Dieses Konzert stellte ganz im Sinne des Titels „Zweisamkeit“ die Musik zweier Komponisten einander gegenüber. Gespielt wurden Werke von George Benjamin und Maurice Ravel, zwei Stücke für Klavier und Orchester, zwei Ballettmusiken. Bei allen Unterschieden im Stil fand ich die Gemeinsamkeiten faszinierend. Beide Komponisten haben ausdrucksvolle und farbenreiche Musik geschaffen, beide Komponisten sind Impressionisten, Farbmaler aus unterschiedlichen Epochen. Als Solisten am Klavier hatte das Niedersächsische Staatsorchester unter Stephan Zilias den französischen Pianisten Pierre-Laurent Aimard zu Gast. Mit unserem GMD ist er seit langem künstlerisch verbunden, der damals Vierzehnjährige Stephan Zilias hatte ihn schon als Lehrer.
George Benjamin, geboren 1960 in London, ist ein britischer Komponist, der in den letzten Jahren immer mehr Aufmerksamkeit erregt, nicht zuletzt durch seine sehr erfolgreichen Opern „Written on Skin“ und „Lessons in Love and Violence“. Studiert hat er unter anderem bei Olivier Messiaen in Paris. In den beiden Stücken dieses Konzerts konnte man diese Verwandtschaft auch hören.
In „Duet“ aus dem Jahre 2008 versucht George Benjamin, die übliche Trennung von Orchester und Soloklavier zu überwinden und eine gemeinsame Klanggestalt zu entwickeln. Ziel war ein wirkliches Duett zweier gleicher Partner und das ist auch gelungen. Das Stück ist für den Solisten des Abends Pierre-Laurent Aimard entstanden und ihm auch gewidmet.
Unglaublich farbig und abwechslungsreich ist dieses ungefähr zwölfminütige Stück. Es beginnt mit einem fast impressionistischen Solo des Klaviers allein. Das erinnert ein bißchen an die Vogelmusiken von Messiaen. Rhythmisch bewegt und fast etwas tänzerisch kommt das Orchester dazu. Eine zarte, fast meditative, von Harfe und Klavier dominierte Passage führt dann wieder zu einer Art leisen Vogelmusik. Ruhig und träumerisch geht es weiter, die Musik verschwindet fast im Dunkel. Über dieses Dunkel heben sich fast bedrohliche Töne, aber es geht zart weiter. Die Musik wird bewegter und energischer, eine fast turbulente Steigerung führt zum Schluss.
Das ist ein Stück, in dem es auf die Feinzeichnung ankommt, auf jede Farbe, auf die präzise Abstimmung zwischen Solisten und Orchester. Ganz großartig gelang es, alle Details präzise herauszuarbeiten, alles griff ineinander, die Klangfarben wanderten vom Klavier ins Orchester und zurück, das war beeindruckend.
Der berühmte Klangmagier und musikalische Impressionist Maurice Ravel (1875-1937) schrieb 1929 bis 1931 sein „Konzert für die linke Hand für Klavier und Orchester“ für den Pianisten Paul Wittgenstein, der im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren hatte. Das einsätzige Konzert, knapp unter zwanzig Minuten lang, ist ernst im Ton und reflektiert wohl Erinnerungen an den Krieg. Es ist so virtuos, dass man beim Zuhören überhaupt nicht merkt, dass hier nur mit der linken Hand gespielt wird.
Dunkel beginnt das Konzert im Orchester, mich erinnerte das in der Stimmung an das düstere „La Valse“ von Ravel. Eine düstere Melodie erhebt sich sich aus dem Dunkel, bis schließlich grelles Licht hineinbricht. Heftig und kämpferisch übernimmt das Soloklavier, es folgt ein dunkles, grüblerisches Solo. Nach einem heftigen Ausbruch stimmt das Orchester ebenfalls diese grüblerische Melodie an. Wieder wechselt die Stimmung, ganz ruhig erklingt das Klavier zu zarter Begleitung, dann Solo, dann wieder im Zusammenklang. Dieser Abschnitt endet in einer sich zuspitzenden Steigung.
Der folgende Abschnitt ist ein schnelleres Allegro, ein rhythmischer Tanz von Klavier und Orchester, es ist eine Mischung aus beschwingten und kämpferischen Tönen. Es wird dann fast etwas verspielt und zart, aber der bedrohliche Marschrhythmus bleibt im Hintergrund. Eine traurige Orchestermelodie erhebt sich über den Marsch, dann wird die Melodie im Klavier über dem Marsch immer verzierter und wilder. Eine große rhythmische Steigerung setzt ein, eine irgendwie spielerische Passage unterbricht kurz den Marsch, dann folgt ein großes Aufbäumen. Eine Welt im Zusammenbruch.
