Dieses Ballett „Peer Gynt“ nach der Musik von Edvard Grieg an der Staatsoper Hannover ist ein wunderbar poetisches Erlebnis: traumhaft schön getanzt, toll vom Orchester gespielt. Der Andrang auf die Vorstellungen ist so groß, dass sogar Zusatzvorstellungen gegeben werden, so wie an diesem ersten Weihnachtstag. Die Geschichte des Träumers Peer Gynt wird in märchenhaften, berührenden und auch witzigen Bildern erzählt, Musik, Tanz und die Geschichte aus Ibsens Bühnenwerk werden zu einem Gesamtkunstwerk verwoben.
Eine Arbeit des Choreografen Edward Clug, 1973 in Rumänien geboren, ist erstmals beim Staatsballett Hannover zu sehen. Sein „Peer Gynt“ entstand 2015 und wurde unter anderem an der Wiener Staatsoper gezeigt. Es ist eine zeitlos schöne Choreografie, die auf berührende Bilder und das Erzählen einer Geschichte durch den Tanz setzt. Das ist ganz wunderbar gelungen. Edward Clug ist ein begnadeter Choreograf – und hat mit dem Ballett der Staatsoper Hannover einen kongenialen Partner.
Ibsens „Peer Gynt“ erzählt die Geschichte eines Träumers, dem seine Heimat zu eng wird und der in die Welt hinausgeht, um sein Glück und die Liebe zu finden. Viele phantastische Abenteuer erlebt er, viele Momente des Scheiterns. An keiner Frau kann er vorbeigehen. Erst am Ende seines Lebens erkennt er, dass Solveig seine Liebe und seine Erfüllung ist, die Frau, die er zu Beginn verlassen hat. Das Stück schildert nicht nur Peer Gynts Abenteuer, sondern ist auch eine Reise ins Innere, hin zur Selbstfindung. Wer bin ich? Darum geht es.
Zu den phantasievollen Bildern kommt die Musik von Edvard Grieg. Zu „Peer Gynt“ hat er eine Schauspielmusik komponiert, die eigentlich für Ibsens modernes Drama viel zu romantisch ist. Aber zu einem Ballett über die Geschichte funktioniert das wunderbar. Zur Schauspielmusik hat Edward Clug weitere Kompositionen Griegs hinzugefügt, Ausschnitte aus einem Streichquartett, dem Klavierkonzert (Klavier: Martin Klett) und weiteren Werken. Tanz und Musik greifen perfekt ineinander. Dirigent Masaru Kumakura und das Niedersächsische Staatsorchester setzen das präzise und einfühlsam um, perfekt abgestimmt zum Geschehen auf der Bühne. Dazu kommt eindrucksvoll in der Trollszene der Chor (Leitung: Lorenzo Da Rio).
Das Bühnenbild von Marko Japeli ist auf das Wesentliche reduziert. Ein leicht nach hinten ansteigender weißer Ring dient als Peers Haus, wird zum Dorf und zum Hochzeitsplatz, wird zur Behausung der Trolle. Ein großer Felsen und einige Requisiten dienen zur Akzentuierung. Wunderbar dezente und die Phantasie anregende Kostüme von Leo Kulaš tragen zur Stimmung perfekt bei. Herrlich, die Trolle! Die Lichtgestaltung von Tomaž Premzl und alles auf der Bühne unterstützen die Geschichte, verstärken die Poesie.
Zu Beginn jagt Peer Gynt einem weißen Hirschen nach, einer Phantasiegestalt. Clug gibt diesem Fabelwesen eine durchgehende Rolle. Immer wieder taucht er im Verlauf des Abends auf, wie eine Erinnerung daran, dass Peer Gynt auf der Suche nach etwas ist, dass er nie erreicht. Raúl Ferreira tanzt dieses Wesen beeindruckend, seine Arme sind durch krückenartige Fortsätze verlängert, auf dem Kopf ein Geweih über der Tiermaske. Fast wie eine Spinne bewegt sich diese Gestalt fort, unmenschlich und geheimnisvoll.
Immer wieder wird Peer Gynt, großartig getanzt von Nikita Zdravkovic, diesem Wesen begegnen. Aber zuerst gerät er mit seiner Mutter Åse (Ana Paula Camargo) aneinander, bandelt auf einer Dorfhochzeit mit Solveig (Sofie Vervaecke) an und spannt Ingrid (Sandra Bourdaus) ihrem Bräutigam (Floris Puts) aus. Nur knapp entkommt er dem Beil des wütenden Schmieds (Jamal Uhlmann). Gerettet wird er durch eine geheimnisvolle Gestalt, die an den Vampir Nosferatu erinnert. Es ist der Tod, ausdrucksvoll expressionistisch getanzt von Michelangelo Chelucci. Auch diese Gestalt wird Peer auf seinem Lebensweg von nun an begleiten.
