Endlich wieder Oper! Fast ein halbes Jahr mussten wir ohne Musik auf der großen Bühne auskommen, die Sehnsucht war groß. Aber in mir gab es auch Bedenken – kann das in dieser Corona-Zeit funktionieren? Hier wurde ich als vorsichtiger Mensch dann positiv überrascht, die Staatsoper hatte das hervorragend organisiert. All das sorgt dafür, dass man sich sicher und gut betreut fühlt und das Geschehen auch genießen kann.
Das große Orchester nahm den ganzen Platz der Bühne bis zur Hinterbühne ein. Jeder Streicher hatte sein eigenes Pult, jede Person auf der Bühne saß auf ihrer eigenen kleinen Insel. Mit Schwung sprang unser neuer Generalmusikdirektor Stephan Zilias auf die Bühne und diese Energie übertrug sich sofort auf des Vorspiel zum 1. Akt von „Carmen“. Musik mit Hochdruck, energiegeladen, trotzdem war jede Farbe heraushörbar.
Zum Abschluss des Vorspiels kamen Ruzana Grigorian (Carmen) und Rodrigo Porras Garulo (Don José) dazu. Mit einer wunderbar lasziven Geste warf Carmen Don José eine Rose vor die Füße. Die folgende Séguidille „Près des remparts de Séville“ brachte dann die Luft auf der Bühne zum Knistern.
Ruzana Grigorian besitzt einen vollen, tiefen Mezzosopran. Zudem kann sie auch die sinnliche Ausstrahlung vermitteln, die diese Rolle erfordert. Der Tenor von Rodrigo Porras Garulo ist leuchtkräftig, er besitzt ein wunderbares Piano. Diese beiden Neuzugänge im Ensemble sind ein Gewinn!
Intendantin Laura Berman betrat dann in strahlendem Orange die Bühne, um alle zu begrüßen und zusammen mit Stephan Zilias die erste kleine Einführung zu geben. Endlich wieder Leben in der Oper, die Freude darüber konnte ich bei Laura Berman fast körperlich spüren. „Carmen“ wird in einer Fassung für reduziertes Orchester gespielt werden, diese Version ist noch in Arbeit. Der Hintergrund ist, dass in den Orchestergraben unter Beachtung der geltenden Regeln maximal 24 Instrumentalisten passen. Das wird dann also ein ganz neues Carmen-Gefühl werden.
Es folgte die Blumenarie des Don José „La fleur que tu m’avais jetée“, gesungen von Rodrigo Porras Garulo. Hier konnte der Sänger seinen strahlenden Tenor präsentieren, mit sicherer Höhe, heldisch im Ton. Letzte Saison begeisterte er mich bei seinem Gastauftritt als Cavaradossi in „Tosca“, wird es vielleicht einmal einen „Siegfried“ von ihm geben?
Das Vorspiel zum 3. Akt von „Carmen“ ertönte romantisch und durchsichtig klar, wieder war jede Nuance der Partitur zu hören. Die Zusammenarbeit zwischen dem Niedersächsischen Staatsorchester und Stephan Zilias scheint zu funktionieren und lässt Großes erwarten.
Germán Olvera sang dann die Arie des Escamillo „Votre Toast“. Seine Stimme ist sehr gut geeignet, das Maskuline der Rolle herauszuarbeiten. Man versteht, dass sich Carmen von diesem Escamilo stark angezogen fühlt. Das ist aber nicht nur Testosteron pur, das wird mit feinsten Abstufungen gesungen, sensibel und klangschön. Es formt sich so das musikalische Bild eines komplexen Menschen.
Im weiteren Verlauf bekamen dann alle Kapellmeister der Opernhauses Gelegenheit, sich dem Publikum vorzustellen. James Hendry dirigierte mit spürbarer Begeisterung die Ausschnitte aus dem Musical „Sweeney Todd“ von Stephen Sondheim. Es begann sehr schwungvoll und energisch mit dem Orchester-Finale, einem etwas makaber daherkommenden Walzer. Die Dämonie des Stückes kam sehr gut herüber.
Es folgte der Song der Mrs. Lovett „Worst Pies in London“, gesungen vom Gast Anne Weber. Mit Vehemenz schlug sie zu diesem Song auf ein Teigstück ein, das Mehl stiebte. Anne Weber gestaltete das Skurrile dieser Szene hinreißend, sie ist eine sehr ausdrucksvolle Musicalsängerin mit starker Stimme.
James Newby präsentierte dann den Song des Anthony „Johanna“, eine hochromantische Ballade, die die Grenze zum Kitsch sanft und etwas ironisch streift. James Newby gefiel mir in der letzten Saison schon in „La Boheme“ und als Papageno. Hier bewies er, dass er auch eine sehr schöne Musicalstimme hat. All das macht Spaß, „Sweeney Todd“ könnte wieder ein Publikumsrenner werden (ich muss mir bald noch einmal die Verfilmung dazu anschauen).
„Trionfo. Vier letzte Nächte“ von Georg Friedrich Händel wird dann die erste Premiere der Saison sein. Dieses Stück wurde recht kurzfristig ins Programm genommen, da es sich gut unter den Corona-Bedingungen umsetzen lässt. Laut Frau Berman ist es eine sehr berührende Inszenierung geworden. Als Gastdirigent wurde dafür David Bates gewonnen, der damit sein Debut in Deutschland gibt. Er dirigierte auch die Ausschnitte.
