Diese Inszenierung der Regisseurin Eva-Maria Höckmayr von „Das Märchen des Zaren Saltan“ von Nikolai Rimski-Korsakow wird mit Sicherheit das Publikum spalten. Wer eine romantisch-verklärte Märcheninszenierung erwartet, der liegt falsch. Dies ist eher ein Märchen im Bauhausstil, heruntergekühlt und reduziert. Einig sein wird man sich darüber, dass dies herrliche Musik ist, dargeboten und gesungen auf beglückend hohem Niveau.
Nikolai Rimski-Korsakow (1844 – 1908) ist einer der bedeutendsten russischen Komponisten. Als Lehrer für Komposition und Instrumentation am Konservatorium St. Petersburg hat er ganze Generationen von Komponisten beeinflusst. Zu seinen Schülern gehörten zum Beispiel Glasunow, Respighi, Prokofjew und Strawinsky. Die Farbenpracht und die geniale Instrumentation seiner Kompositionen sind faszinierend. Fünfzehn Opern hat Rimski-Korsakow komponiert, darunter sind auch einige, die Märchen als Grundlage haben. in Russland gehören diese Opern zum Standardrepertoire, in Deutschland stehen sie in letzter Zeit zum Glück auch häufiger auf dem Spielplan. „Das Märchen vom Zaren Saltan“ ist die erste der Märchenopern aus dem Spätwerk von Rimski-Korsakow. Der Stil ist hier eher rhapsodisch, die Melodien sind schlicht und gesanglich, auf große Dramatik wird verzichtet. Alles ist eng am Text orientiert und gewinnt sein Leben aus der abwechslungsreichen Instrumentierung.
Im Jahr 1899 beauftragte Rimski-Korsakow seinen Freund Wladimir Belski damit, Puschkins in Russland sehr populäre Verserzählung über das Leben des Zaren Saltan in ein Libretto zu verwandeln. Belski orientierte sich eng an Puschkin, erweiterte aber das Libretto auf Wunsch des Komponisten um weitere Figuren. Rimski-Korsakow begann dann parallel zur Fertigstellung des Textes mit der Komposition. Die Uraufführung konnte dann Ende 1900 in Moskau stattfinden.
Der Inhalt der Oper ist ein typisches Märchen. Die Zarin Militrissa fällt einer Intrige ihrer Schwestern und ihrer Base zum Opfer und wird zusammen mit dem gerade geborenen Sohn Gwidon vom Zaren Saltan verstoßen. Beide werden in einem Faß auf dem Meer ausgesetzt. Natürlich geht es gut aus, sie landen unverletzt an einer Insel. Hier rettet Gwidon dann einen Schwan vor einem Angriff. Der Schwan erweist sich als zauberkräftige Schwanenprinzessin und erfüllt Gwidon Wünsche. Eine prächtige Stadt wächst aus dem Boden, zusammen mit ihren Bewohnern. Gwidon wird von ihnen zum Herrscher ernannt. Aber Gwidon hat Sehnsucht nach seinem unbekannten Vater und einer Versöhnung der Familie. Durch die Schwanenprinzessin kann Gwidon als Hummel verwandelt den Palast seines Vaters aufsuchen. Die Erlösung kommt aber erst, als Zar Saltan die geheimnisvolle Insel besucht, von der er so viel gehört hat. Zar und Zarin werden wieder vereint, Gwidon heiratet die Schwanenprinzessin, die sich nun in eine wunderschöne Frau verwandelt hat. Den Schwestern wird verziehen, die böse Base Babaricha entkommt.
Die Musik von Rimski-Korsakow dazu ist außerordentlich farbenreich und abwechslungsreich. Allen Personen sind typische Melodien und Melodiestile zugeordnet. Diese musikalischen Figuren bilden innerhalb der Oper ein komplexes Geflecht, mit ihnen kann auch in den instrumentalen Zwischenspielen sofort eine ganz bestimmte Stimmung herbeigezaubert werden. Die Musik greift verschiedene zeitgenössische Genres populärer Musik auf, es gibt Jahrmarktsmelodien, Kinderlieder, Wiegenlieder, aber auch innige und dramatische Chöre. Viele volkstümliche Lieder wurden in die Komposition eingewoben, was mit Sicherheit zum großen Erfolg der Oper in Russland beigetragen hat. Jeder Akt wird durch eine charakteristische Fanfare eingeleitet, die wie ein Weckruf des Märchenerzählers die Aufmerksamkeit wieder auf das Märchen lenkt. Die Melodie dieser Fanfare singen am Schluss der Oper alle Darsteller gemeinsam und beschließen so das Märchen ganz märchentypisch: „Und mit diesem Hochzeitsschmaus ist das ganze Märchen aus!“.
