Es ist November, ein dunkler Monat, der Monat des Gedenkens. Mit „Trauer und Versöhnung“ hatte das Sinfoniekonzert den passenden Titel. Aber es zeigte, dass dunkle Musik nicht nur traurig sein kann. Sie kann auch grandios sein, vor allem, wenn sie so bezwingend dargeboten wird wie in diesem Konzert.
Sowohl das Viola-Konzert von Béla Bartók als auch die Asrael-Sinfonie von Josef Suk sind Werke, in denen es um Tod, Trauer, Abschied, Rückblicke und tröstendes Lebewohl geht. Béla Bartók schrieb das Konzert kurz vor seinem Lebensende, er konnte es nicht selbst vollenden. Josef Suk verarbeitete in seiner Sinfonie den Tod seines Schwiegervaters Antonín Dvořák und den seiner Ehefrau Otilie, der Tochter Dvořáks.
Am Dirigentenpult stand der langjährige Essener Generalmusikdirektor Tomáš Netopil. Es war seine erste Zusammenarbeit mit dem Niedersächsischen Staatsorchester. Er ist vertraut mit der tschechischen Musik, der Musik seiner Heimat. Seine Aufnahme der Asrael-Sinfonie aus dem Jahre 2017 fand sehr positive Resonanz. Die Vertrautheit mit diesem Stück war zu spüren. Aber auch Bartók liegt ihm nahe, wie sich zeigen sollte. Mit Nils Mönkemeyer konnte der renommierteste Bratschist seiner Generation als Solist gewonnen werden, bekannt für seine einfühlsamen und gleichzeitig brillanten Interpretationen.
Béla Bartók (1881 – 1945) komponierte sein Konzert für Viola und Orchester im Jahr 1945 als Auftragswerk für den berühmten Bratschisten William Primrose. Er war unheilbar krank, als er den Auftrag übernahm. Bei seinem Tod hinterließ er zahllose Skizzen, ungeordnet, zum Teil in einer Art Kurzschrift. Im Jahr 1949 wurde das Werk von Tibor Serly fertiggestellt. Die Instrumentation wurde so ergänzt, wie sie Bartók vorgeschwebt hatte – durchsichtig und intim. Das Violakonzert ist eine Musik von großer Innerlichkeit. Die drei Sätze gehen bruchlos ineinander über. Für mich drückt die Musik in jedem Ton aus, dass sich der Komponist seines baldigen Todes bewusst war. Es ist Musik, die innehält, die zurückschaut, die sich vom Leben verabschiedet.
Der Beginn des ersten Satzes gehört der Viola allein. Wie aus dem Nichts heraus beginnt die Musik, leise, melancholisch, nachdenklich. Die Musik wird dann immer unruhiger und bewegter, bleibt dabei aber immer durchsichtig. Das ist zurückhaltend instrumentiert, ganz ohne Prunk. Ist dieser Satz ein Rückblick auf ein trauriges Leben? Mir scheint es so. Der Schluss ist dann bei aller Zartheit fast resignativ, ein Mensch im Angesicht des Todes.
Nils Mönkemeyer und das Orchester arbeiteten nach dem zarten Beginn die Kanten und Dissonanzen in der Musik scharf heraus, keine Spur von Sentimentalität hier. Scharfe Kontraste taten sich auf, die fast weh taten. Rau, harsch, fast ruppig war das. Das ist ein Kampf ums Leben!
Zum Beginn des zweiten Satzes sagt Nils Mönkemeyer im Programmheft: „Und dann beginnt der 2. Satz mit einer Idylle, wie man sie auch bei Bartók selten hat, mit einem Moment der Hoffnung, wo der Himmel aufgeht. Diesen einen Moment lang kann man das Gefühl von Heimat oder von Ewigkeit haben, die auf uns herunterscheint.“ Besser kann man es kaum sagen. Ruhig und melancholisch geht es nach diesem innigen Auftakt weiter. Dann kommt so etwas wie ein „Vogelchor“ hinzu, flatternde Töne der Flöten, unterlegt von einem Tremolo der Geigen. Harsche, kurze Einschübe wie ein Ruf aus dem Jenseits unterbrechen die Ruhe, das ist in seiner Intensität beinahe unheimlich. Fast verzweifelt klingt die aufgeregte, atemlose „Gegenwehr“ der Viola, die dann in den nächsten Satz führt.
