Emmerich Kálmáns Operette „Die Zirkusprinzessin“ ist ein Stück mit schwungvoller Musik und einer vermeintlich heiteren Geschichte (natürlich mit Happy End). Das Publikum hat einen leichten Abend, es kann mitsummen und die Füße wippen lassen. So bliebe es auch, wenn eine Inszenierung nur der Oberfläche eine Politur verschafft.
In dieser Neuinszenierung aber vereinen sich mitreißende Musik, hervorragender Gesang, stimmungsvolle Kostüme und ein kluges Bühnenbild mit einer Inszenierung, die gleichermaßen unterhaltsam wie ernst ist. Eine Komödie verwandelt sich allmählich in eine Tragödie, eine Operette in eine Oper. Regisseur Felix Seiler zeigt in Emmerich Kálmáns „Die Zirkusprinzessin“ auch die düsteren, abgründigen, schrecklichen Seiten hinter der Fassade der Geschichte. Das Publikum bekommt den erwarteten Spaß und viel zum Nachdenken. Und es funktioniert beeindruckend!
Der Ungar Emmerich Kálmán (1882 – 1953) war einer der Komponisten der Silbernen Operettenära. Zu seinen großen Erfolgen zählen „Die Csárdásfürstin“, „Gräfin Mariza“ und „Die Zirkusprinzessin“. Als Jude flüchtete er 1938 aus Österreich, er emigrierte über Paris in die USA. „Die Zirkusprinzessin“ auf ein Libretto von Julius Brammer und Alfred Grünwald wurde 1926 in Wien uraufgeführt und war weltweit ein großer Erfolg. Im Gegensatz zu seinen beiden anderen Erfolgsoperetten steht sie aber in der heutigen Zeit sehr viel seltener auf den Spielplänen.
In der Musik fügt Kálmán ganz unterschiedliche Elemente zusammen. Wir spüren ungarisches Kolorit, Klänge aus wienerischen Welten, hören Einflüsse aus dem amerikanischen Jazz und dem Swing, ein Banjo spielt im Orchester – die Zwanziger Jahre können erspürt werden. Das ist ein ganz wunderbares und abwechslungsreiches Farbenspektrum. Berührende Liebesarien wie „Zwei Märchenaugen“ stehen neben flotten Schlagern im Stil der Zwanziger Jahre wie „Wenn du mich sitzen lässt, fahr ich sofort nach Budapest“.
Hauptperson ist „Mister X“, ein verarmter, desillusionierter Adliger, der im Zirkus auftritt, um sich über Wasser zu halten. Jeden Abend stürzt er sich todesmutig in die Tiefe. Dort trifft er die Frau wieder, die er geliebt hat, eine Frau aus dem Hochadel. Zwei Welten treffen aufeinander, Zirkus und Adel, zwei Welten, die nicht verschiedener sein können. Es kommt, wie es in einer Operette kommen muss: auch die Fürstin Fedora Palinska verliebt sich in Mister X. Aber da ist Prinz Sergius Wladimir, der immer wieder abgewiesene Verehrer der Fürstin. Er will sich durch eine Intrige rächen. Mister X wird als standesgemäßer Prinz ausgegeben, die Fürstin und der falsche Prinz heiraten. Dann lässt Sergius Wladimir vor allen Leuten die Intrige auffliegen: die Fürstin hat einen falschen Prinzen aus dem Zirkus geheiratet, sie ist nur eine blamierte Zirkusprinzessin. So endet der zweite Akt, kein Happyend. Für das Buffo-Paar, den Hotelerben Toni Schlumberger und die Artistin Mabel Gibson, geht es aber gut aus.
Das Happy End für die beiden Hauptpersonen wird im dritten Akt schnell nachgeschoben. Man trifft sich in Wien wieder und alles wird gut. Soweit die Originalgeschichte der Operette.
Insbesondere Mister X ist eine zerrissene Figur, für den gefühlt jeder Tag der letzte sein könnte. Er hat aber noch nicht aufgegeben. Vielleicht ist diese Rolle leicht autobiographisch angefärbt. Kálmáns Vater ging Bankrott, als Kálmán ein Kind war, der Komponist wurde wie Mister X aus seinem Leben gerissen.
