1. Sinfoniekonzert „Aufbruch“ 27.09.2020 – wo Dunkel ist, da ist auch Hoffnung

Das erste Sinfoniekonzert des Niedersächsischen Staatsorchesters in Pandemiezeiten, gleichzeitig auch das erste Sinfoniekonzert mit Stephan Zilias als Generalmusikdirektor – mehr Aufbruch ist fast nicht möglich. Ein kreatives Angehen war zu spüren, ein Begreifen der Umstände als Chance. Orchester und Dirigent setzten mit diesem Konzert ein Zeichen: wir verzweifeln nicht in dieser Situation.

Foto und Copyright: Achim Riehn

Stephan Zilias hatte schon in der Saisonvorstellung darauf hingewiesen, dass die Planung von Sinfoniekonzerten jetzt ein bißchen knifflig ist. Die Abstandsregelungen lassen keine großen Besetzungen auf der Bühne zu. Das geplante Programm musste daraufhin unter die Lupe genommen werden. Im heutigen Konzert ersetzte die „Unvollendete“ von Franz Schubert das eigentlich vorgesehene „Ein Heldenleben“ von Strauss.

Das neue Programm ging auch sonst einen neuen Weg. Es stellte die klassische Konzertreihenfolge Ouvertüre – Konzert – Sinfonie auf den Kopf, so wie die Pandemie auch unser Leben auf den Kopf gestellt hat. Über allen Stücken schwebte ein Fragezeichen – wohin geht die Reise? Dieses Konzert in seiner Gesamtheit gab eine Antwort: Durch die Dunkelheit zum Licht, von Dunkel nach Hell. Düster und von so etwas wie Verzweiflung geprägt begann es und endete schließlich im euphorischen Jubel. Das Licht triumphiert über die Dunkelheit, die Hoffnung siegt. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ – dieses Zitat von Hölderlin steht zu Recht groß im Programmheft! In einer kleinen Einführung nach der Schubert-Sinfonie betonten Stephan Zilias und Konzertdramaturgin Swantje Köhnecke ausdrücklich, dass dieses Programm eine Reaktion auf unsere Zeit und auf die augenblickliche Unsicherheit ist. Es ist eine Gefühlsreise.

Auf der Bühne ist viel Abstand zwischen den Musikern, das erhöht die Transparenz. Schon im ersten Stück machte sich dies bemerkbar, der „Unvollendeten“ von Franz Schubert. Zwei große, dunkle Sätze türmen sich vor dem Zuhörer auf. Es ist eine auf halbem Weg stehengebliebene Sinfonie – so als ob Schubert keinen Weg heraus aus dieser Düsternis gewusst hätte. Eine herbstliche Stimmung herrscht, das Licht des Frühlings ist nur eine Verheißung.

Im ersten Satz in unheilvollem h-Moll lastet eine melancholische Stimmung über allem, so etwas wie wehmütige Erinnerungen durchziehen die Musik. Schroffe Gegensätze prägen den Satz. Die düster lastenden Passagen dominieren. Sie werden ab und zu durch eine schwingende Melodie unterbrochen, die wie ein tröstender Lichtschimmer wirkt. Über allem liegt Dunkelheit, Traurigkeit, die sich ab und zu ins Dramatische, Verzweifelte steigert. Der Satz verklingt in Wehmut.

Der zweite Satz setzt die Stimmung des ersten Satzes bruchlos fort, es herrscht trotz des helleren E-Durs dieselbe lastende Melancholie. Allerdings klingt hier manchmal ein fast etwas trotziger Ton durch. Auch in diesem Satz gibt es ab und zu „Inseln“ aus schimmernden Licht. Zum Abschluss leuchtet etwas wie Hoffnung auf in der leise verklingenden Musik. Es wird so etwas wie einen Frühling geben!

Stephan Zilias und das Orchester gestalteten diese Sinfonie als eine in sich versunkene Meditation, die von im Kontrast dazu umso schockierenderen Ausbrüchen und Einbrüchen unterbrochen wird. Diese Akkorde verbreiten Schrecken, ihre Schärfen wurden klar herausgearbeitet. Die ruhigen Stellen hatten in diesem Umfeld fast etwas Tröstliches. Der zweite Satz gelang fein differenziert, Musik wie von romantischen Ahnungen durchzogen. Das war durchsichtig musiziert, jede Farbe bekam ihren Raum. Bei Schubert ist oft jede Phrase gleichzeitig voller Liebe und Schmerz, hier war das wirklich fühlbar – eine ergreifende Darbietung.