Schon Puschkins Vorlage aus dem Jahr 1831 ist eine Geschichte über die Macht der Imagination. Gwidon glaubt an das Gute und durch die Kraft seiner Vorstellung erreicht er das Gute. Die Vorlage zeigt eine Gesellschaft, die noch an Wunder glaubt, aber in der das Böse in den Menschen immer gegenwärtig ist. Wie billig ist die Intrige der Schwestern, auf die der Zar hereinfällt, wie unbarmherzig sein Handeln. Wir sind in einer Geschichte, in der das Gute und das Böse unmittelbar nebeneinander stehen. Das kann man als Kritik am zaristischen Regime verstehen. Wenn man an Wunder und an das Gute glaubt, wenn man an die Fantasie glaubt, dann kann man diese Gesellschaft verändern.
Eine Inszenierung steht vor der Aufgabe, diese Geschichte und ihren Inhalt mit unserem Leben heute in Beziehung zu bringen. Eine Möglichkeit wäre, das Märchenhafte zu überhöhen und so die Kontraste noch deutlicher zu machen. Eva-Maria Höckmayr geht aber einen anderen Weg. Sie will offenbar weg vom konkret Märchenhaften, will die Beziehung der Personen herausstellen. Sie reduziert das Märchenhafte, kühlt die Geschichte herunter, verzichtet auf Theaterzauber. In dieser Inszenierung sieht man direkt auf das Skelett der Geschichte. Sie geht weg vom Märchen, hin zu etwas anderem – aber zu was? Hier kann man wirklich darüber streiten, ob das gelungen ist, ob hier nicht zu viel Zauber geschwunden ist. Wenn man nicht auf die Wirkmacht eines Märchens vertraut, dann muss man sie durch etwas Gleichwertiges ersetzen. Es muss sich ein neues, schlüssiges, wirkmächtiges Gesamtbild ergeben. In dieser Inszenierung ist das Märchen auf dem Seziertisch gelandet. Für mich war es die ersten zwei Akte sehr ungewohnt, in der zweiten Hälfte gefiel es mir besser. Ich hatte mich wohl emotional daran gewöhnt.
Die Regisseurin nutzt mehrere Kunstgriffe, um das Märchen neu zu konstruieren. Zu Beginn und zwischendurch wird im Stil eines Märchenerzählers aus dem Originaltext zitiert (mit Übertiteln). Diese Rezitationen gliedern und geben jeweils einen Handlungsüberblick. Es ist aber auch eine Distanzierung: mir als Publikum wird vermittelt, „Achtung, wir sind in einer Märchenerzählung!“. Chor, Sängerinnen und Sänger singen nicht nur, sondern treten auch als Zuhörer auf. Sie sitzen dann am Rand oder in den Sitzreihen in den Seitenbühnen, tauchen nach und nach ins Märchen ein. Das ist wieder eine Distanzierung: wir sehen zu, wie das Märchen auf der Bühne entsteht, wir sehen auf eine Bühne in der Bühne. Es geht in dieser Inszenierung um Erzählen, um Zuschauen, um Zuhören. Auf die politische Dimension der Geschichte und auf die leise Kritik an der Gesellschaft wird nicht tiefer eingegangen.
Ich kann Inszenierungen nur folgen, wenn ich für sie eine Art „Motto“ finden kann. Ich war hier in einem Märchen- und Theatermuseum, in dem Menschen zusammenkommen, einem Märchen lauschen und dann das nachspielen. So hat es für mich funktioniert.
