Endlich wieder Bellini an der Staatsoper Hannover! Nach zwanzig Jahren steht im Belcanto-Juwel „I Capuleti e i Montecchi“ das wohl bekannteste Liebespaar der Literatur wieder auf der Opernbühne.
Unter der musikalischen Leitung von Andrea Sanguineti wurde uns hier ein großartiges, begeisterndes musikalisches Ereignis geboten. Ich hörte Gesangsleistungen, die mich zum Staunen brachten. Und was ist das für eine Musik! Es sind unendliche Melodien, es ist Dramatik, es ist Schönheit, die fast schmerzt. Das geht unter die Haut! Die sensible Inszenierung von Michael Talke lenkt davon zum Glück nicht ab, sondern unterstützt Musik und Handlung behutsam.
Der italienische Opernkomponist Vicenzo Bellini starb 1835 im Alter von nur 34 Jahren in Paris. Zusammen mit Rossini und Donizetti bildet er das Dreigestirn der großen Italienischen Opernkomponisten der Zeit vor Verdi. „I Capuleti e i Montecchi“ ist eine seiner frühen Opern, er komponierte sie angeblich in nur sieben Wochen im Jahr 1830.
Die Oper setzt andere Akzente als „Romeo und Julia“ von Shakespeare. Hier geht es nicht primär um die ganze Liebesgeschichte. Wir erleben die letzten vierundzwanzig Stunden von Romeo und Julia mit, die hier Giulietta heißt. Bellini und sein Librettist Felice Romani bezogen sich bei ihrer Arbeit nicht auf das Schauspiel Shakespeares, das zu der Zeit in Italien nicht sehr bekannt war. Sie griffen auf andere Fassungen des Stoffes zurück, die in Italien kursierten. Das Liebespaar bildet den Kristallisationskern der Geschichte, aber hier geht es um einen ausufernden Konflikt zwischen zwei Bürgerkriegsparteien, in den sie verstrickt sind. Alles ist auf den engen Rahmen von Giuliettas Zuhause konzentriert.
Fast folgerichtig ist auch die Zahl der handelnden Personen auf fünf Figuren beschränkt. Neben Giulietta und Romeo sind das Giuliettas Vater Capellio, dessen Parteigänger und potenzieller Schwiegersohn Tebaldo und der zwischen den Bürgerkriegsparteien stehende Lorenzo.
Der Titel der Oper verrät schon, dass der Schwerpunkt hier anders liegt als bei Shakespeare. Es geht um zwei Parteien in einem Bürgerkrieg, die Capuleti und die Montecchi. Die Ursachen für diesen Krieg liegen offenbar weit in der Vergangenheit, es scheint inzwischen ein Krieg aus Prinzip zu sein. Die Stadt wird von den Capuleti gehalten, die Montecchi wollen sie zurückerobern. Das Liebespaar hat in diesem Konflikt keine wirkliche Chance.
Das ist alles realistischer, grausamer und viel gegenwärtiger als die dunkle Romantik bei Shakespeare. In der Vorgeschichte vor dem Bühnengeschehen hat Romeo Giuliettas Bruder getötet, Giulietta ist gefangen im Zwiespalt zwischen ihren Gefühlen für Romeo und den Gefühlen für ihre Familie. Denkt man an die Kriege unserer Gegenwart, so ist das bedrückend aktuell.
Das Libretto verschweigt die Realität nicht, deckt sie nicht mit Romantik zu. Allein die Musik versucht, so etwas wie eine rettende Gegenwelt zu bauen, eine Welt, in der alles in Ordnung sein könnte. Aber auch das macht Bellini nur zeitweise. Wir erleben nicht nur schwelgerischen Schöngesang, die Realität bricht sich auch in der Musik ihre Bahn. Aggressive Kriegstöne treffen auf schwelgerische Melodien, unterlaufen sie, entziehen ihnen den Boden. „I Capuleti e i Montecchi“ ist voller Kontraste, was für mich einen großen Teil der Faszination ausmacht.
