Dieses Konzert war etwas Besonderes, Bewegendes. Dirigent Artem Lonhinov und dem Orchester gelang mit Werken von Beethoven, Ljatoschynski und Dvořák ein großartiger Abend.
Für den Mai 2022 war ein gemeinsames Konzert des Bundesjugendorchesters und des Youth Symphony Orchestra of Ukraine (YSOU) im Opernhaus von Odessa geplant. Gemeinsam sollte dort unter Anleitung von Berliner Philharmonikern geprobt und dann konzertiert werden. Der Krieg in der Ukraine hat das verhindert. Achtzig aktive Mitglieder zählte das YSOU zu Beginn des Krieges. Viele harrten Tage und Wochen in Bunkern aus, konnten nicht üben, waren dazu mental auch nicht in der Lage. Online versuchten sie in Kontakt zu bleiben und sich gegenseitig zu unterstützen. Ein Teil der Orchestermitglieder konnte die Ukraine verlassen, einige sind aber geblieben. „Es sind vor allem die Jungs ab 18, die wehrpflichtig sind, aber auch andere, die ihre Familien und das Land unterstützen wollen“, so die Orchesterdirektorin und Violinistin Aleksandra Zaitseva in der Deutschen Welle. Mit ungefähr fünfzig Musikerinnen und Musikern konnte das Orchester aber in Deutschland die Arbeit wieder aufnehmen.
Zusammen mit dem Bundesjugendorchester wurde nun ein gemeinsames Programm erarbeitet, mit dem die beiden Orchester gemeinsam Konzerte in der Philharmonie Berlin, in der Philharmonie Köln und im Opernhaus Hannover geben. Beide Orchester sind langjährig verbunden, seit das Bundesjugendorchester im Jahr 2017 die Dirigentin Oksana Lyniv bei der Gründung des YSOU unterstützte. Mit diesen drei Konzerten wird die Arbeit des YSOU unterstützt, dessen staatliche Förderungen nicht mehr vorhanden sind. Zugleich wird so den Nachwuchsmusikerinnen und -musikern eine musikalische Perspektive gegeben.
Auf dem Konzertprogramm standen die Ouvertüre „Die Geschöpfe des Prometheus“ von Ludwig van Beethoven, die Sinfonische Ballade „Grazhyna“ des ukrainischen Komponisten Borys Ljatoschynskyj und schließlich Antonín Dvořáks Sinfonie Nr. 8. Am Pult stand der junge ukrainische Dirigent Artem Lonhinov, der bereits mit beiden Ensembles gearbeitet hat.
Bei „Die Geschöpfe des Prometheus“ handelt es sich um ein Ballett des Tänzers und Choreografen Salvatore Viganò, der um 1800 die Wiener Ballett-Compagnie leitete. Das Ballett schildert die Geschichte von der Erschaffung und geistigen Erweckung des ersten Menschenpaares. Ludwig van Beethoven bekam im Jahr 1800 einen Kompositionsauftrag für die Bühnenmusik. Vom Komponisten wurde wie damals üblich eine „sprechende Musik“ erwartet.
Die Ouvertüre knüpft deutlich im Stil an Beethovens 1. Sinfonie an. Beide beginnen mit einem Sekundakkord, der die Spannung auf das Weitere erhöht. Nach einem gesanglichen Thema in der Oboe führt eine Steigerung zum Hauptteil, der mit unwiderstehlichem Schwung dahineilt. Synkopen erhöhen die Dynamik, bis das kurze Stück virtuos endet.
In diesem Konzert klang dieser Beginn wirklich wie ein Aufbruch in eine neue Zeit, harsch und selbst für heutige Ohren neu. Energiegeladen, fast wild preschte die Musik voran, eine Interpretation voller Elan, gefüllt mit revolutionärem Geist.
Der ukrainische Komponist Borys Ljatoschynski (1895-1968) ist in Deutschland leider wenig bekannt. Seine Musik ist aber so interessant, dass ich sie gern mal in Konzerten hören möchte. Dies gilt insbesondere für seine Sinfonien.
Ljatoschynskis erste Kompositionen waren noch stark vom romantischen Stil Borodins und Tschaikowskis beeinflusst. In späteren Werken näherte er sich der Moderne an und integrierte polytonale und atonale Stilelemente. Ab Ende der Zwanziger Jahre vereinfachte er seine Tonsprache dann wieder und griff auch auf Elemente slawischer Volksmusik zurück. Einige seiner Werke fielen wie bei Schostakowitsch der Zensur zum Opfer, er erhielt aber zwei Staatspreise der Sowjetunion (1946 und 1952).