Die drei Hauptpersonen der Operette bilden eine Konstellation, die auch aus tragischen Opern bekannt ist, wie z.B. dem „Troubadour“. Da sind die zwei Personen, die sich ineinander verlieben: der junge, verarmte Adlige, der seine Identität versteckt und die junge Frau, eine Frau der höchsten Gesellschaft. Es sind zwei Personen aus zwei Welten. Dazu kommt der mächtige Intrigant, der abgewiesene Verehrer, der diese Beziehung mit allen Mitteln hintertreibt. In der Oper bleiben meist mindestens zwei dieser Personen auf der Strecke. Hinter der leichten Komödie verbirgt sich also eine Geschichte voller Konflikt, Verrat und Tragik. Kann Liebe diese Grenzen überwinden, diese Schranken niederreißen? Darauf muss eine Inszenierung reagieren.
Mit dem neununddreißigjährigen Felix Seiler hat man einen erfahrenen Mann für die Inszenierung gewonnen. Nach einem ersten Job als Regieassistent in Hannover hat er jahrelang mit Barrie Kosky an der Komischen Oper zusammengearbeitet. Kosky hat dort die Operette wieder aus dem Dornröschenschlaf erweckt und sie mit frischem Leben erfüllt. Inzwischen hat auch Felix Seiler – neben Opernproduktionen – mit Operetteninszenierungen auf sich aufmerksam gemacht, wie „Chicago“ in Bremerhaven, „Im weißen Rössl“ in Heidelberg und „Die lustige Witwe“ in Cottbus.
Wie geht Felix Seiler nun an die Geschichte heran? In der Kostprobe zu dieser Inszenierung sagte er es sehr prägnant: Ihn interessiert die Kerngeschichte und die setzt er in dieser Welt des Zirkus um. Herausgearbeitet werden muss, was die Konflikte im Stück sind, die auch heute noch relevant sind. Das Wichtigste aber sei, mit einem liebevollen Auge an das Stück zu gehen und es nicht zu einer hohlen Klamotte werden zu lassen. Die Geschichte wird von Felix Seiler nicht in die Gegenwart gezogen. Es geht um Menschen, die von der Gesellschaft ausgestoßen worden sind, das ist zeitlos. Die „Zirkusprinzessin“ wird als das inszeniert, was sie im Kern ist: ein dunkles Märchen.
Der Zugriff auf das Stück ist aber durchaus rigoros, wenn es aus Sicht von Felix Seiler nötig ist. Für ihn ist der dritte Akt nur eine banale, nicht witzige Auflösung des Stückes, ein angeklebtes Happy End. Seiler lässt ihn weg und ergänzt den zweiten Akt um einen neuen Schluss.
Besonders wichtig ist für den Regisseur aber, dass die Operette ihren Charme behalten behalten muss. Deswegen ist weiterhin die ganze Geschichte da, die ganze zauberhafte Musik. Solistinnen, Solisten und Chor werden begleitet von einem kleinen Musical-Ensemble, das eine weitere leuchtende Farbe in das Geschehen hineinbringt.
Der 1. Akt spielt im Foyer des Zirkus. Der Adel geht in den Zirkus, lässt sich belustigen, mit den armen Menschen dort am Rand der Existenz will er aber nichts zu tun haben. In der Inszenierung wird der Zirkus dargestellt als Gegenwelt zur kalten, geld- und machtgierigen Adelswelt. Ganz konsequent wird das Zelt daher in einer Eislandschaft stehen, der Adel wird prächtigste Pelzmäntel tragen, die Artisten ihre abgetragenen Kostüme.
Die russische Adelswelt war 1926 Vergangenheit, es ist eine untergegangene Gegenwelt. Diese Welt ist eine kalte, von Männern und von Geldgier beherrschte Welt. Man kann ihr nicht durch ein Happy End wie im Märchen entkommen. Entkommen kann man nur durch eine Revolution. Es gibt hier keine realistische Möglichkeit für ein Happy End. Felix Seiler arbeitet diese Konflikte zwischen den Welten heraus, nicht plakativ, wie nebenbei. Ein kalter Hauch legt sich über die bunte, lustige Geschichte. Mister X, der beiden Welt angehört, wird dabei zum tragischen Zentrum. Die Gnadenlosigkeit der aristokratischen Gesellschaft untergräbt allmählich immer stärker die Operettenseligkeit. Aus dem Spiel wird bitterer Ernst. Auch die Fürstin ist in ihrer Rolle gefangen, ausbrechen kann sie nicht. Felix Seiler schafft es, der Geschichte einen Tiefgang zu verleihen, den man nicht erwartet hätte. Er schafft es, indem er einfach genau auf die Geschichte schaut, auf die Abgründe zwischen den Welten, auf die Troubadour-Konstellation.
