Dieser „Otello“ ist wie ein Schlag in die Magengrube. Dazu trägt nicht nur die geniale Musik Verdis zwischen Dramatik und Innigkeit bei. Die von der GFO geförderte Inszenierung von Immo Karaman schaffte es, mir die Geschichte brutal nah zu bringen, sie in meine heutige Welt zu holen. Hier wird hinweggekehrt, was man normalerweise mit großer, italienischer Oper verbindet. Kein Versinken in musikalischer Schönheit, keine Geschichte aus dem Museum, keine prachtvollen Kostüme, hier springt einen die Realität an. Darauf muss man sich einlassen wollen! Dem sollte man sich hingeben! Es ist ein Erlebnis!
Fünfzehn Jahre hatte Verdi nach der „Aida“ geschwiegen, dann schuf er eines seiner besten Werke. Kein Schwelgen in Wohlklang, sondern ein Blick in den Abgrund, ein Psychogramm in Musik: die Geschichte einer Selbstzerstörung. Wenn ich „Otello“ mit einem kurzem Satz charakterisieren müsste, dann wäre das „Durch das Tor zur inneren Hölle“.
Ein Kriegsheld (Otello) kehrt zu Beginn heim aus dem Krieg, öffentlich gefeiert. Sein Vertrauen in die Menschen hat gelitten, er misstraut, von einem Intriganten (Jago) angetrieben, sogar seiner eigenen Frau (Desdemona). Dies führt in die Katastrophe. Dieser Mann ermordet am Ende seine Frau, ein privates Drama. Was ist der Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen, was hat zu dieser Entwicklung geführt? Was sind die psychologischen Hintergründe? Das sind die Fragen, die Regisseur Immo Karaman in seiner Inszenierung beantworten will.
In der Beziehung zwischen Desdemona und Otello erleben wir eine Entzweiung, eine Entfremdung, einen Kontrollverlust, übersteigerte Eifersucht, Gewaltausbrüche. Verdi und sein Librettist Boito haben dies präzise ausgearbeitet. So eine Entwicklung ist typisch für Menschen, die an einem Kriegstrauma leiden. Für Immo Karaman ist es wichtig, diese zugrundeliegenden Konfliktstrukturen in einer Sprache von heute offenzulegen. Die Inszenierung zeigt etwas, was auch heute passieren kann: eine Familie zerbricht am Kriegstrauma des Mannes. Diese Thematik steht im Fokus der Regiekonzeption.
„Otello“ in der Welt von heute, das bedeutet ganz konsequent auch: nichts von der Pracht Venedigs, kein zyprisches Lokalkolorit, keine Feste, keine prunkvollen Interieurs. Wir sehen in der Inszenierung das Seelenleben eines Traumatisierten, gefangen in seiner heruntergekommenen Wohnung, seinen Erinnerungen ausgeliefert. Was ist real und was nicht? Desdemona ist wohl real, sie umsorgt ihn, bringt Einkäufe, ruft Hilfe, wenn er wieder von seinen Schrecken übermannt wird. Liebt sie ihn noch oder ist das nur noch Pflichtgefühl? Es bleibt auch für das Publikum so unklar wie es auch für Otello unklar ist. Die Tragik dieses Zustands steht im Mittelpunkt der Inszenierung.
Das ganze Szenario wird schon durch die Eingangsszene aufgebaut. Hier gibt es kein in einem Sturm scheiterndes Schiff, hier sind es die Kriegserinnerungen, die über Otello hereinbrechen, die ihn genauso überwältigen wie uns im Zuschauerraum. Der Chor bildet die Fläche für Projektionen von Krieg, Bombenteppichen, Zerstörung. Der Chor drängt sich nach vorn wie ein vielköpfiges Ungeheuer. Sind es Soldaten, Flüchtende? Alles verschwimmt in diesem Bild zu dieser Sturmflut aus Musik. Mit fast unglaublicher Gewalt und Intensität lässt das niedersächsische Staatsorchester unter Stephan Zilias diese Musik über uns hereinbrechen. Wir Zuschauer werden in den verwüsteten Zustand versetzt, in dem sich Otello offenbar befindet. Und so wie er werden wir uns von dieser dämonischen Erschütterung nicht mehr erholen.
Dieser Schrecken der Eingangsszene ist für Otello immer gegenwärtig. Im Bademantel vegetiert er dahin in seiner ärmlichen Wohnung, die überall sein könnte. Eine Matratze als Lager auf dem Boden, ein Kühlschrank mit Bierdosen, ein Küchentisch mit Stühlen, ein immer mit Jalousien zugezogenes Fenster – das ist die Welt des ehemaligen Kriegshelden. Sie bietet keinen Schutz. Rechts ist eine Tür, durch die ihn ab und zu seine Frau besucht.