Die Handlung der Oper beginnt im ersten Akt damit, dass Giuliettas Vater Capellio den Tod seines Sohnes durch Romeo, Mitglied der verfeindeten Montecchi, betrauert. Capellios Parteigänger Tebaldo und die Capuleti wollen dies rächen. Capellios Tochter Giulietta liebt Romeo dennoch, soll aber nun mit Tebaldo verheiratet werden. Romeo versucht mehrfach, Giulietta zur Flucht zu überreden, aber sie kann sich nicht zwischen ihm und ihrer Familie entscheiden. Erneut entbrennen die Kämpfe.
Zu Beginn des zweiten Akts will Lorenzo, ein Freund Giuliettas, die Liebenden retten. Giulietta soll einen Trank zu sich nehmen, der sie in einen todesähnlichen Schlaf versetzt. Für tot gehalten kann sie aus ihrer Familie entkommen. Nach dem Aufwachen könnten Romeo und Giulietta endlich vereint werden. Romeo und Tebaldo fechten eben ein Duell aus, als sie die Nachricht von Giuliettas Tod erfahren. Romeo vergiftet sich an Giuliettas Bahre, bevor diese wieder zum Leben erwacht. Romeo stirbt in Giuliettas Armen.
Diese Oper ist ein facettenreiches Belcanto-Stück, es ist definitiv keine Komödie. Die Musik ist grundsätzlich anders als zum Beispiel bei Rossini und Donizetti. „I Capuleti e i Montecchi“ erfüllt nicht die Klischees des Belcanto, es ist keine Musik, die den Fokus allein auf die „Auftritte großer Diven“ legt. Diese Oper ist sehr geschlossen, die Musik ist stark an das Erleben der Figuren angebunden. Das ist unfassbar kompakte, unheimlich dichte, unglaublich dramatische Musik, so sagte es Regisseur Michael Talke in der Kostprobe zu dieser Oper. Die Musik versucht aber, dem Realismus der Handlung irgendwie zu entkommen. Sie beschreibt nicht die Realität, in unglaublich schönen Melodien trauert sie um die gezeigte Welt. Bellini hat dazu eine Musik geschrieben, die wundersam zart instrumentiert ist. Es gibt viele Soli im Orchester, herrlich durchsichtige Stellen nur mit Horn, Klarinette, Cello oder Harfe. Melodien wandern aus den Gesangslinien hinein ins Orchester, oft schweigt aber auch die Musik ganz zum Gesang.
Immer wieder bricht aber die brutale Realität in der Musik auf. Voller kriegerischer Marschklänge ist schon die Ouvertüre, diese Aggressivität prägt dann auch gleich die erste Szene mit dem Kriegsgebrüll der Capuleti. Noch bedrohlicher ist später die Banda, die Bühnenmusik hinter der Bühne, wenn die Montecchi in die Stadt einfallen wollen. Das ist kein Belcanto, das ist Musik, die zum Krieg aufhetzt.
Regisseur Michael Talke und Dirigent Andrea Sanguineti waren sich in der Kostprobe einig: Es ist ihre Aufgabe, so eine Belcanto-Oper spannend zu inszenieren. Eine „diven-orientierte“ Inszenierung, die rein die Stimme ins Zentrum stellt, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Wahrheit in und hinter der Musik muss gezeigt werden. Die Inszenierung arbeitet die verschiedenen Aspekte der Oper, Lyrik und Kriegsgeschrei, plastisch und sensibel heraus, ohne den großen Zeigefinger herauszuholen. Damit erzählt diese Oper auch von unserer heutigen Welt.
