Regisseurin Elisabeth Stöppler inszeniert das Requiem von Verdi an der Staatsoper Hannover als Oper und verwandelt es in eine emotionale Reise in die Trauer, aber auch in den Trost.
Giuseppe Verdi schrieb seine „Messa da Requiem“ im Jahr 1874, als er sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere als Opernkomponist befand. Diese Totenmesse ist ein groß angelegtes Werk voller musikalischer Wucht, zu der Chor und vier Solistinnen und Solisten beitragen. Verzweiflung und Trauer mischen sich mit Aufschreien des ganzen musikalischen Apparats, aber auch mit zarten und tröstenden Passagen.
Halb im Scherz wird das Werk oft als „Verdis beste Oper“ bezeichnet. Verdi vertonte den ehrwürdigen Text der Totenmesse der katholischen Liturgie, der die Schrecken des Todes genauso wie die Hoffnung auf Erlösung ausmalt.
Eine Woche vor der Premiere gab es für GFO-Mitglieder einen ganz wunderbaren Probenbesuch, in dem Dramaturg Daniel Menne und Dirigent James Hendry uns tiefe Einblicke in die Produktion gaben. Die GFO hat diese Produktion gefördert. Allein solche Einblicke sind schon die Mitgliedschaft wert! Das Stück ist ein Requiem, eine Totenmesse, eigentlich für einen Gottesdienst gedacht. Verdi hat es so konzipiert, dass es auch wunderbar als Konzert aufgeführt werden kann. Aber ist das Stück für die Bühne geeignet? James Hendry sagte, dass dieses Requiem musikalisch wie eine Oper gestaltet ist. Für ihn „drängt die Musik zur Szene hin“. Es fehlt eine Handlung, es ist eben keine Oper – aber das eröffnet eine große Freiheit. Allerdings ist es ein Requiem, der religiöse Hintergrund muss erhalten bleiben.
Regisseurin Elisabeth Stöppler ist für das hannoversche Opernpublikum keine Unbekannte. Wir erinnern uns gern an die großartige szenische Umsetzung des Händel-Oratoriums „Trionfo“ während der Corona-Zeit und an die faszinierende Inszenierung von Boitos „Mefistofele“. Mit dem Verdi-Requiem schreibt sie die Themen dieser beiden Werke fort. Für mich ist nun ein Triptychon über die Vergänglichkeit und die letzten Fragen des Lebens entstanden.
Wie trauert man heute, wenn die Religion in den Hintergrund gerückt ist? Wie findet man gemeinsam Trost? Wie gewinnt man in der Trauer wieder Kraft und wie kommt man wieder zurück zum Bejahen des Lebens? Das sind die Fragen, die in dieser Inszenierung angesprochen werden.
Elisabeth Stöppler verlegt die Handlung in ein leeres, schon ziemlich verfallen aussehendes Eishockeystadion, ein wunderbares Bühnenbild von Katja Haß. Hier waren schon lange keine Menschen mehr. Die Tribüne bildet einen Halbkreis um eine leere Fläche in der Mitte und setzt sich an den Seiten bis an den Zuschauerraum fort. Wir Zuschauer bilden die zweite Hälfte dieses Stadions, wir sind unmittelbar in diese Trauerveranstaltung einbezogen.
Langsam kommen die Menschen (Chor, Solistinnen, Solisten) zu Beginn herein, in der Stille, suchen ihren Platz. Sie tragen die Bilder von Verstorbenen bei sich. Es ist eine Gedenkfeier, an einem Ort für alle. Es ist ein weltlicher Raum, kein sakraler Raum. Menschen aller Glaubensrichtungen können an dieser Allerseelenfeier teilnehmen. Hier kommen sie einfach zusammen, um gemeinsam zu trauern. Sie tragen heutige Kostüme (toll gestaltet von Gesine Völlm), es ist ein Querschnitt durch unsere Gesellschaft. Es ist, „als ob man die Menschen vom Opernplatz auf die Bühne geholt hätte“, so Daniel Menne im Probengespräch sehr treffend. Im Verlauf des Stücks kommen alle sich näher, interagieren miteinander, bilden eine einander Trost gebende Gemeinschaft. Sie trauern, erinnern sich, ab und zu überkommt sie wie ein Blitz die Erkenntnis, das sie alle sterblich sind. Die Szene nimmt die Emotionalität der Musik auf und verwandelt sie in mit Gefühlen aufgeladene Bilder. Allmählich wandelt sich dann diese Trauerfeier vorsichtig in eine Feier des Lebens.
