Ein Musical, dazu noch eine Uraufführung! Alles ganz neu! Kann es für einen Liebhaber des Musiktheaters ein schöneres Vorweihnachtsgeschenk geben? Ödön von Horváths Theaterklassiker aus dem Jahre 1932 verwandelt sich hier zu einer melancholischen und glamourösen Musical-Oper. Das ist wunderbare Unterhaltung mit Tiefgang und mit Musik in Ohrwurm-Qualität. Aus dem Klassiker ist eine bittersüße Reise in die Nacht geworden, ein glitzernder Edelstein, mitreißend, herzbewegend, erstaunlich aktuell.
Das Musical „Kasimir und Karoline“ ist ein Auftragswerk für die Staatsoper Hannover. Das Libretto ist von Martin G. Berger (der auch Regie führt) und Martin Mutschler, die Musik von Jherek Bischoff. Es ist keine federleichte, harmlose Geschichte, die da auf die Bühne gebracht wird. Es geht um das Ende einer Liebe, es geht um eine Liebe, die an der Gegenwart scheitert.
Horváth hat sein Stück mit der Regieanweisung versehen, dass es „in unserer Zeit“ zu spielen hat. Das wird in diesem Musical behutsam beim Wort genommen. Ein paar Änderungen in den Biographien der Personen, ein stylischer Club neben dem Oktoberfest, schon passt es. Der Stoff wirkt so wie von heute, 1932 ist sofort ganz gegenwärtig. Manche Geschichten ändern sich eben nie, damals wie heute regiert das Geld und die Chancen sind ungleich und unfassbar ungerecht verteilt. Die Gegenwart mit ihren Krisen bringt uns, so Martin G. Berger, diese Stücke aus dem Ende der Weimarer Republik, diese Stücke von Brecht und Horváth, wieder näher.
Das Musical ist in den letzten zwei Jahren entstanden. Die Wahl von Martin G. Berger fiel auf diese Vorlage, weil Horváth viel unausgesprochen lässt, so Berger in der sehr informativen Kostprobe zu dieser Produktion. Das Musical erlaubt es, in diese manchmal sprachlosen Menschen hineinzuschauen, es zeigt in Musik, was sie aussprechen würden. Horváth lässt Raum für Musik, er schaut den Menschen „aufs Maul“, so Berger. Das Stück ist „niederschwellig und doch anspruchsvoll“. Die Texte, insbesondere die Sprechtexte von Horvárth, sind zum großen Teil in dieses Musical übernommen worden. Nur in den Songs haben sich die Autoren größere Freiheiten gegenüber dem Originaltext erlaubt.
Dazu sind die Themen der Vorlage auch heute noch brennend aktuell: Was verspricht uns der Kapitalismus und was macht das mit den Menschen? In dem Stück und im Musical machen Menschen Party, während sie über ihre Lebenssituation nachdenken. Wir tauchen mit ihnen ab in die Nacht, aber das ist kein sicherer Ort mehr, die Probleme folgen uns nach, die Ungleichheiten folgen uns nach. Das Gift der Realität sickert hinein ins Vergnügen.
Die Musik dazu hat Jherek Bischoff komponiert, der in ganz verschiedenen Genres zuhause ist. Er schreibt Sinfonik, aber auch Popmusik und Musik für Netflix-Serien. Seine musikalischen Inspirationen holt er aus seiner ganzen Umwelt, wie er in der Kostprobe erzählte. Während der Komposition war er auch auf Sizilien, den Klang der Kirchenglocken da hat er sofort in die Musik aufgenommen. Zu Beginn des Musicals ist dies ganz deutlich zu hören. Zwei Klimaanlagen in München brummten in einem Akkord, auch solche Klänge fanden ihren Weg in die Musik.
Die für „Kasimir und Karoline“ entstandene Musik ist eine Mischung aus elektronischen Elementen und Orchester, das harmoniert überraschend gut zusammen und passt perfekt zu der Club-Atmosphäre, die das Stück prägt. Viele Musikstile vereinen sich zu einem Ganzen. Das ist Musik, die unter die Haut geht. Das ist glamourös, modern, wunderbar eingängig, Gänsehautmusik. Das hat Ohrwurm-Qualität! Es gibt mitreißende Chorpassagen, Techno-Beats mischen sich mit großen Orchesterklängen, Oper, Disco und Musical vereinen sich. Die Musik bildet so einen ganzen Kosmos ab, ist immer erfüllt von Romantik, von unterschwelligem Feuer, auch von Düsternis.
