Das war ein bezaubernder, berührender und mitreißender Ballettabend! Das Handlungsballett „Hokus & Pokus“ von Jeroen Verbruggen mischt geschickt eine Zeitreise des zauberischen Geschwisterpaars Hokus und Pokus an den Hof von Ludwig XIV. mit magisch anmutenden Elementen, die an Filme wie Harry Potter erinnern. Das riss das Publikum mit, der Applaus war laut und begeistert.
Der Belgier Jeroen Verbruggen (* 1983) lebt in Berlin. Seine tänzerische Ausbildung begann er an der Königlichen Ballettschule in Antwerpen. Jeroen Verbruggen wird als aufstrebender Choreograpie-Star gefeiert und arbeitet sowohl für klassische als auch für zeitgenössische Compagnien.
Ein Handlungsballett, wir haben also eine Geschichte. Die beiden Zauberer-Geschwister Hokus (Conal Francis-Martin) und Pokus (Clàudia Gil Cabús) reisen aus Neugier durch die Zeit. Gemeinsam verkörpern sie den bekannten Zauberspruch und damit die Magie. Das Paar landet am Hof von Ludwig XIV. (Javier Ubell) und wird in eine böse endende Geschichte um Schuld, Reue und Geschlechteridentität verstrickt. Am Hof mit seinen Höflingen treffen sie auf die diverse, rothaarige Quinn (Giada Zanotti), die mit ihrer Gruppe von Außenseitern gegen den König aufbegehrt. Sie begegnen dort auch auf deren Beschützerin Madame La Voisin (Sofie Vervaecke), eine der Hexerei verdächtige Feindin des Königs. Pokus interessiert sich immer mehr für Quinn und ihre Welt. Hokus tötet in rasender Eifersucht seine Schwester und sorgt dafür, das Madame La Voisin als Hexe hingerichtet wird. Als Hokus seine Schuld erkennt und bereut, ist es zu spät, um noch etwas gutmachen zu können. Mit Pokus ist der Zauber zerbrochen, es gibt keinen Weg zurück.
Wir erleben ein Märchen, aber es ist ein dunkles Märchen, es gibt kein Happy End. Wir erleben einen Blick in ein dunkles Zeitalter der Hexerei, in dem es fast nie ein gutes Ende für die Personen gab. „Wer waren diese Personen? Warum haben sie den anderen, insbesondere den Männern in Machtpositionen, so viel Angst gemacht? Ich möchte zum Nachdenken anregen, wie es damals in der Gesellschaft aussah – und teilweise leider immer noch aussieht.“ So beschrieb Jeroen Verbruggen seine Intentionen im Programmheft.
Die live vom Niedersächsischen Staatsorchester unter der Leitung von Stephan Zilias gespielte Musik ist ungewöhnlich und vielseitig. Es sind eher unbekannte, aber hervorragende Stücke – ich würde es toll finden, so etwas auch einmal im Konzert zu hören. Ein Bravo gleich einmal für die Musikauswahl von Jeroen Verbruggen und Arno Lücker! Ganz gegensätzliche Musikstücke bildeten passgenau die verschiedenen Welten der Personen und ihre Gefühle ab. Eine zentrale Rolle spielt das Konzert für Bass Drum und Orchester von Gabriel Prokofiev (Solo: Matti Opiola), das den Sonnenkönig und seine Welt charakterisiert und dessen einzelne Sätze in mehreren Abschnitten des Balletts vorkommen.
Choreograph Jeroen Verbruggen erfindet für diese Geschichte keine neue Tanzsprache, er präsentiert das mit klarem, verständlichen Tanz, mit sehr berührenden und auch fast akrobatischen Elementen. Das ist auch ein Fest für das Auge und präsentiert uns spektakulär-magische Überraschungen.
Geheimnisvolle Kästen fahren aus dem Bühnenboden herab und spucken Dampf aus. Auf diese Wolke wird dann immer die Überschrift des nächsten Abschnitt des Balletts projiziert. Das ganze Werk wirkt so wie eine dunkle Sinfonie mit einzelnen Sätzen.
Die Sinfonietta des Filmmusikkomponisten Franz Waxman begleitet zu Beginn die Reise der Geschwister durch die Jahrhunderte. Mit einem Pas de deux, intim und in sich versunken, beginnt der Abend. Das ist komplexer klassischer Tanz in Vollendung.
Der große Auftritt der Madame La Voisin und ihrer Bewunderer wird vom unheimlichen ersten Satz der 4. Sinfonie von Gloria Coates untermalt. Das ist Musik, die unter die Haut geht. Ein todtrauriger, wie in Zeitlupe vorbeiziehender Choral wird von flirrenden, gleißenden, bedrohlichen Klängen überlagert, zugedeckt, verhüllt. Es ist, als ob man durch ein Kaleidoskop auf den Tod schaut. Der Tanz dazu ist fast genauso unheimlich. Dunkel gekleidete Figuren tanzen in Wellen, tragen und erheben die in ein wunderbares durchsichtiges Kostüm mit schwarzen Skelettandeutungen gehüllte Figur der Madame La Voisin, lassen sie sich in Zeitlupe überschlagen. Es ist, als ob man einer Riesenschlange und ihrem Kopf (Madame La Voisin) zusieht, die sich über die Bühne bewegt. Ganz wunderbar.
Die Szenen am Königshof zum Konzert für Bass Drum und Orchester von Gabriel Prokofiev sind vollkommen anders. Das ist geckenhaft, fast karikierend, das ist gespreizt und posenhaft, das ist prahlerisch. Wunderbar der weiße Mantel des Königs und seine weiße Perücke, mehr Arroganz und gleichzeitig angedeutete Unsicherheit gehen kaum.
