologie ist er ein Bote Odins (das verweist auf den heidnischen Hintergrund Ortruds). Sein schwarzes Gefieder und seine Rolle als Aasfresser prägen seine negative Symbolik, während seine Intelligenz ihm eine positive, mystische Bedeutung verleiht. Schon beim Mord an Gottfried sind diese Vögel präsent.

Überall Vogel-Motive! Elsa wird in einem (Vogel-)Käfig vorgeführt, in dem auch Telramund nach seinem verlorenen Zweikampf gesteckt wird. Im zweiten Akt sind Telramund und Ortrud von Vogelkäfigen umgeben. Federn in weiß und schwarz, für das Gute und das Böse! Lohengrin erscheint, es regnet weiße Federn. Die Schuld Ortruds offenbart sich in den schwarzen Federn ihres Kissens. Lohengrin selbst erinnert in seinem Kostüm an einen Vogel, besonders nachdem ihm Elsa die entscheidende Frage gestellt hat.

Elsa wird zum Spielball zwischen den Mächten. Elsa erhofft sich ein „unerhörtes, nie gesehnes Wunder“, und das scheint Lohengrin zu sein. Er ist die Klammer zwischen all diesen Welten. Wie weit ist er real und wie weit eine Imagination? Er ist in grau gekleidet, hat graue Haare, verschwindet fast vor dem Grau des Sichtbetons des Bühnenbaus. Ist er eine Geistererscheinung? Schon sein Auftauchen ist irreal: Der Chor bejubelt sein Erscheinen, er ist nicht zu sehen, steht hinter der Seitenwand des Bühnengebäudes im Dunkel, wird langsam in unseren Blick gedreht. Aber dann trifft er auf Elsa, sie sind offensichtlich füreinander bestimmt. Sie hat sich einen Retter erträumt, der sie und damit das Land erlöst. Das kann nur in einem Fiasko enden, denn dieser Retter Lohengrin fordert von ihr das Unmögliche: nicht zu fragen nach den Dingen, die einen Menschen wirklich ausmachen. Aber Elsa ist auch eine politische Person, auch auf der Ebene ist das ein unmögliches Ansinnen. Ob Lohengrin nur eine Vision Elsas ist, es bleibt für uns als Publikum offen. Ein Detail des Librettos und der Musik könnte ein Hinweis von Wagner selbst sein. Zum Schluss der Gralserzählung singt Lohengrin sein majestätisch-leuchtendes „bin Lohengrin genannt“. Zur Melodie würde auch „bin Elsa von Brabant“ genau passen. Vielleicht ist er wirklich ein Bestandteil der Persönlichkeit von Elsa?

Ununterbrochen überlagern sich in dieser Inszenierung die Ebenen. Eine Deutung und eine Wertung bleibt uns als Publikum überlassen. Aber das Politische bricht sich zum Schluss seine Bahn. Dass Gottfried tatsächlich von Ortrud ermordet wurde, das wird während der Gralserzählung aufgeklärt, wie eine Vision. Zum Originaltext wird dann die Szene umgedeutet: Lohengrin singt „Seht da den Herzog von Brabant! Zum Führer sei er euch ernannt“ nicht zu einem märchenhaft wiederauferstandenen Gottfried, sondern zu Elsa. Elsa ist der neue Anführer, und sie nimmt diese Rolle an. Lohengrin wird dann von Ortrud ermordet, über der Leiche singt Elsa ihr „Mein Gatte! Mein Gatte!“. Ortrud wird verhaftet. Das ist ein viel realistischerer Schluss als der originale Märchenschluss, über diese Umdeutung kann natürlich gestritten werden. Mich hat der märchenhafte, fast etwas kitschige Schluss dieses Politikdramas immer etwas gestört, so ist es für mich viel befriedigender.

Das Bühnenbild von Anouk Dell’Aiera, die Kostüme von Nathalie Pallandre und die Lichtgestaltung von Laurent Castaingt und Andreas Schmidt unterstützen diesen Regieansatz perfekt. Auf einer Drehbühne steht so etwas wie die Seite eines Hauses. Schlicht, wie aus Sichtbeton, mit einer Treppe, mit Fensteröffnungen. Gedreht bildet das den Rahmen für alle Räume der Oper. Das ist einfach, das ist zweckmäßig, das ist aufs Geschehen fokussiert. Die zeitlosen Kostüme verorten die Handlung in einer modernen Welt, vielleicht aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Nur Lohengrin sticht heraus, halb Mensch, halb Vogelwesen. Mit ihrem waldgrünem Kostüm zeigt Ortrud, dass sie aus einer anderen, archaischen Welt stammt.

