Wie kann Musiktheater in Pandemiezeiten stattfinden? Produktionen reduzieren, auf Kammeropern setzen? Die Oper Hannover beschreitet mutig mit „Trionfo“ einen dritten Weg und bezieht in einer Neuinszenierung die Zeitumstände gleich mit ein. Sie deutet ein Oratorium um und erfindet eine Oper neu. Hier riskiert die Staatsoper Hannover alles, stürzt sich ohne Sicherungsseil hinein ins Ungewisse – und gewinnt triumphal. Das muss man sehen und hören!
Georg Friedrich Händel war gerade einmal zwanzig Jahre alt, als er sein Oratorium „l Trionfo del Tempo e del Disinganno“ komponierte. Schon in diesem Jugendwerk gelang ihm ein tiefer und sensibler Einblick in die menschliche Natur und die Sehnsüchte des Menschen. Im Jahr 1707 wurde dieses Stück über die Lust am Leben und die Erkenntnis der Sterblichkeit uraufgeführt. Die handelnden Figuren sind vier Allegorien, Bellezza (Schönheit), Piacere (Vergnügen), Tempo (Zeit) und Disinganno (Erhellung, Desillusionierung). Es sind keine realen Personen, sondern zum Leben erweckte Haltungen und Lebenseinstellungen. Das Oratorium beschreibt den Entwicklungsprozess von Belleza (der Schönheit) weg vom Vergnügen (Piacere) hin zur Erleuchtung, zur Reife, zu Gott. Belleza muss sich dabei mit Fragen zur Vergänglichkeit und Sterblichkeit (vertreten durch Tempo und Disinganno) auseinandersetzen.
Wie bringt man das auf eine Bühne von heute? Diese Allegorien müssen mit so viel realem Leben gefüllt werden, dass sie uns konkret etwas sagen. Händel stellt ja elementare Fragen, die von Relevanz sind, ganz besonders in dieser unsicheren Zeit. Was bedeutet das Leben? Welchen Sinn hat es? Und wie gehe ich damit um, dass die Wege in die Zukunft unsicher oder unsichtbar sind? Das Konzept von Regisseurin Elisabeth Stöppler und Dramaturg Martin Mutschler ersetzt in einem genialen Kunstgriff den Wettstreit der Allegorien durch die Geschichten von vier Menschen, die in nächtlicher Einsamkeit Wege in einer Lebenskrise suchen. Gezeigt werden vier zweifelnde Menschen, allein mit ihren Problemen, auf eine Lösung hoffend. Die Allegorien verwandeln sich in B., P., D. und T., in Menschen wie du und ich. Sie müssen sich in dieser „letzten Nacht“ ihrem Leben stellen und einen Weg der Erlösung und Erleuchtung finden. Sie müssen einen Weg aus der Einsamkeit finden. Sie müssen darüber nachdenken, ob es da vielleicht doch jemanden gibt, der sie auf diesem Weg begleitet.
B. ist Hausfrau und Mutter. Sie reibt sich auf. Sie hat noch unzählige Wünsche, die sie sich aber nicht eingesteht. Es macht ihr Angst, darüber nachzudenken.
Bei P. ist eine unheilbare Krankheit diagnostiziert. Sie weiß, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Sie wirft sich mit fast verzweifelter Intensität ins Leben. Im Verlauf dieser Nacht zeigt sie immer mehr Verletzlichkeit, Angst und Sehnsucht. D. ist ein Schriftsteller in der Krise, der inzwischen fast alles um sich herum fürchtet. Er ist getrieben von Selbsthass und Selbstzweifeln. Er hat sich isoliert, aber das Sehnen nach Nähe ist groß. T. ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, der von der Sehnsucht erfüllt ist, endlich sein Frausein auszuleben. Sie (Er) wünscht sich nichts mehr, als endlich glücklich und bei sich selbst zu sein.
Die Texte des Oratoriums bekommen durch diese Personalisierung der Allegorien plötzlich einen neuen, tiefen Sinn. Das Oratorium bekommt eine Bedeutung für das Heute.
Die Inszenierung dazu ist ein Meisterstück. Alles ist darauf ausgerichtet, das Seelenleben der Personen zu verdeutlichen und für uns erlebbar zu machen.
Zu Beginn ist die von Valentin Köhler eingerichtete Bühne leer. Das Orchester ist weit hinten auf der Bühne positioniert. Das verleiht dem Klang etwas fast Unwirkliches. Jede der vier Personen stellt auf dieser leeren Bühne in einer Auftrittsarie ihre Gefühle dar. In kurzen und prägnanten Übertiteln von Martin Mutschler werden ihre Situationen und Lebensumstände erläutert. In der Arie des/der Tempo „Urne voi“ wird dann die entscheidende Frage der Oper gestellt: Ist da irgendetwas in den Tiefen unserer Seele begraben, das Hoffnung geben kann?