Martin G. Berger sagte in der Kostprobe, dass wohl kein deutscher Komponist diese Musik zu diesem Stück hätte komponieren können. Die amerikanische Sicht macht es so faszinierend, es ist, „als ob ein Alien auf dieses Stück schaut“. Es zeigt so den amerikanischen Blick auf die deutsche Seele. „Kein Deutscher wäre jemals auf die Idee gekommen, diese Musik zu diesem Stück zu schreiben“. Das stimmt, kaum ein Deutscher von heute wäre zu solch melancholischer Romantik fähig!
Die Personen auf der Bühne wecken sofort unser Interesse. „Manchmal sind wir zu schwer füreinander“, das sagt Karoline zu Kasimir. Wahrer und trauriger lässt sich die Handlung nicht zusammenfassen. Zwei Menschen lieben sich und werden auseinandergerissen. Genauer gesagt reißen sie sich selbst auseinander. Das ist schade, denn eigentlich passen sie toll zusammen. Aber Karoline (Sophia Euskirchen) will gesellschaftlich nach oben, Kasimir (Dejan Bućin) driftet nach unten ab. Zu Beginn trennen sich Kasimir und Karoline, nachdem Kasimir seinen Job in der Autowerkstatt verloren hat. Ihm droht nun wegen seiner Arbeitslosigkeit die Abschiebung. Heraus aus ihrem Leben will Karoline. Sie findet keine Erfüllung in ihrem Beruf als Friseuse und träumt vom sozialen Aufstieg. Kasimir und Karoline lassen sich in dieser Nacht durch die Clubs treiben. Karoline trifft auf mehrere Männer, die ihr eine bessere Zukunft versprechen, den Studenten Eugen Schürzinger (Philipp Kapeller), den Universitätsdekan Speer (Daniel Eggert) und den Industriellen Rauch (Frank Schneiders). Kasimir wiederum lässt sich mit einem kleinkriminellen Pärchen ein, mit Erna (Ketevan Chuntishvili) und Franz (Yannick Spanier), der am Schluss erschossen wird. Kasimir und Karoline treffen sich in dieser Nacht immer wieder, aber schaffen es nicht, zusammenzubleiben. Kasimir und Karoline „wären das perfekte Paar, wenn die Welt ringsum nicht wäre“. So singt es Juanita (Drew Sarich), eine androgyne, bunte Drag-Queen, die durch die Geschichte führt. Die Träume von Karoline platzen, jedenfalls in dieser Nacht. Kasimir und Erna nähern sich an.
Eine Beziehung scheitert an einer geldgetriebenen Gesellschaft, Menschen füllen die Leere in sich dadurch, dass sie Party machen. Martin G. Berger versetzt das vom Oktoberfest des Jahres 1932 in die Clubwelt von heute. Das ist nicht so weit auseinander, wie man denken könnte, die Gefühle haben sich nicht geändert, nur die dazu erklingende Musik. Die Inszenierung ist so auf den Punkt aktuell und gegenwärtig. Menschen feiern, betäuben sich mit Alkohol, so wie immer. Zum Schluß träumt und singt Erna von der Revolution, auf die sie wartet. Juanita wirft ein bißchen glitzerndes Konfetti in die Höhe, das Licht erlischt, das Stück ist vorbei. Das Träumen von der Revolution, das ist nur aufs Leben gestreutes Konfetti, es wird sich nichts ändern.
Bei Horváth spielt der Zeppelin eine wichtige Rolle. Auch das holt die Inszenierung überzeugend in die Gegenwart. Hier ist der Zeppelin das Symbol für eine bessere Zukunft. Mit ihm können sich die Personen auf der Bühne in eine Traumwelt davontragen lassen. Traum oder Droge, die Bilder auf der Bühne lassen es offen.
Das Bühnenbild von Sarah-Katharina Karl bildet diese Partysituation kongenial ab. Auf der Drehbühne sehen wir eine Art Haus, einen durch Glühbirnen illuminierten Kubus mit vielen Fenstern, einen Nachtclub. Mit seinen glitzernden Farben erleuchtet er die Nacht. Durch die Fenster können wir die Menschen sehen, die da feiern. Später klappt dieser Kasten auf, eine Art Schautreppe für Juanita enthüllt sich. Im zweiten Akt ist aus diesem Kasten so etwas wie ein Rummelplatz geworden, ein Karussell ist zu sehen. Ein Autoscooter fährt spektakulär von oben herab, auf dem Karoline und Rauch zur nächsten Party weiterziehen wollen. Wer Höhenangst hat, der schaue hier lieber nicht hin.
