Mit der Oper „Satyagraha“ des Komponisten Philip Glass begann die neue Spielzeit an der Staatsoper Hannover. Hypnotische Musik, faszinierend gestaltete Szenen und bravouröse musikalische Leistungen fügten sich zu einem bejubelten Abend zusammen. Das war ein phantastisches, bewegendes, begeisterndes Ereignis! Die Standing Ovations des fast ausverkauften Hauses wollten nicht enden. Regie bei diesem Ereignis führte der US-amerikanische Regisseur Daniel Kramer, der hier vor zwei Jahren „Nixon in China“ in einer sehr farbenprächtigen, witzig-phantasievollen Inszenierung auf die Bühne gebracht hat.
Wie mit Ungerechtigkeit in der Gesellschaft umgehen? Mahatma Gandhi fand dazu als junger Mann in Südafrika einen Weg: „Satyagraha“, das Festhalten an der Wahrheit als wirksamstes Mittel im Kampf gegen Ungerechtigkeit. „Satyagraha“, das ist das Überzeugen mit friedlichen Mitteln, mit gewaltfreien Widerstand. Über diese Thematik hat Philip Glass seine bewegende Choroper „Satyagraha“ komponiert, in der uns Musik in Trance versetzt und uns zu Texten aus dem Bhagavadgita-Epos in andere Bewusstseinszustände führt. Die dreiaktige Oper entstand Ende der 1970er als Auftragswerk der Stadt Rotterdam. Diese „große Oper der Minimal Music“ zeichnet die Entwicklung Gandhis in seiner Zeit als Anwalt in Südafrika nach, in der dieser die Konzepte des gewaltfreien Widerstands entwickelte.
„Satyagraha“ basiert nicht auf einem eigens für diese Oper geschriebenen Libretto, sondern hat als Text Ausschnitte aus dem Versepos Bhagavadgita, der bedeutendsten Schrift des Hinduismus. Das allein schon hebt die Oper aus der Sphäre herkömmlicher Opern heraus. Es geht nicht um Handlung, es geht um moralische und philosophische Werte, um Grundeinstellungen zum Leben. Diese Oper ist mehr als Unterhaltung, sie ist eher ein Mysterienspiel, ein philosophisches Ritual.
„Satyagraha“ war die erste Oper von Philip Glass für klassisches Orchester. Die Musik ist von großer Meisterschaft. Mit minimalen Mitteln wird größter Eindruck erzielt. „Die Mittel sind minimal, die Wirkung ist maximal“, so GMD Stephan Zilias nach einem Probenbesuch. Es gibt in dieser Oper weder Blechbläser noch Schlagwerk. Es ist eine ganz eigene Klangsprache, die Glass hier gewählt hat. Sich ständig wiederholende Tonleitern, jeweils minimal verändert, es entsteht eine so unglaublich melodische, beruhigende, in Trance versetzende Musik, dass man nach ganz kurzer Zeit jedes Gefühl für Zeit und Raum verliert.
Die Musik ist von indischer Musik inspiriert. Die Musik der Oper schreit nach Bildern, sie braucht das Licht, den Raum, die Bühne. So kann das entstehen, was Glass beabsichtigt hat: totale Entspannung, Ekstase, rauschhafte Zustände. Der Text ist in Sanskrit, das kann kaum jemand im Publikum verstehen. Der Gesang wirkt damit wie eine Art Beschwörung, das trägt stark zum meditativen Charakter bei.
Die Oper zeigt biographische Szenen aus dem Leben Gandhis, eine eigentliche Handlung gibt es aber nicht. Es ist ein bisschen so, als ob man in einem Fotoalbum blättert. Zu Beginn wird in die Thematik eingeführt, in der ersten Szene sind wir in einer mythischen Vergangenheit. Die drei Akte sind jeweils einer spirituellen Leitfigur zugeordnet, die Gandhi verehrte: Leo Tolstoi, Rabindranath Tagore und Martin Luther King jr.. Sie stehen für drei Aspekte des Satyagraha, Verbindung von Spiritualität und Politik, moralische Verantwortung, Gewaltfreiheit.