Zuerst sangen das neue Ensemblemitglied Sarah Brady (Sopran) und Nina van Essen (Mezzosopran) das Duett der Bellezza und der Piacere „Il voler nel fior“. Hier waren zwei sehr schön harmonierende Stimmen zu hören, die zu einem gemeinsamen Klang verschmolzen. Die zahlreichen Koloraturen in diesem Stück erklangen präzise und wie selbstverständlich. Sarah Brady hat einen leicht ansprechenden, lyrischen Sopran von schönem silbernen Glanz.
Sunnyboy Dladla sang dann die Tenorarie des Tempo „Folle, dunque tu sola presume“. In der letzten Saison sang er als Gast den Grafen Almaviva im „Barbier von Sevilla“, da gefiel mir schon seine reine, bewegliche Stimme. Auch in dieser Händel-Arie konnte er mit einer Stimme brillieren, die die Koloraturen und Verzierungen wie eine Selbstverständlichkeit erschienen ließen. Jeder Ton leuchtete und strahlte.
Gesungen von Nina van Essen folgte die Arie der Piacere „Lascia la spina“. Diese ganz bekannte Melodie – später von Händel mehrmals wiederverwendet – ist ein Geniestreich des zwanzigjährigen Händel. Nina van Essen sang das mit ganz viel Ausdruck, mit herrlich warmer Stimme. Es ging zu Herzen – was kann man Schöneres über eine Interpretation sagen!
Wieder unter Stephan Zilias erklang aus „Otello“ von Verdi das Gebet der Desdemona „Ave Maria“, gesungen von Barno Ismatullaeva. Dirigent und Orchester bewiesen hier ihre Fähigkeit zu meisterlicher Feinzeichnung. Barno Ismatullaeva begeisterte mit ihrer rubinrot klingenden Stimme. Ihre aus einem wunderbaren Piano aufblühenden Töne schaffen es, den ganzen Raum zu fluten. Eine berührende Interpretation mit leuchtenden Spitzentönen.
Valtteri Rauhalammi dirigierte dann die Ouvertüre aus „Don Giovanni“ von Mozart. Die Darbietung brachte die Dramatik und Tragik der Musik gut zum Ausdruck und wie immer bei dieser Ouvertüre musste ich an Beethoven denken. „Don Giovanni“ wird in dieser Saison in einer halbszenischen, reduzierten Fassung auf die Bühne kommen
Ausschnitte aus „Così fan tutte“ von Mozart folgten, einfühlsam dirigiert von Giulio Cilona. Zuerst sang Hubert Zapiór die Arie des Guglielmo „Rivolgete a lui lo sguardo“. Hubert Zapiór besitzt einen sehr ausdrucksstarken Bariton voller Farbe und mit schönen Klang. Zudem versteht er es, jedes Wort textverständlich darzubieten. Das war Mozartgesang erster Güte, so wie man ihn sich wünscht.
Hailey Clark stand ihm mit Rezitativ und Arie der Fiordiligi „Temerari … Come scoglio“ in nichts nach. Das klang leicht, strahlend, textverständlich, energisch und durchsetzungsstark. Dieser Fiordiligi möchte man lieber nicht in die Quere kommen, herrlich! Ich glaube, hier erwarten uns einige Mozart-Sternstunden.
Zum Abschluss des vom Publikum gefeierten Abends gab es das Trinklied aus „La Traviata“ und das Terzett aus „Così fan tutte“. Allen Beteiligten war anzumerken, wieviel Freude es für sie war, wieder auf der Bühne zu stehen. Und uns Zuhörerinnen und Zuhörern war es eine ebenso große Freude, wieder Publikum zu sein. Endlich wieder Opernhaus! Frau Berman hat Recht: Musik hält uns am Leben! Und mit diesem Ensemble, diesem Orchester und diesen Dirigenten wird die Saison eine Freude sein!
Zum Abschluss möchte ich noch etwas ausführlicher schildern, wie alles rund ums Programm organisatorisch im Opernhaus geregelt war. Dies kann vielleicht die Scheu nehmen, eine Vorstellung zu besuchen.
Der Eingang zum Parkett geschah über die Notausgänge an den Seiten des Hauses zwischen den Garderoben, die Ränge hatten andere Zugangswege durch den Haupteingang. Bodenmarkierungen und Absperrungen wiesen den Weg, überall half das Saalpersonal. Ständer mit Desinfektionsmittel standen bereit, große Hinweistafeln halfen weiter. Im Saal ist jede zweite Reihe frei, Sitze sind herausgenommen, damit man beim Aufsuchen des Platzes mit niemandem zusammenkommt. Zwischen den belegten Platzgruppen (Einzel und Doppelsitze) sind immer zwei Plätze frei, die praktisch dafür sind, die Mäntel abzulegen. Die Garderoben draußen sind nämlich geschlossen. Hat man den Platz eingenommen, dann darf die Maske abgesetzt werden. Zuerst erzeugten diese „Menscheninseln“ bei mir ein etwas surreales Gefühl, das gab sich aber schnell. Mit dem ersten Gongschlag wurden dann auch auf den Rängen eine Tür geöffnet. Das Saalpersonal wies hier das Publikum ein und brachte sie so ui ihren Plätzen. Niemand musste aufstehen, um andere Besucher vorbeizulassen. Vorstellungen ohne Pause sorgen dafür, dass man sich nicht ungewollt zu nah kommt. Das ganze Konzept ist gut durchdacht! Man kann einen Besuch wagen.
Achim Riehn