Bellini stellt Musik zur Verfügung, die dieses so bedrückende Geschehen aushaltbar macht. Die Musik hilft, die Situation zu bewältigen. Die Oper spielt im Krieg, das ist ein sehr aktuelles Thema, die Leidtragenden sind die Menschen. Während der Konzeptionsphase hatten alle den Ukraine-Krieg im Kopf. Die Inszenierung nimmt diese Gegenwart auf. Wir sehen moderne Waffen, die Kostüme von Agathe MacQueen sind an die heutige Zeit angelehnt. Capellio in Uniform mit Orden ist erkennbar ein militärischer Anführer. Lorenzo ist schon durch sein hippieartiges Kostüm als Außenseiter zwischen den Parteien erkennbar. Ab und zu tauchen geisterhaft Statisten in prachtvollen Gewändern in der Szenerie auf, wie eine Heraufbeschwörung einer vergangenen glücklicheren Zeit.
So ein Rückblick findet schon zur Ouvertüre statt. Giuliettas Bruder ist von Romeo getötet worden. Dies wird wie ein traumatischer Flashback in die Handlung auf der Bühne eingebunden. Das Stück ist so auch eine Erinnerungsphantasie von Julia, es ist die Sehnsucht nach einer prachtvollen, friedvollen Vergangenheit, die nicht so zerstört ist wie die Gegenwart. Dieses sich wiederholende Erscheinen der Personen in den prächtigen Kostümen sowie die Wiederholung der Erschießung von Giuliettas Bruder macht uns subtil klar, wie sehr Giulietta noch an ihrer Familie hängt, trotz der Liebe zu Romeo. Die sich ins Bild schiebende Silhouette eines Panzers aber holt immer wieder die kriegerische Gegenwart zurück.
Alles in dieser Oper ist von der Sehnsucht nach einer paradiesischen Welt durchzogen. Die Inszenierung findet dafür ein stimmiges Bild. Immer wieder senken sich Ausschnitte aus einem der Paradiesbilder von Jan Brueghel dem Älteren herab, aber verfremdet, in den Farben überzeichnet. Giulietta ist öfter mit diesem Bild selbst zu sehen, an das sie sich klammert, wie an einen Anker. Sie zerstört es, nachdem sie den Schlaftrunk zu sich genommen hat. Das Paradies ist mit normalen Mitteln nicht mehr zu erreichen.
Giulietta ist eindeutig das Zentrum der Inszenierung. Sie steht zwischen den Parteien, liebt sie beide, innerlich zerrissen. Ihr Konflikt ist nicht lösbar in dieser Kriegssituation. Sie ist die, die handelt. Romeo dagegen ist seiner Rolle verhaftet, aus der er sich nicht lösen kann. Ein Ausweg aus diesem Konflikt ist so nicht zu finden. Mehrmals versucht Romeo, Giulietta zur Flucht zu überreden, vergeblich. Tragisch und komisch zugleich ist eine der Szenen: Romeo packt Giuliettas Sachen für die Flucht in einen Koffer ein, aber Giulietta packt sie permanent wieder aus. Giuliettas und Romeos erste Begegnung auf der Bühne ist so keine Liebesszene, sondern ein Beziehungsstreit. Zu einer Art Liebesduett vereinen sich ihre Stimmen erst im bewegenden Schluss der Oper, wenn Romeo sterbend in den Armen von Giulietta liegt.
Im Libretto gibt es keine Regieanweisung für den Tod Giuliettas. Bei Shakespeare erdolcht sie sich, bei Bellini ist offen, wie sie zu Tode kommt. Die Inszenierung zeigt hier eine radikale Lösung. Giulietta findet nach dem Tod Romeos die Kraft, ihre Familie und damit den kriegerischen Konflikt zu verlassen. Sie nimmt endlich den Koffer und geht.
Das Bühnenbild ist sehr fein auf das Regiekonzept abgestimmt. Der Raum ist ein dunkles Zimmer, offenbar im Hause Giuliettas, teilweise durch den Krieg zerstört. Nach hinten kann der Raum sich öffnen, um den Blick auf eine Häusernachtlandschaft mit einigen erleuchteten Fenstern freizugeben. Helligkeit und hoffnungsvolles Licht gibt es hier nicht. Nur die Ausschnitte aus dem Brueghel-Bild bringen Farbe herein, aber es ist eine übersteigerte, unwirkliche Farbigkeit. Ein großer Bilderrahmen rahmt die Bühne ein. Dieser Bilderrahmen nimmt den Rahmen des Bildes auf, das Giulietta mit sich herumträgt.