Die ruhigen Passagen wurden hier so innig und gefühlvoll gespielt, als ob man in den Himmel hineinschaut. Was für ein Kontrast zur Darbietung des ersten Satzes! Die Rufe aus dem Jenseits waren wie ein Innehalten, wie ein Weckruf.
Der Beginn des dritten Satzes ist dann wild und tänzerisch. Ist es ein Totentanz? Ist die Viola die Seele, die hier im dritten Satz in das Jenseits tanzt? Es sind Elemente aus der ungarischen Folklore, die hier in die Musik integriert sind. Vielleicht sind es Erinnerungen an das Paradies der Jugend. Das hat fast etwas Fröhliches. Ein letzter Abschied muss nicht bitter sein.
Nils Mönkemeyer und das Orchester schafften es, dieser Musik die Schwere zu nehmen. Ja, das Leben endet – aber wir können immer noch tanzen, auch wenn es im Inneren weh tut. Nach langem Beifall spielte Nils Mönkemeyer eine Sarabande von Johann Sebastian Bach als Zugabe. Man hörte zu und vergaß bei dieser in sich gekehrten, fast meditativen Musik das Vergehen der Zeit. Ein sehr schöner Abschluss für die erste Konzerthälfte!
Nach der Pause erklang dann die „Asrael-Sinfonie“, die 2. Sinfonie c-Moll op. 27 von Josef Suk (1874 – 1935). Suks Musik ist so farbenprächtig und lebendig, dass es für mich absolut unverständlich ist, dass sie nicht überall auf den Spielplänen steht! Umso mehr habe ich mich über dieses Konzert gefreut! Diese Sinfonie ist ein großformatiges Gemälde, mitreißend und bewegend, voll Trauer und Versöhnung. Benannt ist sie nach dem Todesengel der jüdischen und islamischen Mythologie, der die Seelen der Verstorbenen auf dem Weg ins Paradies begleitet.
Josef Suk begann diese Sinfonie im Jahre 1905 zur Erinnerung an seinen kurz vorher verstorbenen Schwiegervater Antonín Dvořák. Während der Komposition, die ersten drei Sätze waren skizziert, verstarb mit 27 Jahren Suks Ehefrau Otilie, die Tochter Dvořáks. Dies erschütterte den Komponisten so sehr, dass er für ein Jahr die Komposition nicht mehr fortsetzen konnte. Dann strich er die optimistischen Töne und komponierte zwei neue Schlusssätze, in denen er den Tod seiner Frau verarbeitete. Im Oktober 1906 war die Komposition beendet, sie trägt die Widmung „Dem Andenken Antonín Dvořáks und seiner Tochter, meiner Gattin Otilie“.
Zu hören ist ganz eigene spätromantische Musik. Suks Tonsprache ist sehr farbenprächtig, leuchtend, gefühlsintensiv. Die fünfsätzige Sinfonie ist, dem Anlass geschuldet, von Dunkelheit geprägt. Durch das Werk zieht sich ein charakteristisches Thema, das „Schicksalsthema“, das schon den Beginn des ersten Satzes beherrscht und das immer wiederkehrt. Tomáš Netopil und das Niedersächsische Staatsorchester schafften es, dass man fast atemlos und gebannt jeder Wendung der Musik zuhörte.
Leise beginnt die Sinfonie. Der ruhige, dunkle Beginn erinnert fast etwas an Bruckner. Die Celli lassen das Schicksalsthema erklingen. In dem Thema steckt „ein hohes Maß an Resignation, es kommt nicht von der Stelle und bleibt in Dunkelheit gefangen“, so sagt es sehr treffend die Cellistin Corinna Leonbacher im Programmheft. Pochende Rhythmen und bedrohliche Aufschwünge zerstören die Ruhe. Heftige Akkorde erklingen wie Schicksalsschläge. Immer wieder schimmert das Schicksalsthema durch. Dies ist eine traurige, melancholische Musik, von Verzweiflung durchzogen. Es gibt dann immer wieder ganz ruhige, sparsam instrumentierte „Inseln“, aber immer wieder auch dramatische Passagen. Langsam ringt sich die Musik zu Dur durch, das ist wie das Aufscheinen eines himmlischen Lichts. Aber abrupt und brutal wird das niedergeprügelt durch eine düstere Variante des Schicksalsthemas und harte Schläge der großen Trommel. Vier heftige Schläge, das einundzwanzigmal wiederholt, ein unerbittliches Anklopfen des Todes. Grandios, bedrohlich, erschütternd! Der Schluss des Satzes ist dann ganz ruhig und resignierend, die Musik erstirbt.