Mit einer Body-Cam wird ganz nah an die Menschen in diesem Würfel herangegangen, ihre Emotionen und Reaktionen werden so aus diesem Haus auf einer Videowand abgebildet. Wir im Zuschauerraum sind den Personen auf der Bühne fern und so doch ganz nah. Wir feiern die Party mit. Im zweiten Akt gibt es diese Bilder nicht mehr. Die Nacht nähert sich ihrem Ende, der Tanz ist vorbei.
Die Partyatmosphäre wird durch die Kostüme von Esther Bialas bezwingend hervorgehoben. Statisten und Chor erscheinen als eine bunte Masse, als Dragqueens, als Partyvolk im Fetisch-Outfit. Das passt in die dunkle Nachtstimmung dieses Musicals. Die Hauptpersonen sind eher konventionell gekleidet und heben sich so ab. Juanita allerdings sticht aus allen hervor, oft in leuchtendem Pink, eine Sonne der Nacht, um die alles kreist.
Die Musik ist in der Umsetzung eine Herausforderung, da es nicht leicht ist, eingespielte elektronische Musik mit der Livemusik des Orchesters zu koordinieren. Auf der Bühne sind bis zu 100 Mikrofone im Einsatz, die koordiniert werden müssen. Aber das klappte. Maxim Böckelmann dirigierte das präzise und mit Energie, das Niedersächsische Staatsorchester war mit Begeisterung, musikalischer Klasse und herrlich warmen Klang dabei.
Das Stück ist mit Gästen aus dem Musical-Bereich und Ensemblemitgliedern hervorragend besetzt. Juanita ist der heimliche Mittelpunkt des Stücks. Der US-Amerikaner Drew Sarich, ein Star der Musicalszene, überzeugte in jeder Szene. Enorme Bühnenpräsenz kam zusammen mit einer Stimme, die den Anforderungen der Partie bravourös gewachsen war. Das war große Klasse!
Auch das Titelpaar ist mit Gästen besetzt. Sophia Euskirchen spielte und sang die Karoline sehr anrührend, als Mensch auf der Suche nach Glück. Dejan Bucin stand ihr als Kasimir in nichts nach. Man hörte den Beiden zu und wünschte sich, dass sie endlich zusammenfinden und zusammenbleiben. Jherek Bischoff hat ihnen zu Herzen gehende „Arien“ geschrieben.
Philipp Kapeller spielte den Egon Schürzinger mit einer Tapsigkeit, die sofort unser Herz gewann. Seine klare und bewegliche Tenorstimme war für diese benahe operettenselige Rolle wunderbar geeignet. Hoch hinaus muss die Stimme, Komödiantentum erfordert die Rolle: da ist man bei Philipp Kapeller genau richtig!
Großartig auch Yannick Spanier mit machtvollem Bass als bedrohlich-übergriffiger Franz. Er stand hauptsächlich als Schauspieler auf der Bühne und machte auch das hervorragend. Ketevan Chuntishvili als sympathische Erna überzeugte auf ganzer Linie mit kraftvoll leuchtendem Sopran und einer sehr anrührenden schauspielerischen Leistung. Beide zeigten, dass gute Opernsängerinnen und -sänger auch perfekt Musical singen und spielen können.
Frank Schneiders und Daniel Eggert als Rauch und Speer machten das Vergnügen mit viel Stimme, Witz und Schleimigkeit dann komplett, ebenso wie Barbara Carta und Tamar Sharon Hufschmidt als leichte Partymädchen.
Hervorgehoben werden muss der phantastisch singende und spielende Chor (Leitung Lorenzo Da Rio), das riß mit, das war toll. Wegen einer Welle von Erkältungen stand er in kleinerer Besetzung auf der Bühne und wurde von der Seitenbühne gesanglich unterstützt. Der Wirkung tat das keinen Abbruch. Die Statisterie als Partyvolk agierte ebenfalls großartig. Da wirkten die Body-Cam-Aufnahmen aus dem Club wie aus dem echten Leben!
Es ist allein schon wunderbar, dass die Staatsoper Hannover das Musicalgenre mit einem neuen Werk bereichert hat. Um so wunderbarer ist es, wenn das so gut gelingt wie hier. Der große Jubel des Publikums ist voll verdient. „Kasimir und Karoline“ gelingt es, in der Form eines Musicals ein Spiegelbild der Gesellschaft auf die Bühne zu bringen. Das war ein Abend mit Gänsehautmomenten, mit bewegenden Szenen, mit toller Musik, tollen Darstellerinnen und Darstellern. Das kann etwas für alle Musikliebhaber werden. Danke dafür!
Achim Riehn