Herrliche Werke abseits des Kernrepertoires spielte das Niedersächsische Staatsorchester unter der Leitung von GMD Stephan Zilias in diesem Konzert. Das war eine mutige und spannende Zusammenstellung, die hervorragend funktionierte. Das Konzertprogramm bündelte Werke von vier Komponisten aus vier Ländern aus der Zeit rund um den 1. Weltkrieg. Vier Blicke auf die Welt, vier ganz unterschiedliche Blicke auf die Welt. „Ekstase“ war der Titel, aber „Aufbruch und Rückblick“ hätte auch gut gepasst. Es wurde ein großartiges Konzert!
Es sind Werke, die die ganze Bandbreite der damaligen Musik abbilden. Drei Stücke stammen aus der Zeit vor dem Krieg, es ist Musik, in der der Schatten des Krieges vielleicht schon spürbar ist. Ekstase bei Skrjabin, Glanz bei Debussy, Aufbruch bei Stephan, unterschiedlicher geht es kaum. Mit Elgar blicken wir dann auf den Krieg zurück, melancholisch, traurig, fast resignierend. Das ist dann wieder eine ganz andere Welt. Es ist eine Herausforderung, diese unterschiedlichen Stimmungen in einem Konzert gut abzubilden, aber dies gelang dem Niedersächsischen Staatsorchester unter Stephan Zilias glanzvoll. Dazu trug auch bei, dass mit Alban Gerhardt ein ganz hervorragender Solist für das Cellokonzert von Elgar gewonnen werden konnte.
Von Rudi Stephan sind nur wenige Werke überliefert. Er starb 1915 im 1. Weltkrieg, mit nur 28 Jahren. Die Oper „Die ersten Menschen“ gilt als sein Hauptwerk. Unter den Orchesterwerken ragt die „Musik für Orchester“ aus dem Jahr 1912 hervor. Stephan wendet sich ab von dem, was damals in der Musik vorherrschte, er geht seinen eigenen Weg.
Es fällt nicht leicht, diese ganz eigene Musik zu beschreiben. Ich versuche es mit einigen Assoziationen: Bruckner, Schreker, Moderne, das kam mir in den Sinn. Nach einem fast bedrohlichen Beginn geht das Stück eher melancholisch weiter. Das ist klar in den Konturen, blockartig gestaltet, das ist brucknerisch. Es gibt viele solistische Stellen, die Musik ist sehr vielfältig. Die Klangfarben erinnerten mich an Schreker, aber es ist ein abgeklärter, abgekühlter, reduzierter Schreker. Es fehlt alles Schwüle. Es ist Musik, die sich emotional einer ungewissen Zukunft stellt. Gegen Ende folgt nach einem emotional-ekstatischen Aufschwung eine ganz ruhige und leise Passage, bis das Werk klangmächtig zu Ende geht. Gibt es Hoffnung für die Zukunft?
Die „Musik für Orchester“ ist eine Musik voll klarer Farben und Konturen. Das Orchester spielte dies trotz der Komplexität wunderbar durchsichtig. Die Strenge der Musik wurde hörbar, genau wie die innere Schönheit, sehr gut.
Nach dem jugendlichen Aufbruch bei Stephan blickt Edward Elgar mit einem Alterswerk, dem Cellokonzert von 1919, auf sein Leben und auf den Krieg zurück. Es ist das letzte große Werk, das Elgar komponiert hat. Es ist reduziert in den musikalischen Farben und stellt den Gesang des Cellos in den Mittelpunkt. Ist es ein melancholischer Trauergesang auf eine untergegangene Zeit? Es beginnt im Dunklen, führt uns aber zwischendurch auch wieder in eine lichterfülltere Welt. Alban Gerhardt und das Orchester interpretierten das sehr bewegend. Jeder Satz bekam eine eigene emotionale Gestalt.
Das Cello beginnt den ersten Satz, das klingt fast harsch, dann setzt ein melancholischer Gesang ein. Es ist wie ein Gang über eine zerstörte, vom Krieg zerwüstete Landschaft. Der Gesang ist traurig, die Toten beweinend, nobel, von Gefühlen erfüllt. Das Cello von Alban Gerhardt klang hier beklommen, fast wie erstarrt, als ob der Solist sich nicht von seinen Emotionen überwältigen lassen wollte. So wirkte dieser Satz wirklich wie ein Gang durch eine dunkle Nacht.
Attacca beginnt der zweite Satz. Es ist, als ob die Musik jetzt aufwacht aus diesem Dunkel und in eine Zukunft schaut. Ein bißchen optimistischer in der Stimmung, fast etwas keck – es gibt wieder Licht. Hier ließ Alban Gerhardt die Emotionen heraus, die sich aufgestaut hatten. Wild klang die Musik, wie ein Tanz auf dem Vulkan. Jeder Ton dieses emotionalen Aufbruchs klang dabei wunderbar präzise, keine Nachlässigkeit war spürbar.
Der dritte Satz ist wieder ein Gesang, diesmal ganz liebevoll. Ist das ein Liebeslied? Diese Musik erinnert mich in der Stimmung an das „Adagietto“ aus Mahlers Fünfter Sinfonie. Hier tat sich in der herrlich gesanglichen Interpretation von Solist und Orchester eine ganz andere Welt auf, eine intime Welt der Liebe.
