„Turandot“ von Puccini, 70 Minuten lang, kleines Orchester? Prinz Calàf ein Sopran, die Sklavin Liú ein Tenor, Prinzessin Turandot ein Bariton? Ja, alles ist anders, das ist wahrlich „Turning Turandot“. Olivia Hyunsin Kim, Composer in Residence der Spielzeit 2022/23, kehrt mit ihrem Team an den Ballhof zurück, um mit diesem neuen Stück einen der Repertoireklassiker der Oper zu hinterfragen. Das kann mit Fug und Recht als Uraufführung gelten, denn der Klassiker wurde hier wirklich auf spannende und unterhaltsame Art und Weise in etwas Neues verwandelt. Eine Oper über Oper ist das, ein Hinterfragen von Klischees mit Ernsthaftigkeit, aber auch mit Augenzwinkern.
„Turning“ bedeutet auch Humor, etwas, was vielen Opern fehlt. Und wenn das alles dann noch so gut gesungen, gespielt und musiziert wird wie hier, dann steht einem tollen Abend nichts mehr im Weg!
Warum ausgerechnet Turandot? Olivia Hyunsin Kim gab hier in der „Kostprobe“ zur Inszenierung ausführlich Antwort. Das Stück hat kein richtiges „offizielles“ Ende, da Puccini es nicht vollenden konnte. Es bietet daher eine Reibungsfläche, um die Geschichte davor zu hinterfragen. Warum spielt das in einem exotischen China? Warum gibt es diese starke Frau, die Macht hat – aber nur solange sie nicht heiratet? Warum verwandelt sie sich in einem Moment einfach so von einer mörderischen Eishexe in ein liebendes Weib? Wie geht man mit der Sklavin Liu um, die einen Frauentyp repräsentiert, der in der Oper so oft vorkommt, die Frau als Opfer, die sich für den Mann aufopfernde Frau? Wie geht man mit den merkwürdigen Stereotypen um, die vorkommen: die drei Minister zum Beispiel heißen wie in einer Karikatur Ping, Pang und Pong. Wie kann man dies alles zeitgemäß hinterfragen? Das war die reizvolle Herausforderung.
Mit dem „Turning“ wird auch angedeutet, dass neben der Personenzeichnung auch die Themen der Oper hinterfragt werden sollen. Die Oper enthält Rassismus, eine gelinde gesagt altertümliche Sicht auf Frauen, Sexismus und Exotismus. Der Schauplatz ist ein Fantasie-China, der nichts mit Realismus zu tun hat, sondern das Land als Merkwürdigkeit darstellt. Damit muss man aus heutiger Sicht umgehen. Puccini hat über diese krude Melange die allerschönste Musik ausgegossen, das darf ja nicht verloren gehen! Moderne Inszenierungen beschäftigen sich natürlich heute mit solchen Fragen. Olivia Hyunsin Kim treibt das aber so weit auf die Spitze, dass es gleichzeitig ambitioniert, zum Nachdenken anregend, kontrovers und wunderschön wird.
Eine interessante Frage wurde Olivia Hyunsin Kim in der „Kostprobe“ gestellt: warum bei all diesen Bedenken gegen einen traditionellen Stoff nicht einfach eine ganz neue Oper? Die Antwort war deutlich, aber auch etwas desillusionierend: Es gibt in der Oper und beim Publikum einen starken Hang zu den Klassikern. Das ist zu akzeptieren, aber dann ist die Frage, wie wir diese Stücke weiter spielen wollen. Reicht es, einem alten Stück einfach eine neue Inszenierung überzustülpen, um die Fragen zu umgehen? „Wir schauen, ob es auch anders geht“, so sagte Olivia Hyunsin Kim es. Mir hat diese Einstellung gefallen, sie hat mir Respekt eingeflößt.
Eine projizierte Einführung fasst die Handlung der Oper kurz und prägnant zusammen. Das ist hilfreich, denn die Handlung ist so schnell und turbulent, dass es anders schwierig wäre. Das Produktionsteam hat die 2,5 Stunden der Handlung auf übersichtliche 75 Minuten reduziert, ohne aber den Kern der Geschichte anzutasten. Nebenhandlungen und Nebenfiguren fehlen oder sind auf das Wesentliche beschränkt. Es gibt z.B. keinen Kaiser, Ping, Pang und Pong übernehmen die Rolle des Chors mit. Besonders klar ist das „Turning“ bei den Rollen. Die Hauptrollen sind mit dem jeweils anderen Geschlecht besetzt: Turandot ist Bariton, Liu ein Tenor, Calàf ein Sopran, Calàfs Vater Timur ist nun statt eines Basses ein Koloratursopran. Das funktioniert sehr überraschend wunderbar und beweist, dass im Theater und in der Oper alles möglich sein kann und ist.
Das Bühnenbild von Eva G. Alonso ist schlicht, aber stimmungsvoll. Auf der Bühne steht ein weißes Podest mit einer Art Spiegelwand, mal Glasscheibe, mal Spiegel. Darüber schweben drei Videoleinwände. Überall sind Blumen auf der Bühne. Die eingesetzten, sehr stimmungsvollen Videos von Jones Seitz stehen stark in Verbindung mit dem Bühnengeschehen. Zentrales Motiv auch in ihnen ist die Blume, die ja auch ein weibliches Symbol ist.
Die Kostüme stellen einen Stereotyp auf den Kopf, den man oft auf der Opernbühne sieht: weiße Menschen spielen in exotischen Kostümen. Ist das noch zeitgemäß? Die Kostüme der Inszenierung greifen das auf, sie benutzen diese exotischen Zitate aber spielerisch. Die Kostüme sind wild, poppig, bunt und exzessiv. Das ist eine bunte, überbordende Farborgie voller Einfallsreichtum. China-Kitsch ist das zum Glück nicht, nach Meinung des Regieteams muss man verantwortungsvoll mit all diesen Exotismen umgehen.
