Marco Goecke, Ballettdirektor der Oper Hannover, ist ein Choreograf mit einer unverwechselbaren, sofort erkennbaren Handschrift. Sein neuestes Stück „A Wilde Story“ hat er für sein Ballett hier an der Oper geschrieben. Wieder ist ein einzigartiges , sehr emotionales, verrätseltes Werk entstanden.
Goecke erzählt von Leben und Werk des Dichters Oscar Wilde. Der doppeldeutige Titel deutet es aber schon an, es ist eine „wilde Story“, voll mit Geschichten, Andeutungen, Assoziationen. Das Stück verbindet die sinnliche Faszination sich bewegender Menschen mit Einblicken in die Figuren, in das eigene Selbst. „A Wilde Story“ wird so zu einer melancholischen Studie über das Leben, das Zusammenleben und das Scheitern.
Das Ballett kombiniert die Lebensgeschichte des Dichters Oscar Wilde mit Motiven aus dessen Geschichten, Märchen undd Romanen. Stationen seines Lebens werden aneinandergereiht. Der Erfolg, die Liebe zu seiner Frau und zu Lord Alfred Douglas, die Verurteilung wegen Homosexualität zu Haft und Zwangsarbeit und das vereinsamte Ende – all das ist in Andeutungen da. Diese Lebensstationen werden verbunden durch tänzerische Meditationen über einzelne seiner Werke. Es finden sich die Märchen wie „Der glückliche Prinz“ und „Die Nachtigall und die Rose“, es finden sich Ausschnitte aus seinen den Romanen. In diesen Geschichten geht es um den Menschen mit allen seinen Gefühlen, um Schmerz und Liebe, um die Suche nach Zuneigung und Glück. Es geht um das, was Wilde in seinem Leben immer gesucht und wohl viel zu selten gefunden hat. Leben und Literatur, Wahrheit und Dichtung fließen so ineinander, werden gegenübergestellt, kommentieren sich.
Im Programmheft ist der Inhalt der elf Szenen sehr detailliert erläutert. Die Choreografie aber verweigert sich dieser klaren, eindeutigen Abbildung völlig, sie verweigert sich jeder Illustration und Abbildung. Diese Beschreibungen sind Ansatzpunkte, mehr nicht. Ich habe weiter oben den Begriff „Meditation“ gewählt, das ist dieses Stück wohl wirklich: Eine Meditation über das Leben und darüber, wie es sich in den Werken des Künstlers spiegelt.
Der Abend ist so kein durchgängiges Handlungsballett, es ist ein Abend der Andeutungen. Es ist eher so, als ob man jeden Stein in einer Kette einzeln betrachtet, jeder anders, jeder anders gefärbt, jeder anders geheimnisvoll, jeder anders rätselhaft. Es bildet sich so kein durchgehender emotionaler Spannungsbogen, keine geschlossene Geschichte – das muss man mögen und das muss man annehmen.
Die Musikauswahl ist dabei so vielschichtig und vielgestaltig wie die Welt von Oscar Wilde. Sie reicht von der Musik der britischen Alternative-Band „The Smashing Pumpkins“ über das Klavierkonzert von Massenet (Solist: Francois Dumont), „Mariettas Lied“ aus „Die tote Stadt“ von Korngold, einer sinfonischen Dichtung von Ethel Smyth bis hin zu Filmmusik von Debbie Wiseman aus einem Film über Oscar Wilde. Es ist ein Glück, dass Marco Goecke hier in Hannover mit dem Niedersächsischen Staatsorchester ein so tolles Orchester zur Begleitung seiner Werke hat. Unter der Leitung von Maxim Böckelmann macht es den Abend auch musikalisch zu einem Ereignis.
Die Bühne ist schlicht, dunkel, fast leer, im Hintergrund kann man so etwas wie eine viktorianische Stadtlandschaft auf einer Wand erahnen. Nur große Kreise aus Licht erleuchten diese dunkle Bühne. Aber mehr braucht Marco Goecke auch nicht, um seine Geschichte spielen zu lassen. Die karge Bühne verwandelt sich in eine Innenwelt.
