Selten höre ich in einem Konzertprogramm drei Stücke, die so unterschiedlich sind, völlig gegensätzlich. Rosy Wertheims dahinhuschende impressionistisch-moderne „Variationen über ein holländisches Lied“ trafen auf Mozarts Klavierkonzert d-Moll, ein Konzert an der Grenze von Klassik und Romantik, und auf Schönbergs spätromantische Klangorgie „Pelleas und Melisande“. Beim Niedersächsischen Staatsorchester unter der Leitung von Patrick Lange und der Pianistin Schaghajegh Nosrat waren diese drei Musikwelten am 27. Oktober 2025 in den besten Händen.

Schlussapplaus für das zweite Sinfoniekonzert. Foto(c): Achim Riehn
Die niederländische Komponistin Rosy Wertheim (1888 bis 1949) unterrichtete in den 1920-er Jahren am Konservatorium in Amsterdam. Ihre Werke stehen zwischen Impressionismus, Neoklassizismus und Moderne. Sie überlebte als Jüdin im Untergrund die deutsche Besetzung der Niederlande, im Gegensatz zu fast ihrer ganzen Familie. Rosy Wertheims „Variationen über ein holländisches Lied“ aus dem Jahr 1916 erfuhren in diesen beiden Konzerten ihre Uraufführung. Dramaturg Arno Lücker hat die Originalhandschrift der Partitur bei Nachforschungen entdeckt, abgeschrieben und so zugänglich gemacht.
Dieses Werk ist ein Kaleidoskop an Einfällen und musikalischen Farben, voller Witz. Fast wie ein Spuk huschen die Variationen vorbei, jede in einer ganz eigenen Gestalt. Es sind Miniaturen, konzentrierte Musik, jede Variation meist nicht länger als 30 Sekunden. Das Thema ist reinste Idylle, ein Lied im Volksliedton, fast naiv. Ich musste an „Guten Abend, gut’ Nacht“ von Brahms denken. Aber mit jeder Abwandlung kommen andere Farben herein, wird es wilder, ungezügelter, wird es skurriler. Dissonanzen untergraben immer mehr die Idylle. Das ganze Werk wirkt wie ein Spuk, der am Publikum vorbeizieht. Präzise, mit viel Schwung und Witz spielte das Orchester diese hörenswerte Entdeckung.
Mozarts Klavierkonzert d-Moll KV 466 stammt aus dem Jahr 1785. Es steht in der Tonart d-Moll, die traditionell als Todestonart gilt. Mozarts Requiem steht in dieser Tonart, ebenso die Ouvertüre zu Don Giovanni. Das Konzert stößt schon weit in die Welt der Romantik vor. Als Solistin erlebten wir die aufstrebende Pianistin Schaghajegh Nosrati, die an der Musikhochschule Hannover studiert hat.
Fast düster und mit dramatischen Untertönen beginnt dieses Konzert im Orchester. Das Klavier nimmt diese Töne auf, melancholisch, fast etwas verträumt. Aber schnell wird der Tonfall erregter. Dann beruhigt sich die Musik wieder, mehrfach geht dieser Wechsel so hin und her. Das ist Musik fast schon in einer romantischen Musiksprache, immer voll von unterschwelliger Erregung. Die große Solokadenz von Beethoven nimmt all diese Stimmungen auf. Fast idyllisch dann der zweite Satz. Alles ist sehr gesanglich. Aber auch düstere Töne mischen sich in das Bild. Beschwingt und lebhaft, fast ein bisschen fröhlich zieht der dritte Satz an uns vorbei. Die Solokadenz (von der Solistin selbst) ist dann wieder voll mit Dramatik. Beschwingt und energisch klingt der Satz aus.
Das war von Solistin und Orchester eine sehr kultivierte, fast edle Mozartinterpretation, ganz aus dem Wesen der Musik heraus. Mozart wurde nicht mit Beethoven aufgeladen, nicht in zu viel Romantik ertränkt. Die Musik stand für sich, durfte aus sich heraus wirken. Schaghajegh Nosrati tauchte tief in das Wesen dieser Musik hinein, das war fein empfunden, voller Gefühl, delikat gespielt. Patrick Lange und das Niedersächsische Staatsorchester begleiteten die Solistin nicht, sie lebten die Musik mit, ganz großartig. Die Solistin bedankte sich dann für den Beifall gleich mit zwei wunderbar sensibel gespielten Zugaben, einem Adagio aus einer Klaviersonate von Mozart und einer Sarabande von Bach.
Arnold Schönberg wird oft auf Zwölftonmusik reduziert, aber vor der Entwicklung dieser Kompositionstechnik schuf er großartige spätromantische Werke. Die sinfonische Dichtung „Pelleas und Melisande“ nach dem Stück von Maurice Maeterlinck über eine dem Tod geweihte Liebe der beiden Titelfiguren entstand 1902/1903. Riesenhaft besetzt ist dieser Klangrausch mehr Sinfonie als sinfonische Dichtung.
Es ist ein sehr komplexes Werk. Patrick Lange gab zu Beginn eine hilfreiche, kurze Einführung, in der er die Geschichte des Schauspiels mit musikalischen Motiven des Orchesterstücks verknüpfte. Die vielen Stimmungen dieser Musik sind kaum in Worte zu fassen. Wir werden hineingezogen in eine musikalisch-emotionale Landschaft. Zögernd, fast tastend beginnt es, das verdichtet sich zu einem kaleidoskopischen Teppich aus Stimmen. Weitgeschwungene, träumerische Abschnitte wechseln in rascher Folge mit emotionalen, schwelgerischen Passagen, immer herrscht Aufruhr in der Musik. Auf große, orgiastische Steigerungen folgen Phasen der Beruhigung, im steten Wechsel geht das hin und her. Ununterbrochen wechseln die Stimmung, das ist Musik ohne Ruhezonen. Präzision und Klarheit sind in der Interpretation gefordert, unkonzentriert gespielt ist das schnell ein zielloses Gewaber. Erst zum Schluss des Werks tritt eine fast impressionistisch anmutende Beruhigung ein, danach gewinnen die Melodien an Klarheit. Ich empfinde das so, als ob nach einer Nacht voller düsterer Träume auf einmal das Licht des Morgens aufscheint. Nach einer großen Steigerung schließt die sinfonische Dichtung leise.
Diese Musik ist maßlos, hemmungslos, eine Art Über-Tristan. Hätte Schönberg ein Drittel der übereinander getürmten Motive weggelassen, so wäre die Aufgabe für Orchester und Publikum leichter. Aber trotz der Orchestermassen konnte ich in dieser präzisen Interpretation dem musikalischen Geschehen gut folgen. Wenn man sich an dieses Werk traut, dann muss man das so spielen, wie es das Orchester unter Patrick Lange getan hat: möglichst durchsichtig, mit feinen Farbstrichen gezeichnet, mit klaren Linien und zugleich mit ganz viel Gefühl aufgeladen. Eine große Leistung vom Dirigenten, traumwandlerisch sicher hindurchzuführen! Und natürlich hervorragend gespielt vom Orchester!
Ein ungewöhnliches Konzert, ein Konzert der Kontraste, dreimal sehr gut gespielt und interpretiert. Das hat Spaß gemacht. Patrick Lange passt augenscheinlich gut zum Orchester. Dazu wieder eine wunderbar leichte, kenntnisreiche und bärenvolle (wer dabei war, weiß Bescheid) Einführung von Arno Lücker, die allein schon den Besuch des Konzerts wert war.
Text: Achim Riehn