Gesanglich erlebte ich an diesem Abend eine absolute Sternstunde. Insbesondere Meredith Wohlgemuth als Giulietta und Nina van Essen als Romeo boten eine Leistung, die einfach nur atemberaubend war. Selten ist zu erleben, wie zwei Stimmen so gut harmonieren. Wir waren Zeugen eines grandiosen Fests der Stimmen. Beide sangen und spielten ihre Rollen nicht, sie lebten sie. Ich kann davor nur ehrerbietig auf die Knie gehen!
Meredith Wohlgemuth steht fast die ganze Zeit auf der Bühne. Die Sopranistin ist neu im Ensemble der Staatsoper Hannover, eindeutig ein Gewinn, ein Glücksfall. Sehr anrührend gestaltete sie ihre Rolle, sensibel und verletzlich. Ihre Stimme ist ein klarer, ganz rein geführter Sopran mit wunderbarer Färbung. Die Spitzentöne kamen bombensicher, die lyrischen Passagen gelangen ganz wunderbar. Besser geht es kaum!
Eine perfekte Partnerin war ihr die Mezzosopranistin Nina van Essen als Romeo. Zu einer bezwingenden Darstellung kam eine wirklich beeindruckende Stimme, voller Wärme, Kraft und Entschiedenheit. Jeder Wechsel zwischen den Höhen und den Tiefen saß perfekt. So viel Emotion in jedem Ton war atemberaubend. Nina van Essen ist eindeutig auf dem Weg ins dramatische Fach und ich bin gespannt auf ihre weitere Entwicklung.
Marco Lee als Tebaldo gefiel mir ebenfalls sehr. Seine Stimme ist eine reine Tenorstimme voller Glanz, prachtvoll im Ausdruck. Ganz großartig gestalteten sich so die Duette mit dem warmen Mezzo von Nina van Essen, Silber traf auf Gold.
Daniel Eggert als Capellio und Markus Suihkonen als Lorenzo gestalteten ihre beiden kleineren Basspartien ebenfalls hervorragend. Ich finde es immer wieder faszinierend, wie unterschiedlich in Färbung und Ausdruck Bässe sein können.
Ebenfalls großartig sang und agierte der Herrenchor in der Einstudierung von Lorenzo Da Rio. Man musste fast Angst haben, dass dieser prachtvoll singende kriegerische Haufen die Auseinandersetzungen in den Zuschauerraum hineintragen könnte. Der Chor sang in einer kleineren Besetzung, weil ein Drittel der Mitglieder mit Erkältungen ausgefallen war, der Wirkung tat das keinen Abbruch. Bravo!
Das Niedersächsische Staatsorchester unter Dirigent Andrea Sanguineti spielte ebenfalls hervorragend und voller Spielfreude, druckvoll und aggressiv in den kriegerischen Passagen, anrührend zart in den lyrischen Passagen. Wunderschöne Soli waren zu hören, insbesondere von Klarinette, Cello oder Harfe. Hervorgehoben werden muss auch die druckvolle Bühnenmusik, geleitet von Francesco Greco.
Dieser Abend hat mich wirklich begeistert. Zu einer gesanglichen Sternstunde kam eine Inszenierung, die die Musik wirksam unterstützte und die Geschichte in die Gegenwart holte. Der Beifall aus dem fast ausverkauften Haus war groß, lang anhaltend und verdient enthusiastisch. Wer sich das nicht anhört, der ist kein wahrer Opernfreund, ich muss es so deutlich sagen. Und wer sich das anhört, der kann später seinen Enkeln sagen „Ich war dabei!“ Unbedingt hingehen! Und zum Schluß eine ganz drängende Frage: Wann gibt es den nächsten Bellini an der Staatsoper Hannover??