Neujahrskonzerte versprühen Freude, sie feiern ein neues Jahr, sie sind eine Begrüßung der Zukunft. Wie aber macht man das, wenn die Zukunft unsicher ist? Matthias Brodowy brachte es in einer seiner launigen Moderationen auf den Punkt. Wir wissen nicht, wie dieses Jahr wird. Wir wissen nicht, was kommt. Es ist natürlich möglich, mit Pessimismus in die Zukunft zu blicken. Aber es ändert die Zukunft nicht. Also hat man mit Optimismus deutlich mehr vom Leben!
„Over the Rainbow“, so das Motto des Konzerts, löste diese Absicht voll ein – es versprühte Freude und Optimismus. Es war kein irgendwie schon gewöhnlich erscheinendes Neujahrsprogramm mit den üblichen Verdächtigen (Walzer, Operette), Hannover machte es spannender, aufregender, mit mehr Ambitionen. Die Reise ging durch vier musikalische Abschnitte, die mit „Sonne und Mond“ (Weber, Dvorak, Gounod, Strauss), „Natur“ (Korngold, Leoncavallo, Delibes), „Freundschaft“ (Delius, Bizet, Mozart, Menotti) und „Lebenssinn“ (Bernstein) überschrieben waren. Wie sagte es Matthias Brodowy so schön: Fast alles kann man leugnen, aber diese vier Dinge nicht.
Ohne Einschränkung war dieses Konzert hochklassig, spritzig, voller Lebensfreude. Es ist unglaublich schwer, Höhepunkte herauszuheben, wenn eigentlich alles ein Höhepunkt ist. Glanzstück folgte auf Glanzstück. Das Orchester unter Stephan Zilias spielte in Hochform, die Solisten sangen begeisternd. Ich gehe daher einfach auf meine ganz persönlichen Highlights näher ein.
Bei der Ouvertüre aus „Candide“ von Leonard Bernstein konnte man wieder einmal bemerken, wie gut das Niedersächsische Staatsorchester ist. Und man spürte, wie gut es mit GMD Stephan Zilias harmoniert. Da saß jeder Ton, das war rasant, lebendig, voller Schwung und Energie. Am liebsten wäre ich aufgesprungen und hätte mitgemacht (sicherheitshalber aber höchstens an der Triangel).
Über das erstklassige Ensemble der Staatsoper Hannover muss man nicht mehr viele Worte verlieren. Täglich beweisen sie ihre Qualitäten in den Vorstellungen, so auch hier im Neujahrskonzert. Man merkte zu jedem Zeitpunkt, wie viel Freude sie an ihrem Beruf haben. Aber bei einem Konzert kommt noch was fürs Auge dazu: atemberaubende Roben und fesche Anzüge!
Sarah Brady und Nina van Essen begeisterten mich (wie gesagt – es folgen nur meine Highlights) mit dem Blumenduett „Dôme épais le jasmin“ aus „Lakmé“ von Léo Delibes. Sopran- und Mezzosopranstimme vereinigten sich auf wunderbarste Art und Weise. Ich habe bei Stimmen oft Farbassoziationen: hier kamen Weißgold und Rotgold zusammen. Viele Darbietungen dieses Stücks erscheinen mir übertrieben süßlich, hier gelang zu Herzen gehende Romantik.
Barno Ismatullaeva setzte mit ihrer glutvollen Stimme das Haus in Flammen. Selten habe ich die Arie der Nedda „Stridono lassù“ aus „I Pagliacci“ von Ruggero Leoncavallo so hinreißend gesungen gehört. Zartheit, Wärme, äußerste Dramatik – alles ist da. Diese Stimme ist zu den ganz leisen Tönen und zu jedem Emotionsausbruch fähig.
Die männlichen Stimmen standen dem in nichts nach. Der reine, helle Tenor von Marco Lee und der tiefgründige, maskuline Bariton von Hubert Zapiór sind bei jedem Hören ein Genuss. Im Duett „Au fond du temple saint“ aus „Les Pêcheurs de perles“ von Georges Bizet vereinigten sie ihre Stimmen zu einem wahren Glanzstück des Gesangs. Wieder keine Süßlichkeit, wieder echte Wärme, echte Harmonie!
Den Schluss des Konzerts bildeten Ausschnitte aus Leonard Bernsteins „Candide“. Da geht es um die Frage, ob wir in der besten aller Welten leben können, wenn es so viel Unglück gibt. Aber „Candide“ beantwortet das ganz realistisch: nimm dein Schicksal an, gibt nicht auf, schau optimistisch in die Zukunft, „Make our garden grow“. In diesem romantischen und bewegenden Ensemble vereinigten sich alle Stimmen und das Orchester zu einem wirklich schönen Höhepunkt.
Mit dem Kabarettisten Matthias Brodowy hatte die Staatsoper den passenden Conférencier für das Programm gefunden. Matthias Brodowy bezeichnet sich selbst als „Vertreter für höheren Blödsinn“, das Versprechen löste er voll und ganz ein. Sehr witzig verstand er es, der Gegenwart einen Spiegel vorzuhalten (das Leugnen der Realität, Verschwörungsmythen) und dann wieder geschickt in das Programm überzuleiten und Optimismus zu verbreiten. Gern wieder!
Zwei Zugaben gab es natürlich auch. „Somewhere over the rainbow“ durfte beim Titel des Konzerts natürlich nicht fehlen. Hier zeigten alle, dass sie auch ambitionierte Unterhaltungsmusik perfekt beherrschen. Als zweite Zugabe erklang dann „The best of all possible worlds“ aus „Candide“. Hier war als kleine Überraschung auch Matthias Brodowy als Pangloss dabei (auch das kann er!). Schön, gut, bewegend – ein passender Abschluss.
Das Publikum im in Zeiten der Pandemie sehr gut besuchtem Haus klatschte begeistert, das war verdient. Solche abwechslungsreichen, anspruchsvollen und klischeefreien Konzerte kann es gern öfter geben!
Achim Riehn