Was für ein Ereignis wäre es gewesen, dieses Konzert live im Opernhaus zu sehen! Selbst jetzt im Stream überwältigte das Erlebnis! Als „Visual Concert“ war es Auftakt einer neuen Reihe am Opernhaus, in der sich Musik mit anderen Kunstformen treffen wird, mit Tanz, Video, Bühnenbild oder Performance. „More than Music“ wird der Titel dieser Reihe sein. In diesem ersten Konzert dieser Art traf die dunkle, nordische Musik von Jean Sibelius auf Videoinstallationen des israelischen Künstlers Tal Rosner. Zwei Seelenverwandte kamen für mich zusammen.
Tal Rosner hat bereits Konzerte u.a. der Pet Shop Boys visuell gestaltet, er hat Modenschauen von Louis Vuitton in Szene gesetzt. Sehr erfolgreich ist auch seine Zusammenarbeit mit renommierten Sinfonieorchestern wie dem Philadelphia Orchestra und dem BBC Symphony Orchestra London. Dieses Konzert an der Staatsoper Hannover ist seine erste Arbeit in Deutschland.
Die Musik von Jean Sibelius ist singulär und sofort wiedererkennbar. Der Tonfall ist dunkel, romantisch, schroff, die Musik ist tief in der Natur des Nordens und der Welt der finnischen Sagen verwurzelt. Es hätte nahe gelegen, dies mit Bildern von Wäldern, Seen und Mooren zu bebildern, denn diese visuellen Eindrücke drängen sich unmittelbar auf. Tal Rosner erlag dieser Versuchung nicht. Seine Bilder spiegelten auf faszinierende Art und Weise das Innere dieser Musik wieder, ließen sie dadurch zusätzlich leuchten und strahlen. An Rückwand und große Seitenwände projiziert gaben sie so dem Konzert einen faszinierenden Rahmen.
Tal Rosner setzte nicht auf Videos allein. Zusammen mit Bühnen- und Lichttechnik der Staatsoper, insbesondere der Beleuchtungsmeisterin Elana Siberski, hat er das Konzertzimmer in einen Raum der Kunst verwandelt. Rückwand und Seitenwände bildeten ein Triptychon, hier begann und endete das Farbenspiel des Konzerts. Dazwischen wurden Objekte im Bühnenraum mit einbezogen. Das Orchester wurde auf zauberische Art in eine Art Bühnenbild versetzt, in einen Garten aus Farben. „Die Idee ist, dass der ganze Raum lebendig wird“, so sagte es Tal Rosner im Programmheft.
Auf dem Programm standen eher seltener gespielte Stücke von Sibelius, wir begaben uns auf eine Entdeckungsreise. Alle diese Stücke hätten es verdient, öfter gespielt zu werden. Für jede dieser Kompositionen fand Tal Rosner eigene Farben und eigene Formen. Visuell war dies eine Reise hinein ins Dunkel und dann wieder zum Licht.
Der Abend begann mit der sinfonischen Dichtung „En Saga“. Dies ist ein Werk voll schroffer Gegensätze, mit dramatischen Steigerungen und abrupten Übergängen. Eine dunkle Märchenwelt wird mit expressionistischen Klangfarben und in übersteigerten Kontrasten dargestellt. Es ist Musik, die wegen ihrer Intensität fast blendet. Ein Tor ins Dunkle öffnet sich.
Zu Beginn spielte das Orchester im abgedunkelten Bühnenraum, dann kamen weiße Lichtfunken dazu. Kreisende Kristalle, Funken und Reflexionen bildeten diese schwarzweiße Musikwelt ab.
Im „Arioso“ sang dann als Solistin Hailey Clark aus dem Ensemble der Staatsoper. Über dunklen Streichern erhob sich ruhig und melancholisch ihr Sopran. Das Lied handelt von einem Mädchen, das von der Liebe zu einem Jungen und dem Gehorsam gegenüber der Mutter hin und her gerissen wird.
Dazu war alles in blaues Licht getaucht, Neonstreben im Orchester verwandelten die Bühne in einen nächtlichen Garten.
In der bezaubernden „Szene mit Kranichen“ wird mit musikalischen Mitteln ein Naturbild heraufbeschworen. Das Stück ist eine Aquarellskizze in Nachttönen. Wie ferne Akzente ertönen zur Dämmerungsstimmung der Streicher die fernen Kranichrufe in den Klarinetten.
Das Blau verwandelte sich in ruhig schwingende Wellen aus Licht, in ins Türkis übergehende Wogen. Ein Gazevorhang dämpfte die Farben, verlieh dem Farbenspiel eine dreidimensionale Wirkung.
Die „Ballade“ aus der Schauspielmusik zu „König Christian II“ ist die Musik zu einer Ballszene, tänzerisch, aber unruhig und aufgewühlt. Nach einer Generalpause fallen die Köpfe der Adligen, symbolisiert durch eine harsche abfallende Akkordfolge.
Visualisiert wurde dies mit bedrohlich düsteren Farben. Lodernde Flammen zogen über den Hintergrund, die Neonstreben leuchteten rot, alles endete in einem Inferno aus Feuer.