Wie lässt sich so etwas Zeitloses, Philosophisches in einer Oper darstellen? Es gibt ja keine eigentliche Handlung. Das lässt einer Inszenierung allerdings viel Freiheit. Philip Glass gibt aber einen Hinweis. „Tolstoi, Tagore und King repräsentieren die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Satyagraha“, so wird er in der Wikipedia zitiert. Und das nutzt Regisseur Daniel Kramer: er zeigt das Konzept von „Satyagraha“ in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von einem mythischen Beginn bis hin zu einer ganz fernen Zukunft.
Im Programmheft führt Daniel Kramer das näher aus: „Für mich erzählt die Oper von Philip Glass auch weniger über die Biografie von Gandhi. Für mich ist es die Geschichte der Geburt eines Propheten, oder auch: die Meditation über die Geburt von Satyagraha. Glass orientierte sich an der Mythologie von Propheten, Heilsbringern, die sich zu einem unbekannten Zeitpunkt auf der Erde manifestieren, nämlich dann, wenn die Welt in Gesetzlosigkeit verfällt.“
Aus einem biographischen Bilderbogen über Gandhi wird so eine viele Zeitalter überspannende Weltschau, in der Gandhis Seele immer wieder neu geboren wird, um schließlich in die Ewigkeit einzugehen. Das ist schlüssig, das passt, es untergräbt nicht die ursprüngliche Konzeption des Werkes. Gandhi ist in dieser Sichtweise ein Mythos, ist zum Mythos geworden. Und wir können uns losgelöst von einer historischen Person der immer wieder aktuellen Frage zuwenden: Was bedeutet uns heute der Weg des gewaltfreien Widerstands?
Daniel Kramer zeigt uns eine neue Handlung. Im mythischen Beginn treffen Freiheitskämpfer, Krieger und Gott aufeinander, Sinnbilder für den ewigen Kreislauf des Lebens, für das Böse und das Gute. Gandhi stirbt nach einem Attentat, seine Seele wird auf eine Reise von Geburt zu Tod zu Geburt bis zur endgültigen Erlösung geschickt.
Im zweiten Akt sind wir in der nahen Zukunft. Die Reichen lassen das Volk auf der überhitzten Erde zurück. Der wiedergeborene Gandhi führt den gewaltfreien Widerstand an und scheitert. Im dritten Akt vegetiert diese geflohene Oberschicht tausend Jahre später nur noch dahin, von einer Gandhi-Wiedergeburt medizinisch betreut. Zum Schluss sind wir 46 Millionen Jahre in der Zukunft, in einer von ganz anderen, bedrohlich-flauschigen Wesen mit den gleichen Problemen bewohnten Erde. Ein Gandhi sorgt für Frieden und endlich kann Gandhis Seele in die göttliche Ewigkeit eingehen.
Daniel Kramer lässt in seinen jederzeit packenden, berührenden Bildern dabei ganz unterschiedliche Dinge anklingen. Die Vorbereitung Gandhis auf die erste Wiedergeburt hat etwas von einer liturgischen Handlung. Der Aufstand des Volks gegen die fliehenden Reichen im zweiten Akt erinnert an Revolutionsopern. Die ganz ferne Zukunft im dritten Akt lässt fast an ein buntes Musical denken.
Beginn und Ende der Oper spielen im mythischen Sphären, diese Teile bilden eine Klammer für den Kreislauf der Wiedergeburt dazwischen. Der Beginn ist in dieser Inszenierung einer der faszinierendsten, atemberaubendsten Momente, den ich jemals auf der Bühne gesehen habe. Das ist unglaublich spektakulär! Ganz langsam werden lichtumstrahlt Gandhi, Arjuna und Krishna aus dem Bühnenhimmel heruntergelassen, die mythischen Gestalten Freiheitskämpfer, Krieger und Gott. Gandhi trägt dabei eine leuchtende Kugel in der Hand, für mich das Symbol für seine Seele. Das Aufgehen in die Ewigkeit zum Schluss ist eine genauso faszinierend in Bilder umgesetzte Meditation. Nur noch Gandhi ist auf der inzwischen ganz leeren Bühne. Seine Seele, die leuchtende Kugel des Anfangs, schwebt allmählich hinauf in den Bühnenhimmel, dahin, wo sie zu Beginn hergekommen ist. Der Kreislauf ist vollendet.