Von oben werden Möbel und andere Requisiten herabgelassen, sie verwandeln die Leere in so etwas wie die Andeutung von Wohnungen. Dieses Herabschweben ist ein fast unwirklicher, geisterhafter Moment. Die Personen werden nun in ihrem ganz gewöhnlichen Leben gezeigt. Nebeneinander lebt man, jede Person für sich allein. Erst zögerlich beginnen sie, aufeinander zu reagieren. Nach und nach werden die so normal erscheinenden Lebenssituationen hinterfragt und es wird die bittere Realität freigelegt. Die normale Welt der kleinen, engen Zimmerchen verliert zunehmend ihren Sinn.
Und irgendwann reicht das alles nicht mehr, die Personen müssen ausbrechen.
Die Vier steigen hinab in den Bühnenuntergrund. Der fährt nach oben und offenbart ein Traumreich, das von geheimnisvollem Neonlicht erleuchtet wird. Die Personen stellen sich ihren Situationen. An diesem Kulminationspunkt des Abends beginnen sie zu sprechen, in den jeweiligen Landessprachen der Sängerinnen und Sänger. Sie geben ihre Verletzlichkeit zu. Das wirkt so echt und ist so ungekünstelt, dass es ans Herz greift.
B. steigt schließlich aus diesem Traum wieder auf und verlässt die Neonwelt. Tempo und Disinganno gehen von der Bühne, vielleicht mit neuer Zuversicht, vielleicht finden sie zueinander. P. singt ihren Schmerz noch einmal heraus, sie versinkt zusammen mit dem Traumreich. B. steht am Schluss ganz allein auf der nun wieder vollkommen leeren Bühne. Gibt es für sie einen Weg? Sie geht nach hinten ins Dunkle, leise singt dazu der Chor, für mich klingt das voller Verheißung und Ermutigung.
Diese Entwicklung der Personen ist mit wunderbarer und berührender Eindringlichkeit visualisiert. Eine Auflösung gibt es nicht. Es bleibt offen, wie es weitergeht. Der Weg der Figuren führt ins Ungewisse.
Die vier Sängerinnen und Sängern auf der Bühne sind atemberaubend. Jede Szene wird so stimmlich und darstellerisch zu einem berührenden Ereignis. Der Sopranistin Sarah Brady als B. gelingen begeisternd sowohl Szenen großer Zärtlichkeit und Intimität als auch Szenen voll strahlender Leuchtkraft. Die Mezzosopranistin Nina van Essen gestaltet P. mit einer solchen herzzerreißenden Intensität, dass es fast wehtut. T. hat im Tenor Sunnyboy Dladla einen Sängerdarsteller gefunden, der seiner Rolle stimmlich und darstellerisch Wärme, Tiefe und gleichzeitig Verlorenheit gibt. Der einzige Gast unter den Sängern des Abends ist der Countertenor Nicolas Tamagna als D.. Seine kraftvolle Stimme ist auch zu all der Melancholie fähig, die es braucht, die Verzweiflung seiner Rolle auszudrücken.
Diese Glanzleistungen wären nicht möglich ohne die ebenbürtige musikalische Darbietung. Das Niedersächsische Staatsorchester unter Leitung des Barockspezialisten David Bates begleitet die Handlung sensibel, präzise, mit einem Klang voller Licht und Durchsichtigkeit. Alle Facetten der Musik leuchten und strahlen in feinsten Schattierungen. Der Chor unter der Leitung von Lorenzo Da Rio ergänzt dies zum Schluss aus der Höhe des Zuschauerraums mit fast unwirklich klingenden, balsamischen Tönen.
„Trionfo. Vier letzte Nächte“ ist ein bewegendes Ereignis. So zu Herzen gehend war Barockmusik schon lange nicht mehr. Das ist keine Inszenierung aus der Not heraus, hier wird Oper in der heutigen Zeit auf wunderbare Art neu geboren. Händels Musik bekommt über die ihr innewohnende Schönheit hinaus die Tiefendimension, die sie verdient. Inszenierung, Texte, Musik, Bühne, Ausstattung, Gesang, Darstellung – alles verbindet sich wie in einem Zauber zu einem großartigen und lange nachhallenden Ereignis des Musiktheaters.
Die Vorstellung wurde von https://operavision.eu live übertragen und kann bis zum April 2021 aufgerufen werden.
Achim Riehn