Auf diese „Kostprobe“ hatte ich mich besonders gefreut. Diese Probenbesuche sind ja auch normal immer wieder spannend und erhellend. Man bekommt Einblick in eine Produktion im Entstehungsprozess, in eine Inszenierung im Entstehen, sieht eine Probe (und weiß damit schon mehr als alle anderen Menschen). Diesmal handelte es sich um ein Musical, dazu noch eine Uraufführung! Alles war neu, Musik und Bühne! Kann es ein schöneres Vorweihnachtsgeschenk geben?
In ein paar Tagen hat das Musical „Kasimir und Karoline“ Premiere, ein Auftragswerk für die Staatsoper Hannover. Das Libretto ist von Martin G. Berger (der auch Regie führt) und Martin Mutschler, die Musik von Jherek Bischoff. Das Musical beruht auf einem Schauspiel von Ödön von Horváth.
Auch diese Kostprobe erfüllte wieder alle meine Erwartungen. Vor dem Probenbesuch gaben Dramaturg Daniel Menne, Martin G. Berger und Jherek Bischoff dreißig Minuten lang spannende Einblicke in die Produktion und den Entstehungsprozess. Alle drei sprudelten über vor Begeisterung, es war eine Freude zuzuhören.
Das Stück ist in den letzten zwei Jahren entstanden, es war ein sehr spannender Prozess. Am Anfang stand die Entscheidung von Martin G. Berger für dieses spezielle Stück. Für ihn muss ein Stück „Lücke lassen für eine Musik“. Horváth erfüllt das, er schaut den Menschen „aufs Maul“, das Stück ist „niederschwellig und doch anspruchsvoll“. Die Themen sind auch heute noch aktuell: Was verspricht uns der Kapitalismus und was macht das mit den Menschen? In dem Stück und im Musical machen Menschen Party, während sie die großen Probleme behandeln. Die Gegenwart mit ihren Krisen bringt uns, so Martin G. Berger, diese Stücke aus dem Ende der Weimarer Republik, diese Stücke von Brecht und Horváth, wieder näher.
Ödön von Horváth lässt viel unausgesprochen. Das Musical erlaubt es, in diese sprachlosen Menschen hineinzuschauen, es zeigt in Musik, was sie aussprechen würden. Die Texte, insbesondere die Sprechtexte von Horvárth, sind zum großen Teil geblieben. Der Inhalt ist eine sehr moderne Liebesgeschichte. Zwei Menschen lieben sich und werden auseinandergerissen. Genauer gesagt reißen sie sich selbst auseinander. Das ist schade, denn eigentlich passen sie toll zusammen. Aber sie will gesellschaftlich nach oben, er driftet nach unten ab. Um dieses Paar herum wird ein ganzes Panoptikum der Gesellschaft gezeigt, von Kleinkriminellen bis zum Großindustriellen. Kasimir und Karoline „wären das perfekte Paar, wenn die Welt ringsum nicht wäre“.
Jherek Bischoff erzählte dann auf sympathisch-verschmitzte Art von seiner Arbeit an der Komposition. Er hat früher in einer Band gespielt, hat sich früh aber auch für Sinfonik interessiert. Zuhause hat er eine ganze Sammlung von Musikinstrumenten, die er mehr oder weniger gut auch spielen kann. Er schreibt auch Popmusik und Musik für Netflix-Serien. Das Stück kannte er vorher nicht. Die Zusammenarbeit mit Martin G. Berger war toll, unablässig haben sie Ideen und Entwürfe über soziale Medien miteinander ausgetauscht. Laura Berman hat ihn davon überzeugt, dieses Stück zu machen. Die Musik ist eine Mischung aus elektronischer Musik und Orchester. Das integriert sich sehr gut und passt auch zum Oktoberfest, auf dem das Stück von Horvárth spielt. Viele Musikstile vereinen sich zu einem Ganzen.