Auch diese Besuche können Otello nicht aus seinem Kreislauf der Erinnerungen reißen. Immer wieder verirrt er sich in traumatischen Bildern. Im Bühnenbild von Etienne Pluss ist dies genial gelöst. Der Aufbau der Wohnung wiederholt sich immer wieder bis in den Hintergrund der Bühne hinein, bildet Ebenen der Erinnerung und der Imagination. So können mehrere Dinge gleichzeitig ablaufen, vorn Otello in der vermeintlichen Realität, dahinter intrigierende und miteinander kämpfende Soldaten, ganz im Hintergrund wie eine Folie das gesichtslose, anonyme Volk, eine Masse von Menschen. Durch Vorhänge können diese Bereiche „ausgeblendet“ werden, so wie man Erinnerungen ausblendet. Ab und zu reißen die Trennungen zwischen den Ebenen auf, die Erinnerungen fluten zombiehaft und unwirklich die Realität, so wie in der Festszene nach dem Sturm. Der Chor agiert hier bravourös, sehr gut einstudiert von Chordirektor Lorenzo Da Rio und von Fabian Posca als „Movement Director“.
Die Bühne ist eindeutig ein Erinnerungsraum, ein Spiegelkabinett im Kopf Otellos. Ob Otello klar ist, was real ist und was nicht? Desdemona in der Realität kann offenbar nichts aus den anderen Ebenen sehen. Personen wie der Intrigant Jago sind offenbar nur Einbildungen, Erinnerungen Otellos. Es gibt in einer Szene dazu einen deutlichen Hinweis. Otello (an einem Tisch in seiner Realität) redet mit Jago (der sitzt gegenüber am Tisch, aber in einer anderen Schicht): ein Dialog zwischen den Ebenen. Otello hört auf die Einflüsterungen aus seinem Inneren, er selbst ist es, der sich zerstört. Wir als Zuschauer können dies deutlicher sehen als er, wir schauen in Otello hinein wie mit einem Röntgengerät.
Was ist Realität und was ist Wahnvorstellung? Die Ebenen sind so geschickt verzahnt, dass es auch für den Zuschauer unsicher bleibt. Ich habe aber einige Vermutungen. Je mehr wir uns im Vordergrund befinden, desto realer. Reale Menschen und Erinnerungen an reale Menschen besitzen individuelle Kleidung. Wahnvorstellungen besitzen das nicht, sie sind wie aus alten Fotos herausgerissen, verschwommen, nicht als selbstständige Personen identifizierbar. Vermischen sich die Ebenen, dann dringen Erinnerungen in die Realität ein, überdecken die Realität. Kommen Personen nach vorn, dann nähern sie sich der Realität. Oft stehen sie dann wie hinter unsichtbaren Grenzen, so wie mühsam zurückgehalten. Geht Otello nach hinten, dann verliert er sich in seinen Traumata. Da wo das Licht ist, dahin richtet sich die Aufmerksamkeit von Otello, da ist seine augenblickliche Realität.
Konsequent ist auch, dass zuerst unklar bleibt, ob die Ermordung Desdemonas real ist. Im vierten Akt sehen wir sie in ihrem Schlafzimmer, sie bringt die beiden Kinder ins Bett. Ganz offensichtlich leben sie nicht mehr mit Otello zusammen. Hier hat alles etwas Farbe, es ist trauriges Familienleben, ganz normal, wir sind in der Wirklichkeit. Insbesondere das Gebet und das anschließende Eintreten Otellos laufen in ihrer Folgerichtigkeit ab wie in einem eisigen Hitchcock-Thriller. Das Schlafzimmer erstreckt sich über mehrere Ebenen des Bühnenbilds, Realität und Wahn vermischen sich. Die Ermordung Desdemonas mit dem Sturmgewehr ist dann auch eine übersteigerte, phantasierte Ermordung, wie aus einem B-Movie. Es ist eine Erinnerung Otellos an einen Akt familiärer Gewalt, eine Erinnerung an den Trennungsgrund. Die Kinder konnten flüchten, sie überleben.
Dieser Hinzuerfindung der beiden Kinder hätte es nicht bedurft, diese Studie über einen kriegstraumatisierten Menschen rund zu machen. Auch ohne dies geht alles unter die Haut. Aber es gibt der Geschichte über Traumata und häusliche Gewalt doch eine anrührende, unendlich traurige Note. Hitchcock hätte dieses Detail geliebt. Was für mich wichtig ist: nichts von dem und dem ganzen Geschehen davor verfälscht Verdis Oper.
