Ich liebe diese „Kostproben“! Ich bekomme Einblick in eine Produktion im Entstehungsprozess, erhalte Einblicke in diesen Prozess und die Absichten hinter der Inszenierung. Ich sehe hinein in eine Probe und weiß damit schon früher als alle anderen Menschen, wie das wird. Das alles für 11,50 Euro, herrlich! Ich als Mitglied der GFO hatte die Karte sogar für 5 Euro bekommen. Diesmal war der Andrang im Vorfeld so groß, dass zusätzliche Kartenkontingente verkauft werden mussten. So voll von Menschen habe ich den Marschnersaal bei einer Kostprobe noch nie erlebt. „Parsifal“, Richard Wagners rätselhaftestes Werk, das weckte offenbar großes Interesse. Auch viele jüngere Menschen waren im Publikum. Regine Palmai war sichtlich freudig überrascht über diesen Andrang.
Auch diese Kostprobe erfüllte wieder alle meine Erwartungen. Vor dem Probenbesuch gaben Chefdramaturgin Regine Palmai und der Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson dreißig Minuten lang Einblicke in das Stück und in ihr Regiekonzept.
Inszenierungen lassen meist etwas Spannendes und Mitreißendes erwarten, wenn die Regisseurin oder der Regisseur spürbar voller Begeisterung ist und für das Stück förmlich brennt. Heute war das wieder so: Thorleifur Örn Arnarsson sprudelte fast über, so mitten drin in einem Stück habe ich selten eine Person gesehen. Er genoß es offensichtlich, seine Ideen mit uns im Publikum zu teilen, zugewandt, freundlich, offen, witzig. Er hatte mich so schon nach den ersten Worten für das Stück gewonnen. Gemeinsam erläuterte er dann mit Regine Palmai die zentralen Punkte, die für die Inszenierung wichtig sind.
„Parsifal“ ist vor vierzig Jahren zuletzt in Hannover inszeniert worden. Es gibt bis zu 220 Mitwirkende, sehr viel Chor, ein Teil des Chores singt aus dem Chorsaal und wird in den Zuschauerraum übertragen. „Parsifal“ ist von Richard Wagner als Bühnenweihfestspiel bezeichnet worden, nicht als Oper. Das Stück, 1882 uraufgeführt, sollte keine Unterhaltung sein. Wagner „hat dafür eine ganze Weltanschauung entworfen“. Auch in dieser Inszenierung wird das Stück nicht als reine Handlung abgebildet, sondern als das genommen, was Wagner darin angelegt hat: Eine Diskussion über gesellschaftliche Perspektiven. Im Zentrum des Stücks steht das Mitleid, darauf wartet die Welt. Die Inszenierung versucht, aus den Mythen das herauszufiltern, was uns heute betrifft. Wie wollen wir miteinander leben?
„Parsifal“ war über fünf Jahre in Planung, die Produktion musste zweimal pandemiebedingt verschoben werden. Thorleifur Örn Arnarsson stand Wagner zuerst skeptisch gegenüber, war skeptisch gegenüber dem Erlösungsgedanken des Stückes. Aber es erwies sich für ihn als ein unheimlich tiefer Einblick in die menschliche Seele. Die Hoffnung auf Erlösung ist da, sie ist notwendig, aber ebenso ist in dem Werk eine große Skepsis spürbar. Rettet die Erlösung des Stückes die Welt oder ist alles so wie am Anfang, nur anders schlimm?
Die vage christliche Gesellschaft der Gralsritter ist eine Gesellschaft, die „die Hoffnung verloren hat, dass es überhaupt noch eine Hoffnung geben könnte“. Obwohl es nichts mehr bewirkt, halten sie an ihrem Ritual fest. Sie haben fast vergessen, was prophezeit war. Plötzlich taucht in dieser Welt ein unschuldiges Kind auf. Und das Erste, was sie tun, ist, ihm Schuld zuzuweisen. Da ist keine Hoffnung mehr, kein Glaube an die Prophezeiung, diese Welt fällt zusammen.