Ich kann es nicht anders sagen: man saß gebannt auf seinem Platz und hörte zu. Das war Musik von einer Urgewalt, wie man sie selten hört. Das Anklopfen der großen Trommel ließ mich wirklich erschauern.
Der zweite Satz beginnt ruhig, wie eingefroren, nachdenklich. Unter einem lange ausgehaltenen Liegeton bilden sich Seufzermotive. Langsam geht das in eine Art Trauermarsch über, mit einer leisen Wiederholung des Pochens vom Schluss des ersten Satzes eingeleitet. Im Gegensatz zum ersten Satz ist die Musik zurückhaltend, innerlich, sparsam instrumentiert. Still klingt der Satz aus.
Auch dies im Gegensatz zum ersten Satz so andere Musik wurde bezwingend dargeboten. Der Liegeton bohrte sich leise und unerbittlich ins Ohr. Man hörte fasziniert zu, konnte sich diesem leisen, unerbittlichen Druck nicht entziehen. Es ist selten, dass Musik solche Emotionen freisetzt. Man wollte gleichzeitig zuhören und vor diesem Ton fliehen – großartig vom Orchester!
Der dritte Satz ist voll von wild bewegter, zerrissener, fast hektischer Musik. Teilweise ist es düster tänzerisch, der Gedanke an einen Totentanz liegt nahe. Es folgt ein lyrischer, ruhiger Mittelteil, eine zu Herzen gehende Idylle. Aber die hektische Musik kommt zurück, entwickelt sich zu einer Art Apotheose. Ist das eine überirdische „Himmelsschau“? Nach weiteren ruhigen Momenten gibt es zum Schluss eine fast apokalyptische Steigerung.
Drama und Idylle in diesem Satz – krass nebeneinander. Kein Problem für Dirigent und Orchester, diese schroffen Gegensätze bewegend herauszuarbeiten!
In der Partitur steht am Ende des dritten Satzes „Lange Pause!“. Suk lässt uns so den Bruch erleben, den der Tod seiner Frau für die Entstehung der Sinfonie bedeutete. Der vierte Satz (überschrieben „Für Otilie“) ist ganz intim und nach innen gewandt. Er hat nichts von dem schmerzvollen Aufbegehren der ersten drei Sätze. Es ist ein ruhiger, fast tröstlicher Gesang. Leidenschaftliche Passagen wechseln sich mit zärtlichen Passagen ab, Melodien der Solovioline (Otilie?) sind hineingewoben.
Dies wurde sehr gefühlvoll gespielt. Der Kontrast zu den vorhergehenden Sätzen war großartig. Faszinierend, wie ein Orchester es hinbekommt, so unterschiedliche Farben in einem Stück so schön herauszuarbeiten!
Der fünfte Satz beginnt dramatisch, das Todesthema (Tritonus aufwärts gefolgt von einem Tritonus abwärts) erklingt in den Pauken. Düster und sehr bewegt geht es weiter, heftige Ausbrüche stehen für den vergeblichen Kampf mit dem Schicksal. Ab und zu gibt es zarte Abschnitte, in denen so etwas wie Licht aufschimmert. Wie ein Choral setzt schließlich das Schicksalsthema ein, fast versöhnlich, Abschied nehmend. Leise und zart in C-Dur klingt die Sinfonie aus. Aus dem c-Moll des November haben wir endlich das Licht des Advents erreicht.
Dieses Einsetzen des Chorals war vielleicht für mich der großartigste Moment dieser Sinfonie, aber das liegt ganz stark auch an der Darbietung. Nach 55 Minuten Kampf und Trauer treibt einem dieser so unendlich tröstliche Choral die Tränen in die Augen. Ja, ich bin beim Hören von Musik emotional, aber das müssen Dirigent und Orchester trotzdem erst einmal schaffen! Hier gelang das so gut, dass ich danach Mühe hatte, meine Sprache wieder zu finden.
Es gab lang anhaltenden Beifall, der kaum enden wollte. Dieses Konzert hat mich tief bewegt. Die Musik hat etwas in mir angerührt, so wie es fröhliche Musik nicht schafft. Das gelingt aber nur, wenn es so bezwingend dargeboten wird wie diesmal. Und das gelingt nur, wenn die Kompositionen so hochklassig sind wie diesmal. Danke dafür, so etwas Großes wie die Asrael-Sinfonie auf den Programmplan zu setzen. Ich freue mich auf weitere Entdeckungen! (Ich hätte natürlich eine Liste mit weiteren Vorschlägen … )
Achim Riehn