Zum Schluss erschießt sich Otello auf seinem Lager mit einer Pistole, es macht nur „klick“. Es ist nur eine Einbildung. Desdemona kommt zu den Schlusstönen durch die Tür dazu und betrachtet traurig ihren in seinen Traumata gefangenen Ehemann. Ihr Tod war dann wohl wirklich eine Halluzination Otellos, ein Wahn, der die Realität geflutet hat. Otello gibt sich seiner Schuld hin. Seine Kinder sieht er nur noch in seiner Erinnerung. Nur noch die Realität seines Zimmers ist da, seine Frau, alles andere verschwunden hinter einem undurchsichtigen Vorhang.
Jede Inszenierung wird zum Leben erweckt durch die Umsetzung auf der Bühne. Neben dem Bühnenbild von Etienne Pluss tragen die dezenten Videoeinspielungen von Philipp Contag-Lada und das Licht von Susanne Reinhardt viel zur Wirkung bei, genau wie die Bewegungschoreografie für den Chor von Fabian Posca. Den zurückhaltenden Kostümen von Gesine Völlm gelingt es sehr gut, reale Personen durch Beschränkung auf wesentliche Merkmale erkennbar zu machen und sie von den geisterhaft blassen Erinnerungen abzugrenzen.
Das fulminant aufspielende Niedersächsische Staatsorchester unter GMD Stephan Zilias machte den Abend auch musikalisch zu einem Erlebnis. Die brachiale, brutale Gewalt der Sturmszene gelang genauso gut wie die ganz zarten, intimen Passagen des Schlussaktes. Außergewöhnlich klar und durchhörbar klang die Musik, jedes Detail war zu hören, ein Verdi-Fest.
Die Ensembleleistung machte den Abend dann zu einem großen Ereignis. Die drei Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller trugen stark dazu bei. So eine Stimmenpracht ist selten zu hören! Solche darstellerischen Fähigkeiten auf der Opernbühne sind ebenfalls selten!
Martin Muehle begeisterte als Otello, es ist sein Rollendebüt. Er hat sowohl die Strahlkraft für die Rolle als auch die Fähigkeit zu innigen Tönen. Auch in den lauten Passagen klang es nicht forciert, immer war eine gewisse Verletzlichkeit zu spüren. Zu den stimmlichen Fähigkeiten kam noch eine großartige Darstellungskunst, die für dieses Rollenkonzept auch zwingend erforderlich ist. Seine Verwirrung war in jeder Sekunde zu spüren.
Glanzvoll auch die Desdemona von Kiandra Howarth mit faszinierend warmen und weichen Tönen voller Leuchtkraft. Aber genauso gut gelangen ihr die emotionalen Ausbrüche. Ihre Zusammentreffen mit Otello waren immer von Traurigkeit über die Situation geprägt, das war großartig gespielt.
Pavel Yankovsky lieferte als Jago ebenfalls eine große Vorstellung ab. Darstellerisch grandios, wie er uns im Unsicheren ließ, ob er real oder eine Wahnvorstellung Otellos ist. Stimmlich beeindruckte er mit seinen kraftvollen Spitzentönen und seiner stimmlichen Präsenz, voller Dämonie.
Der Cassio von Sunnyboy Dladla stand hinter dem Haupttrio nicht zurück. Seine reine, helle Stimme war so voller Unschuld, sein Handeln so naiv, dass man Otello rütteln müsste: er ist definitiv ohne Schuld! Auch Nina van Essen zeigte als Emilia ihre hervorragenden gesanglichen und darstellerischen Qualitäten und machte aus ihrer Rolle ein bewegendes Porträt. Sehr gut!
Die kleineren Rollen müssen sich nicht verstecken. Peter O‘Reilly (Roderigo), Pavel Chervinsky (Lodovico), Richard Walshe (Montano) und Gagik Vardanyan (Herold) bewiesen, dass sie jederzeit stimmlich und darstellerisch für größere Rollen bereitstehen.
„Otello“ ist nichts ohne den Chor – und der setzte unter der Leitung von Lorenzo Da Rio in seinen Auftritten Ausrufezeichen, stimmlich und auch als dämonische Masse. In jeder Sekunde spürte ich fast förmlich die Freude, wieder auf der Bühne zu stehen.
Dieser Otello ist kompromisslos. Dieser Otello ist keine Wohlfühloper. Wer so etwas sucht, ist hier falsch. Aber Verdi hat auch keine Wohlfühloper geschrieben. Diese Inszenierung macht das wahr, was Verdi komponiert hat. Wer sich einlässt, den erwartet ein Ereignis, eine Welt-Erschütterung. Dazu dieses Orchester, dieser Dirigent, diese Gesangsleistungen! Auch in der Hölle gibt es den Blick in den Himmel! Geht in diese Oper und lasst Euch umhauen.
Achim Riehn