Peer Gynt kann von den Frauen nicht lassen. Nach einer kurzen Episode mit drei Sennerinnen wird er von einer geheimnisvollen „Frau in Grün“ (Roberta Inghilterra) in das Reich der Bergtrolle gelockt. Wirklich beeindruckend ist ihr Tanz in einem Janus-Kostüm. Unter ihren langen grünen Haaren verbirgt sich ein weiteres Gesicht. Wenn sie ihre Haare von hinten nach vorn wirft und ihr zweites Gesicht zeigt, verwandelt sich ihr Tanz in etwas Merkwürdiges, Unwirkliches, Unheimliches. Die Frau erweist sich als die Tochter des Bergkönigs. Dessen Trolle kommen zu einem wilden, beeindruckenden Kriegstanz auf die Bühne, in großartig bedrohlichen Kostümen. Wirkmächtig unterstützt der Chor die Musik, das ist wirklich mitreißend. Mit Hilfe des Todes kann Peer den Trollen und der Trollprinzessin entkommen, die behauptet, von ihm schwanger zu sein.
Für einen kurzen, intimen Moment kommt Peer mit Solveig zusammen. Aber dann schiebt der Tod ein Bett auf dem weißen Ring herein, dem Sinnbild für den Kreislauf des Lebens. Auf dem Bett liegt Peers sterbende Mutter Åse. In einer zu Herzen gehenden Szene kann sich Peer von ihr verabschieden.
Zu Beginn des zweiten Akts ist die Bühne fast leer. Zur „Morgendämmerung“ aus Griegs „Peer Gynt“ verabschiedet sich Peer von Solveig und geht auf große Reise in die Welt. In diesem Ballett kommt auch der feine Humor nicht zu kurz: Peer steigt in ein Modellflugzeug ein, wie es sich auf Kinderkarussellen findet. Egal wie alt er ist, er ist immer noch emotional ein Kind. Er lässt sich davonschaukeln.
In Marokko ist er dann offenbar zu Reichtum gekommen. Teppiche auf der Bühne bilden Ort und Reichtum ab. Anitra (Chisato Ide) verführt ihn durch einen lasziven Tanz, Peer überreicht ihr im Liebeswahn alle seine Teppiche, all seinen Reichtum. Anitra verschwindet und die Szenerie verwandelt sich in ein Irrenhaus mit Patienten in Krankenbekleidung. Peer wird in einem Rollstuhl hin und her geschoben, Dr. Begriffenfeldt (Javier Ubell) überwacht die Szene.
Wieder verschwindet dies alles. Peer wird älter und langsamer, der Staub des Alters hüllt ihn ein. Die Bühne ändert sich, der Tod taucht auf, der Ring und der Felsen des ersten Teils werden wieder hineingeschoben. Ist das ein Rückblick am Ende des Lebens auf die Anfänge? Wieder ist Peer auf der Hochzeit des Beginns, aber es ist wohl nur eine Vision, niemand sieht ihn. Solveig sitzt still oben auf einem Felsen, aber Peer schafft es nicht, sie zu erreichen. Sein Leben ist ohne Erfüllung.
Dann kommt der Tod mit einem stehenden Sarg herein und Peer muss in ihn herein. Der Tod schiebt den Sarg heraus, aber Peer kann noch einmal entkommen. Sein Leben ist noch nicht zu Ende, etwas fehlt wohl. Der Tod lacht, setzt eine Weihnachtsmütze auf (weil Erster Weihnachtstag ist?) und lässt Peer allein.
Genauso alt und müde wie Peer kommt Solveig auf die Bühne. Mühsam trägt sie eine Tür auf dem Rücken. Peer und Solveig berühren sich in einem intimen Moment. Dann tragen sie gemeinsam die Tür, Sinnbild für die Last des Lebens, den weißen Ring hinauf, bis in den Bühnenhintergrund. Sie stellen die Tür auf, fassen sich an den Händen, treten durch sie hinein ins Licht. Ihr Leben ist getan. Eine herzbewegende Szene. Der weiße Hirsch kommt auf die Bühne und setzt sein Geweih auf die Tür. Dunkelheit, Vorhang.
Nach einem Moment der Ergriffenheit braust der Beifall los, steigert sich zu Standing Ovations, zu Jubel und Begeisterung. Das ist eine Choreografie der Emotionen, die das Publikum mitreißt und verzaubert. Gefühle werden in poetische Bilder umgesetzt, die unmittelbar ansprechen. Das Ballett der Staatsoper Hannover konnte bravourös zeigen, was es kann. Ausverkauftes Haus, Begeisterung, Verzauberung – das war ein großer Abend! Hoffentlich wird das in der nächsten Saison wieder auf dem Spielplan stehen – nicht nur ich möchte das erneut sehen.