Die Lichtregie von Elana Siberski unterstützt das sehr sensibel. Mal bricht über uns alle, Bühne wie Zuschauerraum, gleißendes Licht wie ein Flutlicht herein, mal sind auf der Bühne nur Umrisse der Personen zu sehen. Mal sind wir alle zusammen mit unseren Gefühlen, mal sehen wir hinein in etwas wie eine jenseitige Zwischenwelt.
Die Solistinnen und Solisten sind Teil dieser trauernden Menschen. Sie agieren in der Inszenierung als Stellvertreterinnen und Stellvertreter für die Trauergemeinde. Sie visualisieren die vielen Gefühle, sie zeigen vier Reaktionen auf das Thema Tod. Grundlage dafür war die Musik Verdis, die den Solopartien jeweils einen ganz individuellen Charakter gegeben hat. Jeder der vier Partien ist dabei eine eigene Farbe zugeordnet: Goldgelb für die Sopranistin (Barno Ismatullaeva), Blau für die Altistin (Monika Walerowicz), Schwarz für den Bass (Shavleg Armasi), Weißsilber für den Tenor (José Simerilla Romero). Die Farben zeigen es schon deutlich: wir haben vier ganz unterschiedliche Persönlichkeiten vor uns. Der Tenor ist ein Freigeist, er lebt in der Gegenwart, verdrängt den Gedanken an den Tod. Der Bass hat eine Krankheit, wohl Demenz, der Tod ist für ihn etwas Nahes, etwas Gegenwärtiges. Die Altistin ist eine Diakonissin, arbeitet in der Sterbebegleitung, sie hat ihre Zwillingsschwester in der Kindheit verloren. Die Sopranistin ist Sängerin, ihre Haltung ist situationsabhängig. Friede, Verzweiflung, alles ist da bei ihr. Eine reine Sprechrolle „X“ (Heinrich Horwitz) ergänzt diese vier Personen um weitere Eigenschaften und Merkmale: divers, ohne Musik, in Rot, nur in der Gegenwart lebend. „X“ steht für uns alle im Zuschauerraum, die dieser Trauerfeier beiwohnen. „X“ verlässt dann den Rahmen der Musik, beginnt zu sprechen, löst den anderen Hauptpersonen die Zunge.
Um die Biografien und die Hintergründe der fünf Personen auszuarbeiten, sind für sie Sprechtexte zwischen die Requiemteile nach dem Lacrimosa eingefügt worden. Diese Texte von Martin Mutschler zeigen, wie unterschiedlich diese Menschen mit Tod, Trauer und Verlust umgehen. Sie wurden für die Solistinnen und Solisten in deren jeweilige Muttersprache übersetzt, wir hören sie also auf Usbekisch, Polnisch, Georgisch und Spanisch (mit Übertiteln, so wie bei den lateinischen Texten der Messa). „X“ redet in Deutsch, seiner Muttersprache. Als einzige Person geht sie unbefangen mit der Vorstellung des eigenen Sterbens um.
Texte in einem Requiem – in der Kirche hätten wir die Predigt, wir hätten Lesungen aus dem Evangelium zwischen den Musikteilen. Verdis Requiem kennen wir aber nur aus dem Konzertsaal, deswegen ist das ungewohnt. Wie immer kann man heftig darüber streiten, ob das eine Bereicherung oder eine Störung ist. Es ist auf jeden Fall eine Erschütterung des Erwarteten.