Der vierte Satz beginnt in der Stimmung des ersten Satzes, geht dann aber in eine optimistischere Passage über. „Springen über ein Feld“, jetzt blühen wieder Blumen. Zum Schluß verwandelt es sich in einen elegischen Gesang, voll Abschiedsstimmung, verdämmernd. Es erinnert an „Im Abendrot“ aus den Vier Letzten Liedern von Strauss. Die harschen Akkorde des Beginns des ersten Satzes beenden das Cellokonzert. All diese Gegensätze wurden von Solist und Orchester klar und bezwingend hörbar gemacht. Es klang so in den helleren Stellen wie ein Aufbruch in eine frohere Zukunft. Die dunklen Stellen ließen aber keinen Zweifel daran, dass das eine Illusion war, so traurig und ohne Hoffnung erklangen sie. En Wechselbad der Gefühle!
Viel Beifall gab es für diese großartige Interpretation, sowohl für Solist als auch für das Orchester. Alban Gerhardt bedankte sich „nach so viel Spätromantik“ mit einen kristallklaren Stück von Bach.
Nach der Pause ging es mit Debussy und Skrjabin in andere Musikwelten. Claude Debussy hat die musikalische Welt mit neuen Farben erfüllt. Die Préludes komponierte er 1910 für Klavier, es sind kleine Charakterstücke, kleine Naturbilder. Die Préludes haben Titel, aber das sind keine Programme, das sind Assoziationsangebote. Zwei der kleinen Stücke erklangen im Konzert in der Instrumentierung von Colin Matthews, der ihre Farben mit den Mitteln des großen Orchesters aufstrahlen lässt.
Das 7. Prélude „Ce qu’a vu le Vent d’Ouest“ (Was der Westwind gesehen hat) ist rauschend, unruhig, sich aufbäumend, auftrumpfend, energisch. Ich höre den Wind über den Bäumen. Das Stück endet mit einer heftigen SchlusssteIgerung. Das ist leuchtend bunte und energische Musik, die in dieser Interpretation des Orchesters glitzerte und funkelte.
Im 8. Prélude „La fille aux cheveux de lin“ (Das Mädchen mit den flachsblonden Haaren) wird die Schönheit eines Mädchens besungen. Ein ruhiger Gesang erklingt, Musik wie aus einem Liebesgarten in der Nacht. Ganz zart ist diese Musik, nur von Streichern und Harfe gespielt. Stephan Zilias leitete hier ohne Pause direkt in das überbordende „Poème de l’extase“ des russischen Klangrevolutionärs Alexander Skrjabin aus dem Jahr 1908 über. Die Stücke von Debussy wirkten dadurch wie eine Ouvertüre, was gut passte. Die Stimmungen an dieser Schnittstelle überschneiden sich wirklich sehr.
Skrjabin hat nur wenige Werke hinterlassen, aber in allen zeigt er sich als jemand, der Grenzen kühn niederreisst. Das „Poème de l’extase“ ist ein Gang hin zum Triumph. In mehreren sich immer mehr auftürmenden Wellen steuert die Musik dem Finale zu. Jede Welle beginnt ruhig, die Musik ist farbenreich. Es erinnert für mich an die Liebessätze aus der Turangalîla-Sinfonie von Messiaen. Dann folgt jeweils ein Aufschwung mit hymnischen Anklängen. Hört man hier schon die nahende Revolution in Russland? Ein immer wiederkehrendes Fanfarenmotiv in den Trompeten leitet durch das Poème. Es ist eine von wechselnden Farben durchglühte Musik, die im Verlauf des Stücks immer schwelgerischer wird. Das ist fast körperliche Musik, die ekstatisch aus dem Orchester herausstrahlt, herausströmt. Das Werk endet in einer triumphalen Schlusssteigerung in klarstem Dur.
Das ist Musik ohne jedes Maß, ohne Hemmung, ohne doppelten Boden. Aber beim Niedersächsischen Staatsorchester unter Stephan Zilias klangen diese Klangmassen in jedem Moment durchsichtig. Als Zuhörer wurde ich nicht durch die schiere Klangmasse in den Sitz gedrückt, sondern die Klarheit riss mit, die reine, die überwältigende Emotion. Der Schluss haut einen regelrecht aus den Sitzen, so laut, strahlend, leuchtend, triumphierend, hell ist er. Das tat in seinem Glanz und seiner Intensität fast weh! Mit Jubelschreien so wie selten gehört wurde das vom Publikum bedacht. Eine ganz große Leistung von allen Musikerinnen, Musikern und Stephan Zilias! Pech für die, die das versäumt haben!
„Von Strahlen der Hoffnung aufs neue erleuchtet“ heißt es in dem Gedicht von Skrjabin, das dem Poème zugrundeliegt, das passt aber auch zu diesem Konzert insgesamt. Solche großartigen, mitreißenden Konzerte mit solch spannender Musik abseits vom Mainstream finde ich wunderbar. Ich will mehr davon!!!