Der Tanz von Pokus mit Quinn und ihrer Gruppe von Abtrünnigen ist ein intimer, ein bisschen spielerischer Pas de deux der beiden Hauptpersonen, begleitet vom Ensemble. Dies wird perfekt untermalt von den Klängen des Adagios aus der 11. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Diese Musik ist majestätisch, aber auch irgendwie von bedrohlicher Düsternis durchzogen. Hokus schleicht herein und zu einem emotional-dramatischen Ausbruch der Musik ermordet er seine Schwester. Später verrät er dann Madame La Voisin an den König zu den vordergründig harmonischen Tönen des Adagios aus „In Memory of an Artist“ von Alan Hovhaness.
Ein Höhepunkt für das Auge bietet die Hexenverbrennung der Madame La Voisin. Es werden große Platten auf die Bühne gerollt, die offenbar mit einer speziellen Oberfläche versehen sind. Es glüht, blitzt und leuchtet, wenn diese Platten mit den Sohlen berührt werden. Es ist spektakulär, wenn beim Tanz unter den mit Spezialsohlen versehenen Schuhen Funken aufblitzen wie ein Feuerwerk. Die Bühne glitzert und funkelt, leuchtet grell, beeindruckend!
Ganz besonders poetisch ist der Schluss des Balletts. Hokus bereut, kann aber nichts mehr ungeschehen machen. In einem sanften, ans Herz gehenden Pas de trois wird er von zwei Skeletten zu „One Line, Two Shares“ von Nico Muhly ins Jenseits geleitet. Hokus hat den Tod zweier Menschen zu verantworten, es sind wohl die Geister von Pokus und La Voisin. Sanfte Streichermusik, zu der die Skelette genauso sanft tanzen. Heftige, sekundenkurze Attacken in der Musik, wie Schläge. Jedesmal dazu bekommt Pokus von den Skeletten einen sanften Schlag. Mit jedem dieser Stupser verliert Hokus mehr und mehr die Kontrolle, gibt sich seiner Reue (und den Skeletten) hin. Zum Schluss geleiten sie ihn in das Dunkle des Bühnenhintergrunds. Das war gleichzeitig so unheimlich und anrührend, dass ich fast Tränen in den Augen hatte!
Das Bühnenbild von Jürgen Franz Kirner trägt viel zur Wirkung bei. Stellvertretend für die beiden Welten des Stückes stehen die Optiken von Beton und Holz. Hohle Betonsäulen sind außen mit grünen Graffitis überzogen, innen erinnern sie in ihrer Struktur an Bäume. Menschliche Welt und Natur lassen sich nicht trennen. Der Königshof wird von einer großen wurzelartigen Struktur beherrscht, die sich wie ein Balken über die Säulen legt. „Auch hier greifen Natur und Kultur ineinander: Die mystisch-magische Holzwurzel wird im Laufe der Zeit menschengemacht – wie ein Holzbalken in einem Raum“, so Jürgen Franz Kirner im Programmheft.
Kostümbildner Emmanuel Maria kleidet Tänzerinnen und Tänzer in bezaubernde Kostüme, die passend zum Thema sowohl märchenhafte als auch zeitgenössische Elemente enthalten. Die Kostüme spiegeln dabei die Identität und das Wesen der Person wieder. Hokus und Pokus als Verkörperung des Zaubers tragen Kostüme aus transparenten Stoff, über und über mit Symbolen und Zaubersprüchen überzogen. Die Höflinge tragen zuerst eine Art Verkleidung, die ihr Wesen verhüllt. Erst im zweiten Akt kommt ihre wahres Inneres heraus und es zeigt sich eine vorsichtige, regenbogenfarbige Buntheit. Quinn zeigt diese Buntheit und ihre Andersartigkeit von Anfang an.
Getanzt wurde ganz großartig, da will ich keine Person besonders hervorheben. Das war eine erstklassige Leistung von Solistinnen, Solisten und Ensemble! Getanzt wurde mit so viel Ausdruck, dass man fast die Komplexität des Tanzes dabei vergaß. Alles wirkte einfach selbstverständlich. Es geht wohl kaum besser, wenn die Tänzerinnen und Tänzer so viel Emotionen herüberbringen, dass man die meisterliche Umsetzung der technischen Schwierigkeiten kaum noch bemerkt! Der Jubel des Publikums war verdient!
Erstklassig! Ein kaum enden wollender Beifall des Publikums belohnte auch Orchester und Dirigenten. Das hatte Konzertqualität, das riss mit, das begeisterte. Da wurde mit Herzblut musiziert. Das war keine einfache Begleitung eines Ballettabends, hier wirkte die Musik durch die große Umsetzung auch für sich. Wie schon gesagt: diese Musikstücke (Gloria Coates!) würde ich gern auch einmal in einem Sinfoniekonzert hören.
Mit viel Begeisterung und tosendem Applaus feierte das Publikum zum Schluss das Ballett. Das Publikum war so jung, wie ich es sonst nur von „Hänsel und Gretel“ kenne. Das es wirklich gefallen hat, zeigte sich auch darin, dass es an den leisen Stellen absolut still war. Kein Rascheln, kein Gerede, kein Husten, es war so diszipliniert wie selten. Ein Publikum im Bann einer Vorstellung! Das war ein Abend voller Magie, unheimlicher Poesie und Zauber. Ein wirkliches Highlight!
Text: Achim Riehn