Wie geht die Inszenierung mit den aus heutiger Sicht recht fragwürdigen Texten um? Der Text von „Die kleinen Mäderln im Trikot“ mit ihren Reimen von fesch auf Spitzenwäsch könnte aus einer Sammlung von Altherrenwitzen stammen. Noch schlimmer ist der Husarenmarsch: „Mädel, gib acht! Schließ dein Fenster heute Nacht. Es kommt der Husar, packt dich mit starken Armen.“ Und natürlich sind die „reizenden, kokett sich immer spreizenden, mit kaltem Herzen lachenden, Blut entfachenden“ Mädchen dann selbst Schuld an ihrer Vergewaltigung.
Felix Seiler findet zwei unterschiedliche Lösungen dafür. „Die kleinen Mäderln im Trikot“ sind der leichten Sphäre der Operette zugeordnet, dem Buffo-Paar. Hier inszeniert er das mit Spott, mit einem eher sanften Blick auf ein spätpubertäres Gehabe. Wenn Toni so von den um ihn herum tanzenden „Mäderln“ schwärmt, dann sieht er nicht, dass einige darunter Männer in Frauenkostümen sind. Und wenn Mabel das Lied später zusammen mit einigen Zirkusmädchen anstimmt, dann ist der Spott nicht zu überhören.
Der Husarenmarsch wird bei Felix Seiler dagegen zur Schlüsselszene, an der die Geschichte unabwendbar ins Tragische kippt. Hier erhebt das Böse, das Frauenverachtende erstmals offen sein Haupt. Die Husaren bedrängen einige Frauen, die sich verzweifelt wehren. Mister X singt als ehemaliger Husar zuerst mit, um seine Tarnung nicht auffliegen zu lassen. Aber dann wendet er sich angewidert von dieser bösartigen, frauenfeindlichen Aristokratenwelt ab und man weiß als Publikum, dass es wohl nicht mehr gut ausgehen kann.
Folgerichtig ist dann ein angeklatsches Happy Ende fragwürdig, das in Blitztempo alle Konflikte auflöst und die Tragik der Geschichte zudeckt. Für Felix Seiler ist im sehr kurzen dritten Akt „die Luft raus“, der ist müde, nicht komisch, enthält eine unbefriedigende Auflösung. Das Regieteam hat sich daher entschieden, das Stück mit einem neu geschriebenen Schluss des zweiten Akts befriedigender enden zu lassen. Die Inszenierung endet mit „Heut‘ Nacht hab ich geträumt von dir“ aus der Operette „Das Veilchen von Montmarte“ von Emmerich Kálmán, gesungen von Mister X. Dann stürzt er sich in den Tod, es gibt kein Happy End. Die Fürstin liegt gebeugt über seiner Leiche, ein trauriger Bohème-Schluss. Wie eine Grabmelodie stimmt sie noch einmal leise „Zwei Märchenaugen“ an. Der riesige Kronleuchter über der Bühne hebt sich dazu in den Himmel, als ob er die Seele von Mister X mitnehmen will.
Das funktioniert überraschend gut. Das ist ein Schluß, der anrührt, der zu Herzen geht. Das Geschehen vorher war so tragisch, dass mir ein Happy End falsch erschienen wäre. Zu bösartig und brutal war die Intrige, zu höhnisch die adelige Gesellschaft, zu groß die Kluft zwischen den Welten. Es konnte keine gemeinsame Zukunft der Liebenden geben.
