Stephan Zilias und Stefan Zientek über „Lear“ – eine Partitur legt die Seelen der Personen offen

Im Herbst hatte GMD Stephan Zilias im „aufhof“ Hannover, dem kulturell zwischengenutzten ehemaligen Galeria-Kaufhaus am Rand der Altstadt, schon eimal sehr interessant über den „Parsifal“ erzählt. Nun gab es in dieser losen Reihe „Locker vom Hocker“ am 20.02.2024 Einblicke in den „Lear“ von Aribert Reimann. Zur Unterstützung hatte er sich Stefan Zientek mitgebracht, Konzertmeister des Niedersächsischen Staatsorchesters.

Foto und Copyright: Achim Riehn

Nach einer kurzen Begrüßung durch Ronald Clark, Kurator und Organisator der temporären Nutzung des leerstehenden Kaufhausgebäudes, ging es los. Trotz des Streiks der Uestra war die Veranstaltung sehr gut besucht.

Wie kann man sich „Lear“ nähern? Das ist eine so ganz andere Musik als der „Parsifal“. Warum funktioniert das Stück so gut? Seit der Premiere Ende der Siebziger hat es 40 Neuinszenierungen gegeben, kaum eine Oper der zweiten Hälfte des ZwanzigstenJahrhunderts schafft das. Und das bei einer Musik, die kompromisslos ist, die sich überhaupt nicht anbiedert. Stephan Zilias und Stefan Zientek waren sich einig: Das Stück ist einfach unglaublich wirksam.

Das auf dem Stück von Shakespeare basierende Libretto von Claus H. Henneberg ist „sensationell gut“ gestaltet. Das maßlose Stück ist extrem gestrafft und außerordentlich bühnenwirksam umgesetzt. Das sind „Sätze wie Nadelstiche“. Die Musik ist das „Gegenteil einer Taschentuch-Oper“. Sie zielt nicht ins Herz, sie zielt in die Magengrube. Nichts am Stück ist politisch, dieser „Lear“ interessiert sich nur für das Schicksal des Menschen.

„Lear“ ist ein „Anti-Parsifal“. Am Schluß ist von Lear nichts mehr da. Es ist ein Stück über die Zersetzung, über das Sterben. Das Bühnenbild der aktuellen Inszenierung an der Staatsoper Hannover bildet das kongenial ab. Das Bühnenbild, die Welt, zerfällt. Am Schluß ist Lear allein.

Mit vielen Musikbeispielen an zwei Keyboards und an der Violine führten uns dann Stephan Zilias und Stefan Zientek in die Musikwelt dieser Oper ein. Das war so umfassend, tiefgreifend und faszinierend, das ich hier nur einige Dinge aufführen kann.

Die Partitur ist riesig und so schwer, dass für Stephan Zilias ein neues Pult gebaut werden musste, um die siebeneinhalb Kilo Partitur zu tragen. Alle Streicher haben Einzelstimmen. Es gibt 48 Streicherstimmen, damit sind zwei volle Oktaven aus Vierteltönen möglich. Diese für unsere Ohren ungewohnten Vierteltöne werden rege genutzt.

Man muss nicht die Partitur lesen können, um Details zu verstehen – der visuelle Eindruck reicht völlig aus. Während der Veranstaltung konnten wir das alles über einen Beamer ansehen. Die Streicher werden oft kanonartig genutzt, das sieht im Bild dann aus wie ein sich ausweitender „Fischschwarm“. Oft werden sie aber auch akkordisch genutzt, dann mit jeweils unterschiedlichen Spieltechniken. Stefan Zientek demonstrierte die uns jeweils. Es ist faszinierend, wie unterschiedlich eine Violine klingen kann!

Den Gesangspartien sind jeweils ganz eigene Welten zugeordnet. Die älteste Tochter Goneril hat einen eher starren, unbeweglichen Gesangsstil, mit großen, exaltierten Sprüngen. Die Sprünge wirken so, als ob sie sich etwas beweisen müsste. Die zweitälteste Tochter Regan singt in überdrehten, selbstverliebten Koloraturen, sie will eindeutig Goneril übertrumpfen. Sie wird immer von „Holzbläser-Groupies“ umwimmelt. Die dritte, gute Tochter Cordelia wird dagegen von Streichern begleitet. Alle ihre Melodien beruhen auf einer Zwölftonreihe, die auch das Motiv B-A-C-H enthält. Diese Reihe ist in drei Vierergruppen geteilt, jeweils eine der Gruppen dominiert jeweils die Musik. Edgar, die zweite „gute“ Person, bekommt Musik, die ebenfalls auf dieser Reihe basiert, aber um mehrere Töne versetzt. Der machtgierige Edmund dagegen wird immer von Blechbläsern begleitet, die Stephan Zilias „hungrige Hyänen“ nannte.

Alle diese Musikwelten sind immer da, wenn die Personen da sind. Sie verändern sich kaum. Anders ist es mit dem Narren. Diese Rolle ist eine Schauspielerrolle, daher wird sie mit einem Streichquartett begleitet, um die Stimme nicht zu überdecken. In der Gesangsstimme ist seine Musik fast tonal, volksliedhaft – es ist die einzige tonal-ähnliche Musik in dieser Oper. Zuerst ist die Musik des begleitenden Streichquartetts wild und zerklüftet, aber im Laufe des Stücks wird sie immer leichter und einfacher. Der Narr hat das Orchester gezähmt. Vielleicht will der Narr uns damit sagen, dass im Laufe des Stücks alle anderen Personen immer verrückter werden als er, ein Narr ist nicht mehr nötig.

Das waren total faszinierende zwei Stunden, die wie im Flug vergingen. Stephan Zilias versteht es, Musik ganz anschaulich zu machen. Stefan Zientek war der passende Begleiter. Viel Beifall gab es.

Zum Schluß sagte Stephan Zilias, das diese Reihe „Locker vom Hocker“ in der nächsten Saison fortgesetzt wird, dann aber im Opernhaus. Das ist ganz großartig, ich bin schon sehr gespannt und freue mich jetzt schon darauf! Eine Empfehlung: auf jeden Fall hingeben!

 

Achim Riehn

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