Der Eindruck dieser Neudeutung von „Turandot“ war faszinierend ungewöhnlich. Es war spannend, wie wenig der Geschlechterwechsel an den Eindrücken der Rollen geändert hat. Calaf ist auch als Frau noch heldisch dominant, Liu ist auch als Mann immer noch verletzlich. Das stellt unser Personenbild doch auf sehr subtile und nachdenkenswerte Art und Weise in Frage. Rasant und dynamisch ist das. Voll untergründigem Humor ist das. Und ohne dass wir es irgendwie bewusst wahrnehmen, hinterfragen wir immer mehr das Krude der eigentlichen Geschichte. Olivia Hyunsin Kim schafft es ganz nebenbei, dass wir ins Nachdenken kommen.
Ganz konsequent anders ist folgerichtig der Schluss. Liú hat sich geopfert, Calàf küsst Turandot, Puccinis Oper endet – und hier wird auf der Bühne alles in Frage gestellt. Die Figuren brechen aus ihren Rollen aus. „Aufhören!“ ruft Calàf, „Was tun wir hier eigentlich?“. Es folgt eine Reflexion über das Frauenbild der Oper, über Machtstrukturen, Rassismus und Kolonialismus. Oper könnte aber auch anders sein. Es mündete in eine gesungene neue Ensemble-Version von „Nessun dorma“, witzig, auf deutsch. „Nieder mit dem Patriarchat!“ Das ist plakativ, klar, aber wirkt nicht zu aufgesetzt. Meistens mag ich so etwas nicht, es ist für mich oft intellektuelle Bevormundung – hier aber dachte ich mit und war angerührt, es funktionierte.
Die im Geschlecht geänderten Rollen stellten natürlich auch den Arrangeur Jacopo Salvatori vor zusätzliche Anforderungen. Aber auch das wirkte sehr stimmig. Das zarte Arrangement der Musik ist auf den Punkt reduziert. Das bringt die Musik fast noch mehr zum Leuchten als ein großes Orchester. Die musikalische Grundsubstanz der Puccini-Oper ist nicht angetastet, aber alles klingt in dieser Besetzung für Kammerorchester mit elektronischem Klavier, Streichern und viel Percussion transparent und wunderbar farbig.
Auch musikalisch war dies ein ganz wunderbarer Abend. Das klein besetzte Orchester unter seinem musikalischen Leiter Richard Schwennike spielte sensibel, präzise und klangschön auf. Es ist erstaunlich, wie viele Klangfarben aus einem Kammerorchester besetzt nur mit elektronischem Klavier, Streichern und Percussion herausgeholt werden können.
Richard Schwennike führte die Sängerinnen und Sänger sicher durch den Abend. Die Frische und die Spontaneität der überwiegend jungen Sängerinnen und Sänger begeisterten. Alle kommen aus unterschiedlichen Heimatländern und singen hier in Turandot mit ihrem westlich-verdrehten Blick auf eine fremde Welt – mehr „Turning“ geht nicht. Alle möchte man gern sofort in größeren Rollen erleben!
Mengqi Zhang war eine wunderbare Calàf, mit schöner, strahlender Sopranstimme, sympathisch im Auftreten. Ihr „Nessun dorma“ war ein Höhepunkt des Abends. Pawel Brozek gestaltete Liú als anrührende, sich aufopfernde Tenor-Heldin. Großartige Höhen, Präzision und Bühnenpräsenz, sehr gut! Liù hat eindeutig die schönste Musik in dieser Oper. Bariton Seungwoo Sun sang und spielte Turandot mit Kraft und schönem Ton. Das Duell mit dem klaren Sopran von Mengqi Zhang war so ganz besonders reizvoll. Auch die kleineren Partien waren mit Luvuyo Mbundu (Bariton), Lluís Calvet i Pey (Bariton) sowie Carmen Fuggiss (Sopran) sehr gut besetzt. Kammersängerin Carmen Fuggis gelang der Rollentausch auf offener Bühne vom gefühlvollem Timur zu Pong jedesmal mit Augenzwinkern. Mitglieder des Bewegungschors agierten präzise und gut choreographiert als Gefolge von Turandot.
Das war eine Aufführung, die einen erfrischenden Blick auf das Opernrepertoire geworfen hat, spannend, mitreißend, tiefsinnig und doch voller Spaß, super musiziert und gesungen. Wir tauchten ein in „Turandot“, aber wir haben überall ganz neu hingeschaut. Wir tauchten ein in eine vertraute Opernwelt, die auf einmal ganz anders war. Es machte einfach nur Vergnügen, zuzuhören und zuzusehen.
Diese Überschreibung eines Repertoireklassikers wird nicht allen gefallen, aber das muss es ja auch nicht. Man kann ja durchaus darüber streiten, ob man so radikal mit einem Klassiker umgehen darf. Man darf schockiert sein. Zwei Herren quittierten die Vorstellung mit lauten Buh-Rufen und gingen dann mit einem empörten „So darf man mit dieser Oper nicht umgehen!“ aus dem Saal.
Wer aber Interesse an neuen Sichten hat, an spannenden Experimenten und an der subtilen Diskussion aktueller Fragen, der wird hier richtig sein. Und die wunderbare Musik ist ja auch da. Sie klingt hier vielleicht noch ätherischer als sonst, sie ist nun auf ganz andere Art und Weise exotisch. Daumen hoch für diese faszinierende Mini-Oper!
Achim Riehn