„Der Bajazzo“: grandios, berührend, ein faszinierender Blick in den Abgrund

Was für eine Achterbahnfahrt! 80 Minuten lang werden wir Zeuge, wie eine Gruppe von Menschen auf eine Katastrophe zurast. Meisterlich setzt Regisseur Dirk Schmeding den „Bajazzo“ von Ruggero Leoncavallo in Szene, ganz nah am Kern der Geschichte, in grandiosen und berührenden Bildern, jederzeit packend und mitreißend.

Schlussapplaus nach der Vorstellung von „Der Bajazzo“ (c) Achim Riehn

Oft wird der „Bajazzo“ mit Mascagnis „Cavalleria rusticana“ gekoppelt. Hier steht er für sich allein. Das tut dem Stück gut. Ohne Ablenkung werden wir hineingestoßen in diese Tragödie, werden wir mitgerissen. Drama und pure Emotion, alles ist da, auf der Bühne, in der Musik, im Gesang. Sowohl szenisch als auch musikalisch ist dies ein großer Abend!

Die Oper wurde 1892 uraufgeführt. Sie gehört der Stilrichtung des Verismo an. Weg von mythologischen Geschichten und Königen sollte es gehen, hin zum wahren Leben des Volkes. Realistisch und ehrlich sollte es sein, sowohl im Text als auch in der Musik. Dabei steht die durch das Libretto abgebildete Lebenswirklichkeit im Zentrum, weniger die Musik, die die Gefühle der Personen nachzeichnet.

Im Stück geht es um Liebe und Eifersucht. Eine etwas heruntergekommene Theatertruppe tingelt über die Dörfer. Der Chef Canio liebt eifersüchtig seine Frau Nedda, die mit ihrem Leben nicht zufrieden ist und ausbrechen möchte. Dazu kommen der in Nedda verliebte, missmutige Tonio und der naive Peppe. Nach einer Probe erwischt Canio Nedda zusammen mit Silvio, ihrem Verehrer. Tonio hatte ihm den Hinweis gegeben. Silvio entkommt, Nedda nennt seinen Namen nicht. Am Abend spielt die Gruppe vor Publikum ein lustiges Spiel, das zufälligerweise diese Thematik auch auf die Bühne bringt. Rasend vor Eifersucht kann Canio Theater und echtes Leben nicht mehr trennen, das Spiel wird zur Realität, es eskaliert im Mord an Nedda und Silvio.

Regisseur Dirk Schmeding hat mich 2019 in Osnabrück schon mit „Guercoeur“ von Alberic Magnard begeistert. Selten habe ich erlebt, wie jemand so tief und genau in ein Stück hineinblickt, den Kern der Geschichte herausarbeitet und in faszinierenden Bildern auf die Bühne bringt. So macht er es auch im „Bajazzo“. Theater und wahres Leben überlagern sich, lassen sich nicht mehr trennen. Der zweite Teil des Stückes ist eine Theatervorstellung, und wir im Zuschauerraum schauen als Besucher im Opernhaus dieser Aufführung mit ihrem tragischen Ende ebenfalls zu. Drei Ebenen überlagern sich, und der Regisseur arbeitet dies präzise heraus.

Dirk Schmeding schaut in die Personen herein. Sie leben in einer heruntergekommenen Zirkuswelt, sind in einem ewigen, öden Kreislauf gefangen. Das Zirkuszelt ist zusammengebrochen, der Boden eingesunken, alles ist schief und verfallen. Die Komödiantentruppe ist in ihrer Welt eingeschlossen, selbst im Alltagsleben legen sie ihre Schminke nicht ab. Canio zum Beispiel singt seinen großen Monolog mit einem Schädel in der Hand, wie im Hamlet. Irgendwie ist es eine Hölle der ewigen Wiederkehr und des falschen Lebens, und man fühlt mit Nedda mit, die aus diesem Kreislauf ausbrechen möchte.

Auf der Bühne führen sie ein Theaterstück auf, in das die Realität einbricht. Wir schauen dem zu, wir sind Teil der Zuschauer. Folgerichtig verschmilzt uns Dirk Schmeding mit der Oper. Silvio sitzt im Parkett und himmelt Nedda an. Der Chor kommt aus dem Zuschauerraum auf die Bühne und wird zum Publikum der Theatervorstellung. Die bunten Lichterketten über der Bühne werden bis in den ersten Rang hinaufgezogen. Kleine Details verleihen dem Geschehen Authentizität: Zwei Akrobaten (Alexander Bohnhorst und Zipporah Raskop, Choreografie Annika Dickel) sind stimmig in das Geschehen eingewoben, machen es noch lebensnaher.