Das 1972 komponierte Konzert für Flöte, Oboe und Orchester von György Ligeti steht dazu in starkem Kontrast. Als Solisten traten zwei Solobläser des Staatsorchesters auf, Vukan Milin (Flöte) und Juri Vallentin (Oboe). Im Orchester dominieren die Holzbläser, die Violinen fehlen. Die Programminformation fasst die Stimmung dieses Werkes gut zusammen: „Die Soloinstrumente verwachsen mit dem Orchester zu einem vibrierenden Klangkörper. Mit minimalen Fluktuationen in Tonhöhe und Rhythmus entstehen faszinierend schwebende Klangflächen.“ In seiner Einführung nannte Stephan Zilias dieses Stück einen „Abenteuerspielplatz für das menschliche Ohr“. Zur Beschreibung dieser unglaublich farbigen Musik fallen mir nur außermusikalische Bilder ein. Das Konzert wirkt auf mich wie außerordentlich genial gemachte Musik zu einem Film über den Winter.

Der erste Satz ist leise, zart, kristallin, so wie Nebel über einem Eismeer. Schatten von Melodien geistern durch den Nebel. Das ist etwas unheimlich, aber sehr intim und schön. Die Soloinstrumente sind hier wie im ganzen Konzert in den Klang eingebettet, sie setzen die Glanzlichter. Der Satz entschwindet in der Mitte in immer zartere Gefilde in der Höhe. Ein „eisiger Wind“ führt zu heftigeren Passagen, das Geschehen kommt in der Tiefe zur Ruhe.

Der zweite Satz ist im Gegensatz dazu unruhiger und vibrierender. Ich hatte Bilder einer von Schneetreiben überzogenen Tundra vor meinem Auge. Vor allem in den Soloinstrumenten setzt so etwas wie ein Chor aus Vogelstimmen ein, dazu kommen Passagen, die an das Summen von Insekten erinnern. Sind das die ersten Stimmen des Frühlings? Immer bewegtere „Vogelstimmen“ kämpfen gegen das Eis an, vor meinem Auge brach zum Schluß das Licht eines Märztages herein. Ja, es ist Winter, alles ist erstarrt, aber es gibt Hoffnung.

Solisten, Orchester und dem Dirigenten gelang es, diese irisierende Musik in etwas Hochemotionales zu verwandeln. Die Musik glitzerte und schillerte, sie lebte. Die leise fließende Ruhe des ersten Satzes und die geschwätzige Welt voller Vögel des zweiten Satzes, zwei Bilder voller Gefühle und Farben. Ihre großartige Leistung krönten die beiden Solisten mit einer überaus romantischen Zugabe zusammen mit der Harfe.

Die Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 von Ludwig van Beethoven beschloß das Konzert. Sie beginnt so düster lastend wie Schuberts „Unvollendete“. Dann aber erhebt sich eine tröstende Melodie, es klingt wie ein „Seht, es geht vorbei, es gibt Hoffnung“. Die Musik trumpft auf, heroisch, tänzerisch, energisch, mitreißend. Der Sieg über die Dunkelheit ist nah. Die Musik hält inne, das Trompetensignal bildet einen Ruhepunkt. Es ist ein Aufwecken, das letzte Eis bricht. Die sich ins hymnische, sieghafte steigernde Musik fegt in mehreren Wellen die Dunkelheit hinweg. Das ist der Durchbruch des Lichts, der Triumph der Hoffnung.

Auch hier gelang Orchester und Dirigenten eine mitreißende und fast ekstatische Interpretation. Der Eintritt des Lichts geschah mit so viel Gefühl, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. Dieses Stück ist so dargeboten wirklich eine von Hoffnung durchglühte Musik! Als Zugabe gab es dann noch ein kleines schwungvolles Stück von Ligeti – „nicht atonal“, wie Stephan Zilias augenzwinkernd sagte. Und da schien dann in der Musik wirklich die Sonne!

Dieses Konzert in seiner Abfolge Herbst – Winter – Frühling war in gewisser Weise ein Abbild unserer Situation. Aber es überwand die Erstarrung, von Angst und Verzweiflung ging es zu Hoffnung und Befreiung. Der Aufbruch ist gelungen, das Konzert lässt mich zuversichtlicher in die Zukunft schauen. „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Wenn Stephan Zilias und das Niedersächsische Staatsorchester so weitermachen (und da bin ich mir sicher), dann können wir uns auf viele weitere bewegende und mitreißende Konzerte freuen.

Aufbruch und Neuorientierung zeigten sich auch schon daran, dass das Sonntagskonzert zweimal stattfand. Für mich muss ich sagen, dass 11 Uhr eine schöne Zeit ist. Ein nicht zu langes Konzert ohne Pause, auch das könnte für neues Publikum interessant sein. Die Einführung stand im Internet vor dem Konzert zum Anhören zur Verfügung, auch dies sollte beibehalten werden. Rein in die Konzerte, weiter so, es lohnt sich!

Achim Riehn

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