Ich habe oft bei Opern und Balletten spontane Assoziationen, hier musste ich an die Netflix-Serie „The Sandman“ denken, eine Serie über den Herrn der Träume, ein Blick in eine Welt der rätselhaften Albträume und der Wünsche. Marco Goecke versetzt uns in einen dunklen Traum und die Tänzerinnen und Tänzer setzten das bezwingend und anrührend um. Ihre Kostüme sind genauso dunkel wie die Bühne, lange Kleider, Männer und Frauen sind kaum voneinander zu entscheiden. Es sind für mich Traumgestalten. Nur die jeweiligen Hauptakteure auf der Bühne sind individuell herausgehoben, aber auch sie haben kaum Farbe an sich.
Tänzerinnen und Tänzer agieren in der für Goeckes Kreationen typischen Körpersprache, abgehackt, vogelhaft, flirrend, flatternd, mit Wechseln zwischen intimer Nähe und Entfernung. Alles wirkt wie ein unablässiger Strom von virtuosen Ausbrüchen und statischen Momenten, von heftigen Bewegungen und von sehnsüchtigem Herantasten. Ganz hervorragend getanzt ist das!
Das Stück beginnt mit einem fulminantem Solo, in der Conal Francis-Martin wie besessen über die dunkle Bühne wirbelt, während die „Smashing Pumpkins“ „Tonight, Tonight“ singen und im Hintergrund geisterhafte Gestalten entlanghuschen. Erst zur Musik von Massenet kommt es endlich zu einer fast intimem Begegnung.
Sehr bewegend war für mich die Episode zum Märchen „Die Nachtigall und die Rose“. Die Nachtigall doppelte sich, zur Tänzerin trat auf der Bühne die Sopranistin Kiandra Howarth dazu, die Mariettas Lied anrührend sang, auch sie in einem dunklem Kostüm, von den Tänzerinnen und Tänzern kaum zu unterscheiden.
Die letzte Szene des Stücks ist ganz ruhig, sie zeigt den verzweifelten Wilde am Ende seines Lebens. Zu Beginn dieser Szene fällt die Wand, die bisher die Kulisse gebildet hatte. Das viktorianische Leben fällt, es bleibt nur noch die tote, dunkle, hoffnungsleere Bühne zurück. Man sieht hinter die Kulissen, in die Schwärze, in das Nichts. Es greift ans Herz.
So schließt sich erst zum Schluss die Kette und die Meditationen über die einzelnen Steine dieser Kette fügen sich zu einem Gesamtbild. Wilde ist einsam auf der Bühne wie zu Beginn. Wir haben hineingeblickt in eine Welt der bösen und guten Träume und sind wieder an dem Punkt wie zuvor.
Nach diesem Abend versteht man, warum Marco Goecke gerade mit dem Deutschen Tanzpreis ausgezeichnet worden ist. Seine Choreografien sind einzigartig, sie sind bei aller Fremdartigkeit berührend. Seinen Choreographien zuzuschauen ist schmerzhaft, ist emotional, ist intensiv. „A Wilde Story“ ist für mich wegen seines rätselhaft-episodischen Charakters schwerer zugänglich als sein letztes Ballett „Der Liebhaber“, man muss viel stärker bereit sein, sich einzulassen. Aber es funktioniert doch, man vergisst die Geschichte hinter dem Stück, weil sie für das Empfinden beim Zuschauen nicht mehr nötig ist. Man schaut hinein in eine Seele, in die vom Oscar Wilde und auch in die von Marco Goecke. Man schaut aber auch in seine eigene Seele, auf Licht und uneingestandene Dunkelheit. Das ist rätselhaft und bedrohlich! Der Beifall des überwiegend jungen Publikums war groß und enthusiastisch. Die Jugend liebt offenbar Marco Goecke besonders.
Ich habe in der Nacht nach der Vorstellung intensiv von diesem Ballett geträumt, es muss also tief in mir etwas ausgelöst haben. Also lasst Euch ein auf dieses Rätsel, diesen Traum, diese Dunkelheit, auch wenn es nicht leicht zugänglich ist.
Achim Riehn