Auch Klingsor ist nur geprägt als Anti-Idee dazu, seine weiße Welt ist kein neuer Entwurf. Als Kundry im Zaubergarten Parsifal küsst, erlebt der einen Erweckungsmoment. Erwidert er es, so wird er wie Amfortas werden, wird die Welt nicht verändern können. Deswegen verweigert er sich dem Kuss, er hat an Erkenntnis gewonnen.
Im dritten Aufzug ist die Gralswelt zuende, erstarrt. Parsifal übernimmt die Wunde. Aber ist das ein richtiger Neuanfang? Ist es vielleicht nur ein „mit besten Intentionen alles schlimmer machen“? So ist es auch in unserer heutigen Welt, so ist unser Umgang mit der Natur. Das ist der Zwiespalt in uns allen. Mit Schuldzuweisungen ist nicht geholfen. Parsifal versucht wenigstens einen Neuanfang. Das Thema des Werks ist damit bestürzend aktuell. „Die schönste Musik schreibt Wagner zum brutalsten Libretto“, so Thorleifur Örn Arnarsson. Das ist „Manipulation durch Schönheit“.
In der Bühnenorchesterprobe sahen wir die Gralswelt des ersten Aufzugs. Ich werde noch nichts verraten, aber das ist offensichtlich eine tote, verbrannte, ausgelaugte Welt am Ende. Etwas Schreckliches ist offenbar geschehen mit dieser Naturwelt, hat sie in schwarzen und weißen Farben erstarren lassen, sie mit technisch kalt wirkenden Details überzogen. Die Assoziation zu unserer heutigen Welt mit ihrer Naturzerstörung war für mich deutlich spürbar.
Der Schwerpunkt der Probe lag auf der Musik, nicht auf der Bühnenaktion. Marco Jentzsch, der Sänger des Parsifal, war zum Beispiel überhaupt nicht auf der Bühne. Stephan Zilias probte mit dem Orchester jedes Detail ganz genau, in den anderthalb Stunden gab es so Einblicke in vielleicht zwanzig Minuten des Stücks. Irgendwie stand so auch unsere Zeit still, war so erstarrt und in ewigen Kreisläufen gefangen genau wie die Gralswelt. Thorleifur Örn Arnarsson hatte im Vorgespräch die Zusammenarbeit mit Stephan Zilias in den wärmsten Tönen hervorgehoben.
In der Nachbesprechung mit Regine Palmai wurde dann auf viele Punkte der Inszenierung eingegangen. Über eine Stunde nahm sie sich noch dafür Zeit. Auch Regine Palmai war ganz tief in die Welt des Stückes eingetaucht und beeindruckte uns mit immensem Detailwissen.
Jeder Aufzug bekommt ein eigenes Bühnenbild. Die Welt der Gralsritter zeigt das, was sie tun. Sie beuten die Natur aus, so wie wir es heute auch tun. Die Natur ist ausgelaugt, aber das Ritual geht weiter. Es ist offensichtlich, dass das nicht mehr funktioniert. Im dritten Aufzug werden wir eine Tabula Rasa-Welt sehen, eine fast leere Bühne. Bühnenarbeiter bauen die Symbole beider Welten, der Gralswelt und der Klingsor-Welt, ab. Hoffnung besteht, wenn wir die Mauern zwischen den Welten abbauen.
Ich bin jetzt sehr gespannt auf die ganze Oper. Wir werden eintauchen in eine Welt, die unsere ist und die doch ganz anders ist. Wir werden in eine zerstörte Welt blicken und doch einen Funken Hoffnung entdecken. Ich freue mich sehr auf die Vorstellung, die ich besuchen werde! Und ich freue mich unbändig auf die nächste Kostprobe!
Achim Riehn