Der „Schwan von Tuonela“ tauchte dann tief hinein in die finnische Mythologie. Tuonela ist das Totenreich, abgetrennt von der Welt der Lebenden durch einen Fluss. Auf diesem Fluss schwimmt der Schwan, er ist die einzige Verbindung zwischen den Welten. Es ist Musik, bei der ich immer an Bilder von Arnold Böcklin denken muss, melancholisch-dunkel, trotzdem von einem fremdartigen Licht überströmt. Der Schwan wird durch ein langes Solo des Englischhorns (großartig: Augustin Gorisse) verkörpert, elegisch und tröstend. Der Schluss dieser sinfonischen Dichtung ist dann dunkel und lastend. Es ist ein leiser Totenhymnus, es erinnert an einen Trauermarsch in der Ferne. In der Tiefe höre ich so etwas wie eine unheimlich tickende Totenuhr.
Hier war die Welt wieder schwarz. Schwärme aus weißen Lichtpunkten zogen über den Hintergrund, vagabundierende Geister, Irrlichter. Die Neonstreben zuckten und flackerten und verstärkten den unheimlichen Eindruck.
Mit „Luonottar“ für Sopran und Orchester erklang dann das Stück, das dem Konzert wohl seinen Namen „Mythos“ gegeben hat. Das Stück handelt davon, wie die Tochter des Himmels die Welt entstehen lässt. Diese Musik ist wirklich ein Mythos, eine göttliche Beschwörung. Zum Schluß wird die Musik immer dramatischer und bewegter, bis sie schließlich wie ein großes Pendel ausschwingt. Über diesem Untergrund schwebt die Stimme des Soprans, mal dramatisch, mal lyrisch. Es ist eine äußerst anspruchsvolle Partie, die von Hailey Clark erstklassig gemeistert wurde.
Hier hing so etwas wie eine Weltkugel im Hintergrund der Bühne. Während der Weltschöpfung entwickelten sich die Farben vom Blau des Anfangs hin zu leuchtenderen Farben. Vogelschatten zogen über die Weltkugel, zum Schluss verdämmerte alles in violetten und blauen Nachttönen.
Den Abschluss bildete die sinfonische Dichtung „Nächtlicher Ritt und Sonnenaufgang“. Sie schildert die inneren Erlebnisse eines Mannes bei einem Ritt durch einen nächtlich dunklen Wald. Der Rhythmus erinnert wirklich an den Tritt eines Pferdes im Galopp, dazu kommen bedrohliche Naturstimmen, wie Einwürfe. Ich kann hören, wie der Mann ins Träumen, ins Nachdenken gerät, die Musik bildet immer stärker diesen inneren Monolog ab. Zum Schluß wird die Musik heller, Licht durchflutet den immer noch düsteren Wald. Es ist kein mediterran strahlendes Licht, es ist ein dunklerer Ton, wir sind immer noch in einer kalten, nordischen Welt. Aber wir haben es am Ende dieser Reise aus dem Dunklen wieder hinaus ins Helle geschafft.
Tal Rosner setzte hier fallende, blaue Farbfelder ein. Mit Beginn des Sonnenaufgangs wurden die Farben immer heller und wärmer. Die Bühne versank in einem rosigen Licht und wurde schließlich vom leuchtenden Gelbweiß der Sonne überstrahlt.
Es muss für das Orchester eine Freude gewesen zu sein, endlich wieder auf der Bühne spielen zu können. Auch Hailey Clark stand zum ersten Mal seit einem halben Jahr wieder auf der Bühne. Aber Corona schlug auch hier zu. Generalmusikdirektor Stephan Zilias hatte das Konzert von Anfang an mit entwickelt und wollte es auch dirigieren, unmittelbar vor Probenbeginn musste er sich in eine vorsorgliche Corona-Quarantäne begeben. Kurzfristig übernahm der finnische Dirigent Ari Rasilainen das Konzert, der zumindest einen Teil der Stücke schon kannte.
Zusammen mit dem prächtig aufgelegten Orchester arbeitete er die warmen, romantischen Farben der Musik heraus. Sibelius klang hier nicht so schroff, wie ich ihn oft schon gehört habe, hier wurde der Romantiker herausgestellt. Alle Nuancen und Feinheiten der Musik waren zu hören. Den Gesang von Hailey Clark kann ich nur als großartig bezeichnen, sie ließ jeden Ton leuchten. Das Englischhornsolo von Augustin Gorisse war herzzerreißend schön.
Hätte man so etwas Aufwändiges ohne die erzwungene Ruhe der Pandemie jemals so realisiert? Mit dieser Konzertreihe hat sich das Niedersächsische Staatsorchester auf einen aufregenden neuen Weg begeben. Konzert ist nicht das richtige Wort dafür, ich würde es eher eine Musikinszenierung nennen. „More than Music“ trifft es gut! Wann kommt die Wiederaufnahme? Mir blutet das Herz, dass das Publikum hier nicht live im Opernhaus dabei sein konnte.
Noch ein Wort zum Stream: leicht aufzurufen, hervorragende technische Qualität, sehr schön gefilmt. Die zehn Euro dafür waren gut angelegt. Solche Streams mit Eintrittskarte sind eine sehr gute Möglichkeit, jetzt in der Pandemie Musik zu genießen. Ich würde es gut finden, wenn dies auch später so angeboten würde. So haben auch Menschen Zugang, die nicht ins Opernhaus können oder wollen.
Achim Riehn