Probenbesuche sind an und für sich schon sehr spannend – aber diesmal kam noch etwas dazu. Diesmal bekamen wir Einblicke in die Arbeit an einer Uraufführung. Wann hat man schon einmal die Gelegenheit, vor allen anderen ganz neue Musik zu hören? Es war faszinierend!
Vor der Probe gab es auch diesmal eine kleine Einführung. Dramaturgin Regine Palmai hatte dazu den Komponisten Ben Frost und den musikalischen Leiter Florian Groß eingeladen. Sie erzählten, dass diese Premiere schon etwas ganz Besonderes sei. Geplant war die Uraufführung im Frühling 2020, die Pandemiesituation führte dann dazu, dass die Premiere verschoben werden musste. Nun endlich kommt es dazu.
Das Stück ist eine Auftragskomposition der Oper Hannover. Ben Frost hatte zuerst die Idee, etwas Fiktives zu vertonen. Er stieß dann aber auf die Ermordung von Halit Yozgat 2006 in einem Internet-Café in Kassel, einen der NSU-Morde.
Die unabhängige Forschungsgruppe Forensic Architecture hatte in einer Gegenrecherche zu den offiziellen Ermittlungen sämtliche verfügbaren Informationen, präzise wie in einem wissenschaftlichen Experiment, zusammengestellt und den Ablauf versucht zu rekonstruieren. Aber auch diese Recherche, basierend auf den Aussagen der Zeugen, ergab kein endgültiges Bild. Diese Recherche wurde dann für die Documenta 2007 aufbereitet: Was ist in den 9 Minuten und 36 Sekunden in den 77 Quadratmetern des Cafés geschehen?
Siebenmal wird in der Oper das Geschehen gezeigt, aus den sieben Blickwinkeln der Zeugen. Dazu kommt die Sicht des Publikums. Sieben Schichten der Geschichte werden aufgedeckt. Sieben Interpretationen, keine endgültig. Ben Frost sagte, die Musik hat dabei die Aufgabe, das „einzuhüllen“, den Raum zu umhüllen, das Geschehen auch emotional einzubetten.
Auf der Bühne stehen die sieben Menschen, die im Café waren. Das Libretto basiert auf ihren Zeugenaussagen, es gibt das wieder, was im Café gesagt wurde. Der siebenmal wiederholte Text wandert durch die sieben Rollen, die sieben Personen nehmen in jedem Durchgang andere Rollen ein. So wird versucht, einen ganz neutralen Zugang zu finden. Man soll sich nicht mit den Personen identifizieren.
Auf der Bühne fand dann die erste Bühnenorchesterprobe statt. Orchester und Ensemble fanden zum ersten Mal zusammen. Wir sahen dann in die drei ersten der sieben Interpretationen hinein. Die Musik ist sogartig, hypnotisch, sie versetzt in eine Art aufgeregte Trance. Es ist eine kleine musikalische Besetzung, die im Hintergrund der Bühne spielt. Die Musik wird elektronisch verstärkt, sie ist aber immer live. Es ist ein pulsierender, vorantreibender Klangteppich. Elektronische Musik mischt sich mit Techno-Rhythmen, mit Klängen wie aus dem Heavy Metal. Aber auch traumverlorene Passagen waren zu hören. Ich verspreche nicht zu viel: das ist ein ganz neues musikalisches Opernerlebnis! Die Musik bebt, die Oper lebt!
Das Bühnenbild ist auch sehr spannend. Auf einem Podest ist das Internet-Café nachgebaut, zuerst vollständig von weißen Wänden umhüllt. Ein riesiger Eiskristall liegt auf der Bühne. Dann begann die Musik, die Sprachfetzen des Textes legten sich darüber. Ganz allmählich wurden die Wände des Kristalls abgebaut, man konnte ins Innere schauen, sah endlich Sängerinnen und Sänger. Das Bühnenbild wurde ab und zu weitergedreht. Jeder Platz im Opernhaus hatte so einen anderen Blickwinkel, schaute durch andere Spalten auf andere Teile des Innenraums. Jede und Jeder hatte seinen eigenen Blick auf das Geschehen.
Beim dritten Durchgang konnte man dann schon viel sehen. Der Text war inzwischen bekannt, alles wurde klarer, so schien es wenigstens. Realistisch wurde ins Geschehen hineingeleuchtet, aber ich vermute, in den weiteren Durchgängen wird sich das verändern. Auf einmal tauchte eine weiße Gestalt auf der Bühne auf, mit einem weißen Gewehr auf dem Rücken, wie eine Diana auf der Jagd. Bricht hier das Mystische, Übernatürliche ein in das Geschehen? Um diese spannende Frage zu beantworten, muss man das Stück dann ganz sehen, die Probe war für uns leider hier beendet. Für mich eine ganz klare Cliffhanger-Situation!
Im Nachgespräch mit Regine Palmai sprachen wir dann noch ausführlich über das Gesehene. Die Veränderungen des Bühnenbilds werden während der Aufführungen durch Mitglieder der Statisterie durchgeführt. Während dieser Probe machten dies Bühnenarbeiter in schwarzen Overalls. Die Regieassistentin war mit ihrem Script dabei und sagte jeweils, welches Bühnenteil jetzt zu entfernen war. Da die Sängerinnen und Sänger im Bühnenbild dies natürlich überhaupt nicht beachteten, machte dies einen sehr surrealen Eindruck. Geplant war die Uraufführung vor zwei Jahren im Schauspielhaus, dafür war dieses Bühnenbild geplant und gebaut. Hier im Opernhaus ist die Situation anders, für die Veränderungen musste diese neue Variante gewählt werden. Auch die Übertitel werden ungewöhnlich sein, da sie dreigeteilt den ganzen Text abbilden.
Es hat sich gelohnt, hier zuzuschauen. Ein ganz ungewöhnlicher und bedrückend faszinierender Opernabend erwartet uns. Die Musik dazu ist modern und zeitnah, sie müsste auch einem jungen Publikum zusagen. Viel Stoff zum Nachdenken gibt es auch, über unseren Umgang mit Geschichte, mit Schuldfragen, mit Gerechtigkeit. Hingehen!
Achim Riehn