Martin G. Berger sagte, dass wohl kein deutscher Komponist diese Musik zu diesem Stück hätte komponieren können. Die amerikanische Sicht macht es so faszinierend, es ist, „als ob ein Alien auf dieses Stück schaut“. Es zeigt so den amerikanischen Blick auf die deutsche Seele. „Kein Deutscher wäre jemals auf die Idee gekommen, diese Musik zu diesem Stück zu schreiben“.
Wir sahen dann an diesem Abend eine Bühnenorchesterprobe, einen Durchlauf von Beginn an. Auf der Drehbühne sahen wir eine Art Haus, einen durch Glühbirnen illuminierten Kasten mit vielen Fenstern, eine Partylocation. Mit einer Body-Cam wird ganz nah an die Menschen herangegangen, ihre Emotionen und Reaktionen werden so aus diesem Haus auf einer Videowand abgebildet. Während der Probe funktionierte die Cam nicht und daher hatte es zwischendurch etwas von einem Hörspiel. Überraschenderweise änderte das nichts an der Faszination. Viel will ich noch nicht verraten, aber das ist Musik, die unter die Haut geht. Die ist glamourös, modern, wunderbar eingängig, Gänsehautmusik. Das hat Ohrwurm-Qualität! Es gibt mitreißende Chorpassagen. Die Personen auf der Bühne wecken sofort unser Interesse, ich litt schon in dieser Probe mit.
Ganz entzückt ging es dann nach der Probenpause wieder zurück in den Marschnersaal. Daniel Menne und Jherek Bischoff gaben noch weitere, sehr spannende Einblicke in die Produktion. Die Musik ist auch für den musikalischen Leiter Maxim Böckelmann eine Herausforderung, da es nicht leicht ist, eingespielte elektronische Musik mit der Livemusik des Orchesters zu koordinieren. Auf der Bühne sind bis zu 100 Mikrofone im Einsatz, die koordiniert werden müssen. Hier kam Intendantin Laura Berman zu uns dazu und sagte, dass dies ohne die moderne Tonanlage überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Die Produktion war auch für sie ein sehr spannender Prozess, „ganz schön nervenaufreibend“ und „viel aufregender als andere Projekte“. Aber auch sie war sichtbar glücklich über das Ergebnis und voller Vorfreude.
Jherek Bischoff erzählte dann noch ein bisschen über die Herausforderung, hier Musik zu einem komplexen Text in einer fremden Sprache zu schreiben. Er hat dazu zum Beispiel eine Übersetzungssoftware genutzt, die ihm auch jedes einzelne Wort übersetzt und vorgesprochen hat. So konnte er die Betonungen im Text genau mit der Musik zusammenbringen. Wie die Probe mit gezeigt hat: perfekt gelungen!
Seine musikalischen Inspirationen holt er aus seiner ganzen Umwelt. Während der Komposition war er auch auf Sizilien, den Klang der Kirchenglocken da hat er sofort in die Musik aufgenommen. Zwei Klimaanlagen in München brummten in einem Akkord, auch solche Klänge fanden ihren Weg in die Musik. Das Wechselspiel mit Martin G. Berger war sehr spannend. Manchmal war erst die Musik da, manchmal zuerst der Text. Manchmal gab es zu Beginn nur eine „Atmosphäre“, auf der dann Musik und Text aufbauten. Für ihn ist die entstandene Musik „emotional zugewandt“, das hat sich während des Kompositionsprozesses als passend und stimmig herausgestellt. Vor Beginn hatte er eher an etwas Atonales gedacht, aber das hätte nicht zum Stück und zu den Personen gepasst.
Ich bin jetzt sehr gespannt auf dieses neue Musical. Das wird groß werden, das wird toll werden, unbedingt hingehen! Magische Musik zu einer bittersüßen Geschichte ist das, mitreißend und bewegend. Ich freue mich sehr auf die Vorstellung, die ich besuchen werde! Und ich freue mich unbändig auf die nächste Kostprobe!
Achim Riehn