In einer Szene allerdings kommt doch so etwas wie richtige Märchenstimmung auf. Militrissa und Gwidon sollen in einem Fass auf dem Meer ausgesetzt werden. Dazu senkt sich langsam ein Quader aus dem Schnürboden und verschluckt die Beiden. Zur Meerfahrt werden dann Videos auf der Wand dieses Quaders gezeigt, Gwidon und Militrissa im Wasser, mit den Wellen kämpfend, nur schemenhaft zu sehen. Das ist poetisch und überzeugend.
Die Bühne von Julia Rösler trägt dazu bei, das Märchenhafte zurückzufahren. Es ist eine leere Fläche, nur konturiert durch einige Requisiten. Der Zarenthron, ein prächtiges Kleid, Schwanenflügel – ausgestellt wie in einem Theatermuseum. Ab und an fährt eine Art Zimmer aus dem Schnürboden herab, wenn die Szene intimer werden soll. An den Seiten gibt es Tribünen mit Stühlen, auf denen die gerade nicht am Geschehen Beteiligten sitzen.
Die Kostüme von Andy Besuch sind Alltagskleidungen, auch hier nichts von Märchenpracht. Den Hauptfiguren sind dabei bestimmte Farben zugeordnet: Zar und Zarin lindgrün, Schwanenprinzessin weiß und beige, Gwidon blau und gelb. Die bösen Schwestern und die Base allerdings tragen leuchtend rote Kleider und schwarze Perücken, sie stechen aus jeder Szene heraus. Das Böse ist immer sichtbar präsent.
Über die Inszenierung kann man trefflich streiten. Musikalisch aber war das wirklich hervorragend. Wenn so schöne Musik so schön dargeboten wird, dann ist das einfach nur beglückend. Alle Partien waren luxuriös besetzt. Es ist schon erstaunlich, auf was für einem Niveau hier an der Staatsoper Hannover gesungen und auf der Bühne gespielt wird.
Barno Ismatullaeva sang die Zarin Militrissa mit Wärme und glühenden Farben. Das war kein zartes Opfer, das war eine Frau voller Energie. Der strahlende, helle Sopran von Sarah Brady war für mich ideal für die Schwanenprinzessin. Der Kontrast zum Sopran von Barno Ismatulaaeva war für mich jedesmal verblüffend – wie unterschiedlich doch große Sopranstimmen klingen können!
Bassist Pavel Chervinsky versah den Zaren mit tiefen, wohlklingenden Tönen. Der Charakter mochte wohl gebrochen sein, die Stimme war jederzeit voller Energie. Dem klangschönen, lyrischen Tenor von José Simerilla Romero zuzuhören war eine wahre Freude. Das hatte Schmelz, das hatte Glut.
Die böse Base Babaricha hat in Monika Walerowicz ihre ideale Verkörperung gefunden. Die Rolle ist ideal für ihren dramatischen, durchsetzungskräftigen Mezzosopran. Auch die kleineren Rollen überzeugten. Diese Rollen klein zu nennen ist eigentlich falsch, sie haben durchaus eine Menge zu leisten. Beatriz Miranda und Ketevan Chuntishvili sangen die beiden Schwestern mit Bravour. Yannick Spanier (Narr, dritter Seemann), Pawel Brozek (alter Mann, erster Seemann) und Darwin Prakash (Bote, zweiter Seemann) begeisterten jederzeit. Der Chor der Staatsoper Hannover sang ebenfalls ganz großartig.
Das Niedersächsische Staatsorchester unter Dirigent James Hendry spielte feinsinnig, präzise und mit Feuer. Zu Recht bekamen sie am Schluss besonders viel Beifall.
Musikalisch und gesanglich war das ohne jede Frage ein großer Abend, ein Bravo an alle Beteiligten. Der Jubel des ausverkauften Hauses war groß und einhellig.
Über die Inszenierung kann man diskutieren (das macht ja aber auch Spaß). Wenn man es nicht mag, dann kann man mit geschlossenen Augen ein Märchen träumen und einfach nur hören. Für mich ist es aber auf jeden Fall sehenswert. Man sollte allerdings nicht mit der Vorstellung eines „Hänsel und Gretel 2.0“ hineingehen.
Es waren viele Kinder im Publikum, für die könnte diese auf russisch gesungene, abstrakte Inszenierung aber doch eine Überforderung sein. Es ist so wie hier inszeniert eher ein Märchen für kühle Erwachsene.
Achim Riehn