„Grazhyna“ ist eine sinfonische Ballade nach der gleichnamigen Dichtung des polnischen Dichters Adam Mickiewicz. In dem Werk geht es um die mutige litauische Heldin Grazhyna, die ihr Volk wie Jeanne d’Arc im Kampf gegen einen übermächtigen Feind anführt. Sie wird getötet, aber der Kampf wird gewonnen.
Das Stück bildet dies kongenial ab. Geheimnisvoll beginnt es, der musikalische Untergrund ist unruhig, fast etwas unheimlich. Eine träumerische Melodie erhebt sich darüber. Nach einer Generalpause werden die Klänge aufgeregt und aufrüttelnd, wechseln sich mit romantischen Abschnitten ab. Die Blechbläser rufen zum Kampf, eine hochdramatische Steigerung schließt sich an, mit heftigen musikalischen Auseinandersetzungen. Dann beginnt eine düstere, trostlose, ruhige Passage, es ist ein Trauermarsch, der Grabgesang für Grazhyna. Er endet in einer Art Verklärung. Zum Schluss kommt die Musik wieder zum unruhigen Beginn und seinen träumerischen Melodien zurück. Ein Kreis hat sich geschlossen.
Die Musik ist vielleicht ein bißchen plakativ, aber sehr ansprechend und mitreißend. Ich wurde an sinfonische Dichtungen von Smetana und Sibelius erinnert. Der Musikstil ist aber spätromantischer, moderner. Dirigent und Orchester arbeiteten die ganzen Facetten dieser Musik klar und deutlich heraus. Grazhyna wurde zum Leben erweckt. Bessere Botschafter für dieses Werk und diesen Komponisten kann man sich kaum wünschen.
Dvořák komponierte seine 8. Sinfonie 1889. Im Gegensatz zur eher düsteren 7. Sinfonie ist die Stimmung hier lyrischer und entspannter. Dvořák orientiert sich hier ganz an der klassischen Satzreihenfolge mit ihrem Wechsel von bewegten und langsamen Sätzen, wie sie aus den Sinfonien Haydns und Mozarts bekannt ist. Die Musik ist lebensvoll, alles atmet den Geist der böhmischen Landschaft und Natur.
Anklänge an Choräle und fast fröhliche Klänge durchziehen den gefühlvollen ersten Satz. Die Musik ist voller Schwung, manchmal fast voller Übermut. Großartig, wie Dirigent und Orchester dies umsetzten. Ich konnte kaum stillsitzen auf meinem Platz.
Der zweite Satz gemahnt im Stil fast an eine mittelalterliche Ballade. Die Musik schwelgt in Erinnerungen an eine ruhmvolle Vergangenheit. Der Satz ist von einem Wechsel aus dunklen und hellen Tönen geprägt. Hier war mir die Interpretation fast ein bißchen zu gefühlvoll und getragen, aber das ist Geschmacksache. Wunderbar musiziert war es auf jeden Fall.
Zum Tanz auf einer böhmischen Festwiese wird man im dritten Satz aufgefordert. Jeder Ton versprüht Lebensfreude. Die Musik erinnert fern an die walzerartigen Themen in der Musik von Tschaikowski. Auch hier gelang Dirigent und Orchester eine bezwingende Umsetzung. Die Musik tanzte, glühte fast vor Lebensfreude.
Der vierte Satz beginnt mit einer Fanfare der Blechbläser. Ein energisch wirkendes Haupthema setzt ein und wird in immer neuen Variationen abgewandelt und fortentwickelt. Nach einem lyrischen Übergang endet die Sinfonie in einer fast triumphalen Coda. Dieser vorwärtsstürmende Satz gelang besonders mitreißend. Nach dem Schluss hielt es das Publikum nicht auf den Stühlen, die Standing Ovations des ganzen Saals waren verdient. Wunderbar!
Als Zugabe gab es das „Vater unser“ des lettischen Komponisten Rihards Dubra, im März dieses Jahres komponiert. Gesangsstimmen kamen zum Orchesterklang dazu. Diese ruhige, meditative Musik bildete den bewegenden Abschluss eines mitreißenden Konzerts.
Ich bin voller Bewunderung, mit wieviel Energie, Hingabe und Präzision die Musikerinnen und die Musiker der beiden Jugendorchester spielten. Von ihrem fast glühenden Einsatz für die Musik können sich einige große Orchester gern ein paar Scheiben abschneiden. Gelangweilte Perfektion verliert gegen so viel Einsatz und Begeisterung.
Achim Riehn