Die Bühne von Justin Nardella setzt all dies wunderbar um. Faszinierende Bilder sind zu sehen, die vermüllte Erde, das Mondsanatorium, die Welt der fernen Zukunft. Mit recht einfachen, aber unglaublich ausdrucksstarken Bühnenbildern werden diese Welten zum Leben erweckt. Die tollen, bizarren Kostüme von Shalva Nikvashvili und die poetischen Videoprojektionen von Chris Kondek fügen sich wunderbar ein. Das alles ist bunt, herrlich, verblüffend, bildgewaltig, ein Fest für das Auge. Es ist von den Bildern her eine der schönsten Produktionen, die ich gesehen habe.
Auch musikalisch war das ein großer Abend! Diese Musik ist ja eine Herausforderung für alle, insbesondere für jeden Dirigenten! Er muss immer genau wissen „wo bin ich?“. Und diese Sicherheit muss er dem Orchester, dem Chor und den Sängerinnen und Sängern jederzeit geben. Der Kopf des Dirigenten muss also vollkommen frei von der einsetzenden Trance sein. „Das Dirigieren ist hier ein Akt ganz großer Selbstdisziplin!“, so sagte es GMD Stephan Zilias im Nachgespräch des Probenbesuchs. Auch für das Orchester ist diese trügerische Einfachheit sehr schwer zu spielen und erfordert fast übermenschliche Konzentration. Deswegen gibt es auch nach jedem Akt eine Pause.
Dirigent Masaru Kumakura und das Niedersächsische Staatsorchester erwiesen sich als genau richtig für diese Aufgabe. Wunderbar präzise führte Masaru Kumakura durch die Partitur, wunderbar präzise spielte das Orchester diese Musik, voller Farben, frisch und lebendig. Minimal Music klingt bei einer nicht so guten Darbietung oft etwas beliebig, so etwas gab es hier nicht. Das wurde zu Recht begeistert mit Standing Ovations gefeiert.
Genauso bejubelt wurden die Sängerinnen und Sänger. Laut Regisseur Daniel Kramer ist der Chor die Hauptfigur dieser Oper. Mit dem Chor der Staatsoper unter Lorenzo Da Rio hat er da einen großartigen Interpreten gefunden. Unglaublich durchhörbar und wunderbar in den Abstufungen und den Farben, mal lyrisch und mal voller Dramatik, großartig. Da glühte die Musik vor Energie und Leidenschaft. Wenn da keine Nominierung für den „Opernchor des Jahres“ folgt, dann ist die Welt ungerecht.
Das Ensemble bildet in dieser Oper eine Einheit, aus der nur Gandhi als in allen Akten wiederkehrende Figur etwas hervorsticht. Shanul Sharma sang diese Rolle mit Eleganz und warmer, klangschöner Stimme. Vokal und darstellerisch bildete er so neben dem Chor das Zentrum der Inszenierung. Das ganze weitere Ensemble stand ihm darstellerisch und stimmlich nicht nach. Ganz großartig gefielen mir Meredith Wohlgemuth (Miss Schlesen), Ketevan Chuntishvili (Mrs. Naidoo), Beatriz Miranda (Kasturbai), Lluís Calvet i Pey (Mr. Kallenbach), Markus Suihkonen (Parsi Rustomji, Krishna), Ruzana Grigorian (Mrs. Alexander) und Timothy Oliver (Arjuna). Was für eine Freude für ein Opernhaus, wenn es solche Sängerinnen und Sänger hat!
Ohne jede Frage war dies ein begeisternder Abend, eine Wonne aus Musik, Regie und Bühne. Großartige Bilder werden hypnotisch in Musik gebettet. Das Publikum feierte zu Recht dieses Ereignis. Wer das verpasst, der versäumt etwas wirklich Besonderes! Hingehen und entschleunigen!
Achim Riehn