Stephan Zilias und das niedersächsische Staatsorchester trugen viel dazu bei, dass dies auch musikalisch ein großartiger Abend war. Aus dem Pianissimo heraus entsprang das Vorspiel, danach fast handfest, voller Kraft, ohne mystisches Gewaber. Auch hier ist zu hören, dass es sich beim „Lohengrin“ um ein im Kern politisches Drama handelt. Herrlich die Abstufungen in der Dynamik, transparent die musikalische Gestaltung, großartig die solistischen Einzelleistungen, auch die vier Bühnentrompeten. Das Orchester trieb die Handlung offensiv voran, brachte aber auch jede emotionale Wendung klar zum Ausdruck. Musik war ein samtener Teppich für die Stimmen.

Zur Premiere habe ich den Satz eines einzelnen Kritikers gelesen, dass selbst dem Vorspiel einiges von dem betörenden Glanz fehlen würde, eher hätte es nach Cola light geklungen. Die Premiere kann ich nicht beurteilen, an diesem Abend klang alles wunderbar. Würde jemand diese Orchesterleistung mit einer Cola light vergleichen, so würde ich das in keiner Weise nachvollziehen können.

Fast alle Solistinnen und Solisten sind in diesem „Lohengrin“ in Rollendebüts zu hören, das war allein schon spannend. Ich war sehr angetan, Bodo Busse hat ein Ensemble aus beeindruckenden, sehr gut harmonierenden Stimmen zusammengestellt.

Viktorija Kaminskaite sang die Elsa mit warmen, kraftvollem Sopran mit leuchtender Höhe. Das glühte, das strahlte. Wir sahen kein Opfer, hier sahen und hörten wir eine künftige Anführerin. Die Aufschwünge hatten dramatische Wucht. Maximilian Schmitts Lohengrin war wunderbar wandlungsfähig und ausdrucksstark gestaltet. Seine Stimme ist eher lyrisch, textverständlich, mit klaren und strahlenden Höhen. Ich hörte keinem schreienden Heldentenor zu, das war eine bezwingende Feinzeichnung mit allen Qualitäten eines Liedsängers. Anführer und mystische Gestalt, beide Seiten dieser Figur waren glaubhaft gezeichnet.

Sehr gut besetzt war auch das „dunkle“ Paar. Ewa Vesin gab die Ortrud mit kraftvoll-dramatischer Stimme. In jeder Sekunde auf der Bühne und in jedem Ton nahm man ihr die dämonische, nach Macht gierende Gestalt ab. Ebenso überzeugte Grga Peroš als Telramund. Aufflammende Wut, leise Töne, zu all dem war seine kraftvolle Stimme fähig. Facettenreich und nahbar gestaltete er diesen sonst oft so eindimensional gezeichneten Bösewicht.

Shavleg Armasi konnte in der Rolle des König Heinrich alle Qualitäten seines kraftvollen, warmen Basses ausspielen. Großartig dazu auch die Rollengestaltung, er ist gleichzeitig ein glaubhafter, fast gütiger Herrscher und ein entschlossener Heerführer. Ausdrucksvoll, beeindruckend und textverständlich auch der Heerrufer von Peter Schöne.

Die grandiose Leistung der Chöre, einstudiert von Lorenzo da Rio, machte jede Chorszene zu einem Ereignis. Da war Wucht dahinter, da war Emotion drin, das war fein gezeichnet und präzise, das war auch darstellerisch große Klasse!

Das war ein spannender, sehens- und hörenswerter Opernabend. Die Inszenierung schaffte es, die vielen Ebenen des Stückes herauszuarbeiten und schlüssig miteinander zu verschmelzen. So entstand vor unseren Augen ein fast zeitloses Welttheater aus Bildern, die im Gedächtnis bleiben. Auch musikalisch war dies ein Abend auf sehr hohem Niveau. Das Publikum jubelte, auch ich als Nichtwagnerianer ging beglückt nach Hause.

Text: Achim Riehn

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