Bühne und Kostüme von Timo Dentler und Okarina Peter tragen viel zur Stimmigkeit der Inszenierung bei. Die Bühne im 1. Akt ist eine Eiswelt voller Schnee, in der sich in der Mitte das Zirkuszelt erhebt, ein Ort der Wärme. Das Bühnenbild lässt wirklich frieren! Von den Zirkusvorstellungen sieht man nur Schatten im von innen durch einen riesigen Kronleuchter erleuchteten Zelt, wir schauen von außen darauf. Eine durchsichtige Folie, das Zelt, trennt beide Welten auf der Bühne. Drinnen sind die Zirkusleute, draußen die Aristokraten. Das macht einen sehr poetischen Eindruck. Im zweiten Akt wird diese Folie hochgezogen, man ist im Salon der Aristokraten. Das Licht kommt von dem darüber schwebenden, gigantischen Kronleuchter aus Leuchtgirlanden, der zum tragischen Schluss der Operette im Himmel verschwindet.
Die wunderbaren Kostüme betonen die Kluft zwischen Zirkus und Adel, es sind „überhöhte“ Kostüme. Die Zirkusleute tragen abgetragene, fast schäbige Bekleidung, es ist die Arbeitskleidung von Menschen, die wenig Geld haben. Die Gegenwelt ist voller Pracht, fast märchenhaft. Die Aristokraten in prächtigen Pelzmänteln, die Husaren wie aus einer Bolschoi-Inszenierung des Nussknackers, mondän und elegant die Damen. Hinreißend sind auch die vielen Details auf der Bühne, sei es der Schwanenschlitten, mit dem die Fürstin auf die Bühne kommt, sei es der wunderbar linkische Zirkusbär, der Mabel Gibson begleitet.
Auch musikalisch war der Abend großartig. Der Jubel für Sängerinnen und Sänger, Dirigent und Orchester war verdient laut und enthusiastisch.
Mercedes Arcuri als Fürstin Fedora Palinska ist eine Idealbesetzung. Mit ihrer klaren Sopranstimme ist sie eine Operettendiva, wie sie im Buche steht. Jede Melodie wird bei ihr zu einem kleinen Ereignis. Schon zwischen den Szenen gab es viel Applaus für sie.
Marius Pallesen als Gast versah seinen Mister X mit beinahe heldentenoralen Tönen. Das ergab einen interessanten Kontrast zu seiner eher jungenhaft-unschuldigen Gestaltung der Rolle.
Großartig besetzt war auch das Buffo-Paar. Philipp Kapeller verkörperte den spätpubertären Hotelerben Toni Schlumberger mit viel Witz, Wiener Schmäh und heller, beweglicher Stimme. Nikki Treurniets Mabel war stimmlich und darstellerisch eine Pracht. Daniel Eggert schaffte es, die Durchtriebenheit seines Prinzen Sergius Wladimir sängerisch und darstellerisch glaubhaft auf die Bühne zu bringen.
Carmen Fuggiss nutzte ihre kleine Rolle der Hoteldirektorswitwe Carla Schlumberger für ein komödiantisches Glanzstück. Nicht vergessen werden sollen auch die kleinen Rollen des Zirkusdirektors und des Zirkusregisseurs, die durch Frank Schneiders und Pawel Brozek mit Leben erfüllt wurden.
Ganz großartig war auch der von Lorenzo Da Rio einstudierte Chor. Das wunderbar agierende Musicalensemble begeisterte mit Spielwitz und Schwung. So viele Kostümwechsel habe ich selten gesehen!
Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover unter der präzisen Leitung von Maxim Böckelmann bewies sich wieder einmal als kongenialer Begleiter der Sängerinnen und Darstellung. Sinfonische Musik, Walzer, Marsch, Swing, Csárdás – in allen Facetten der Musik spielte das Orchester so, als ob es darin zuhause wäre.
Ich bin sehr davon angetan, wie diese Operette hier inszeniert worden ist. Die dunklen, traurigen Abgründe des Stücks fanden so die perfekte Bühne, genau wie die komischen Elemente. Es wurde wunderbar und lebendig agiert, dazu kam eine Musik, die ungarisches Kolorit und amerikanischen Jazz bezaubernd mischt. Die Zwanziger Jahre wurden lebendig. Ich habe eine Produktion gesehen, die der Geschichte mit ihren tragischen und komischen Aspekten Achtung erweist. Ich habe eine Produktion gesehen, die nicht auf Teufel komm raus aktualisiert. Ich habe eine Produktion gesehen, die sensibel auf fragwürdige Textzeilen reagiert. Nichts wirkt hier ins Lächerliche gezogen. Das ist sehens- und hörenswert und dazu noch viel tiefgründiger als erwartet. Hut ab! Hingehen!
Achim Riehn