„Die Liturgie stoppt und die Menschen suchen ihren ureigenen, individuellen Ton“, das sagte Elisabeth Stöppler dazu im Programmheft. Die Zwischentexte lenkten den Fokus weg vom reinem Musikgenuss auf den Umgang mit der Trauer. Das ist ja eigentlich auch der Zweck eines Requiems. Die Texte unterbrachen aber auch den emotionalen Spannungsbogen der Musik. Vielleicht wäre die Wirkung größer gewesen, wenn die Texte kürzer und mehr auf das rein Biografische beschränkt gewesen wären. Die Personenzeichnung war für mich sogar so klar, dass es der Zusatztexte eigentlich kaum bedurft hätte. Das Requiem hat keine Handlung, da hatten diese Einfügungen allerdings einen Vorteil: sie motivierten den Fortgang des Geschehens auf der Bühne.
James Hendry, Erster Kapellmeister an der Staatsoper Hannover, sagte bei unserem Probenbesuch, dass es für alle zuerst sehr fremd war, dies auf einmal als Stück auf die Bühne zu bringen, mit Bewegung, mit Aktionen. Die Musik musste auch auswendig gelernt werden! Alle waren es gewöhnt, dies als Konzert zu spielen, mit Noten und Text vor sich. Aber dieser Abend zeigte, es gelang wunderbar! Aktion auf der Bühne, Gesang, perfekt!
James Hendry leitete das Orchester und die Chormitglieder, Solistinnen und Solisten sicher, klar und einfühlsam durch den Abend. Wie aus dem Nichts der Beginn des Requiems, von elementarer Wucht das „Dies irae“, ganz zart die lyrischen Stellen. Eine große Leistung des Orchesters!
Der Chor (Chorleitung Lorenzo Da Rio) hat die wichtigste Rolle und die füllte er vortrefflich aus. Die lyrischen genauso wie die dramatischen Stellen gelangen erstklassig. Das „Dies irae“ drückte mich wie eine Naturgewalt in den Sessel. Das war ein Elementarereignis, eine Himmelsmacht, überwältigend laut, ohne in Geschrei zu verfallen. Bravo!
Über die vier Solistinnen und Solisten kann ich nur Gutes schreiben. Mit glutvollem, leuchtendem Sopran bildete Barno Ismatullaeva alle Facetten ihrer Rolle ab, vom Todesgrauen bis hin zu Trotz, von Drama bis hin zu Lyrik. Der kraftvolle Alt von Monika Walerowicz war perfekt geeignet für die Anforderungen ihrer Rolle. Energie, Durchschlagskraft und wunderbare Farben kamen hier zusammen. Mitreißend auch Shavleg Armasi in der Bassrolle. Dunkel, voller Emotionen in jedem Ton, eine großartige Rollengestaltung. Auch José Simerilla Romero nahm man das eher Leichtlebige seiner Rolle in jedem Moment ab. Lyrisch und fein seine Stimme, manchmal fast silbern, aber trotzdem immer durchsetzungsfähig.
Heinrich Horwitz verkörperte „X“ mit Zartheit, etwas Verrücktheit, chaotisch sympathisch – wie wir Menschen ja eigentlich alle sind. Die Kinderstatisten dürfen nicht vergessen werden, ein kleiner, aber wichtiger Bestandteil der Trauergemeinde. Die Souffleuse, Karin Seinsche, war witzig in die Bühnengemeinschaft integriert, immer wieder war sie mit ihrem Textbuch unter den Menschen auf der Bühne zu sehen.
Das war ein anrührender Abend! Die musikalische Qualität war herausragend und hätte an sich keiner unterstützenden Inszenierung bedurft. Aber die Inszenierung schaffte etwas Überraschendes. Ich habe das Requiem oft gehört, es ist beeindruckend und berührend, aber die Haupteindrücke für mich waren bisher „ehrwürdig“ und „majestätisch“. Ich hatte nicht erwartet, dass mich die Emotionen dieser Musik so überrollen würden, jedenfalls im zwischentextlosen ersten Teil. Das geht vielleicht wirklich nur, wenn zur Musik Bilder dazukommen. Aber das müssen eben überzeugende Bilder sein!
Natürlich ist der Abend kontrovers. Man kann diese Art der Neuinterpretation eines Requiems auch vollkommen ablehnen. Aber selbst in diesem Fall würde die grandiose Umsetzung der Musik lange im Gedächtnis bleiben.
Achim Riehn