Das Bühnenbild von Ralf Käselau unterstützt dies hervorragend. Alles macht einen verfallenen Eindruck. Das rot gestrichene Klavier ist halb in das Loch in der Bühnenmitte herangesunken, Symbol für die verrottete Welt. Wenig funktioniert hier noch, allenfalls die bunten Lichterketten der Theatervorführung suggerieren einen Hauch von Glanz, von Leben. Im Hintergrund sieht man Nachbildungen der Lichter der Ränge des Opernhauses, unser Zuschauerraum verschränkt sich mit der Bühne. Die sensible Lichtgestaltung von Johannes Volk verstärkt den traurig-schäbigen Eindruck eindringlich. Das gilt auch für die tollen Kostüme von Pascal Seibicke, die mit den Personen wie verschmolzen erscheinen. Nie legen sie sie ab, auch im Privaten nicht. Canio ist immer in seinem grünen Strickpullover zu sehen, Nedda hängt lauter grüne Pullover auf die Leine.

In zwei kurzen, stimmigen Monologen gibt Canio Einblick in sein Innenleben. Sehr eindrucksvoll erscheint dazu sein Gesicht auf einem großen Bündel von Luftballons. Diese Videoprojektion von Philipp Contag-Lada ist endlich einmal ein wirklich sinnvoller und stimmiger Einsatz dieses Mediums, zu 100 Prozent im Dienste des Stücks.

Auch musikalisch blieben an diesem Abend keine Wünsche offen. Mario Hartmuth, Erster Kapellmeister der Staatsoper, führte mit Elan und Schwung durch die Partitur. Wunderbar die Präzision und Ausdruckskraft des Niedersächsischen Staatsorchesters! Herrlich die zarten Momente, grandios die dramatischen Steigerungen, perfekt im Einklang mit dem Geschehen auf der Bühne. Das ging unter die Haut.

Beeindruckend der Canio von Viktor Antipenko. Seine Stimme ist vielleicht ein bisschen einfarbig, aber voller dramatischer Wucht und Durchschlagskraft. Insbesondere im zweiten Teil steigerte er sich fast in einen Rausch hinein, Wahnsinn, Verzweiflung, Schmerz und Wut brachen sich Bahn, das war grandios. Er sang diese Rolle nicht, er lebte sie.

Barno Ismatullaeva als Nedda stand ihm in nichts nach. Eindrucksvoll, verletzlich, doch voller Rebellion – mit wunderbaren Tönen erweckte sie alle Aspekte ihrer Rolle zum Leben. Mit ihrer leidenschaftlichen, glühenden Stimme kann sie Wände zum Einsturz bringen und jedes Eis schmelzen lassen!

Daniel Scofield schaffte es, mit seiner warmen Baritonstimme den intriganten Tonio verletzlich und fast sympathisch erscheinen zu lassen. Zu einer beeindruckenden Stimme kommt eine faszinierende Bühnenpräsenz.

Peppe bekommt vom Komponisten nicht viel Gelegenheit, sein gesangliches Können zu zeigen. Pawel Brozek nutzt dies aber und präsentiert uns seine leicht ansprechende, bewegliche Tenorstimme. Ein einfühlsamer Tamino in einer verrotteten Zirkuswelt.

Lluís Calvet i Pey beeindruckt als Silvio mit seinem warmen, klangschönen Bariton. Man muss nur zuhören und versteht, warum sich Nedda zu ihm hingezogen fühlt.

Großartig singt und spielt auch der Chor unter der Leitung von Lorenzo Da Rio und beweist wieder einmal, dass er zu den besten Opernchören des deutschsprachigen Raums gehört. Daumen hoch auch für Jongsoo Ko und Eungdae Han in ihren herausgehobenen Rollen als Bauern.

Musik, Bühnenbild, Kostüme und dazu eine faszinierende Inszenierung, die es schafft, den inneren Kern der Geschichte herauszuarbeiten – hervorragend! Nichts ist hier plakativ, alles ist der Geschichte und der Musik verpflichtet. Dirk Schmeding erweist sich nicht nur als guter Regisseur: er ist ein Großer! Dazu kommen noch tolle musikalische Darbietungen. Der Besuch einer Vorstellung lohnt sich jede Sekunde. Das sah auch das sehr junge Publikum so, das mit Begeisterung reagierte.

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