Eine Solokadenz des Klaviers folgt, sie nimmt ebenso wie das Orchester zuvor die Musik des Beginns wieder auf. Das ist hochvirtuose Musik, bewegt und verziert, wie sprudelndes Wasser. Das Orchester kommt dazu, eine große Steigerung folgt. Dunkel leuchtend endet das Stück fast abrupt.
Pierre-Laurent Aimard gestaltete seinen Part fast aggressiv, wild, schnell, ohne übergestrichene Romantik. Das kenne ich von vielen Aufnahmen dieses Stücks anders. Das Orchester folgte ihm dabei in jeder Sekunde. Der Fokus lag hier auf der dem Stück innewohnenden Düsternis und Aggressivität. Geboten wurde uns ein so fast etwas beängstigendes Stück Musik. Das war kein „Schaut her ich kanns“-Bravourstück des Pianisten, die Virtuosität bildete den Hintergrund und wurde beim Zuhören immer nebensächlicher. Rohe, fast brutale, schmerzvolle Emotionen wurde uns geboten, perfekt im Einklang zwischen Klavier und Orchester.
Die Zugabe von Pierre-Laurent Aimard war dann eine Einstimmung auf den zweiten Teil des Konzerts, er spielte (wenn ich es richtig verstanden habe) einige der „Danse figures“ von George Benjamin in der Klavierfassung. Virtuos und zart zugleich!
Nach der Pause ging es dann mit Musik von Benjamin und Ravel weiter. „Dance Figures“ von George Benjamin ist eine Ballettmusik, komponiert 2004. Das fünfzehnminütige Stück trägt den Untertitel „Nine choreographic Scenes for Orchestra“. Auch diese in kurze, meist unmittelbar aufeinander folgende Abschnitte geteilte Musik ist außerordentlich farbig und farbenreich. Ich kann den Eindruck dieser Musik nur in Assoziationen gut wiedergeben.
Es beginnt mit leuchtenden, leisen Klangflächen, man hört so etwas wie eine traurige Melodie, dann wird die Musik bewegter. In der zweiten Szene leuchtet eine andere Art von Licht herein. Ich fühlte mich an einen Wald im Abendlicht erinnert, die Musik ist von Sibelius-Traurigkeit und endet leise. In der dritten Szene wird diese Stimmung fortgesetzt, geheimnisvolle Schatten geistern durch den Wald. Mit einem großen Aufrauschen beginnt die vierte Szene, Klangeruptionen brechen in die Stille eines ganz langsamen Orgelpunkts hinein, heftige Klangsteigerungen folgen. Die nächtlichen Monster sind nah, aber der besänftigende Orgelpunkt gewinnt. Szene fünf ist eine Art Gesang wie aus einem dunklen Traum, wirr fast und unruhig.
Streicherakkorde wie in der Filmmusik zu „Psycho“ dominieren wild und harsch die sechste Szene, Orchesterschwärme treffen auf Peitschenklänge.
Nach einer kurzen Pause ist die Musik in Szene sieben dann leise und in unruhiger Bewegung. Sie geht in der achten Szene in einen ruhigen Gesang über, der leise verhallt. Die neunte Szene beendet das Stück schließlich rhythmisch, marschierend, fast kriegerisch mit einem kurzen, heftigen Schluss.
Diese wie Irrlichter unablässig in der Farbe wechselnde Musik war beim Niedersächsischen Staatsorchester unter Stephan Zilias in den besten Händen. Die zarten Farben schimmerten, die Musik tanzte, die Instrumente harmonierten wunderbar. Es ist moderne Musik in jeder Sekunde, aber es ist Musik voller Leben, voller Blut. George Benjamin kannte ich bisher nur vom Namen her, seine Musik war für mich eine sehr schöne Entdeckung.
Vier Ausschnitte aus der farbdurchglühten Ballettmusik „Daphnis et Chloë“ Von Maurice Ravel, komponiert 1909 bis 1912, beendeten das Konzert. Hier zeigt sich Ravel als der Großmeister der musikalischen Farben.
„Nocturne“ beschwört einen Garten im Mondlicht herauf. Nächtliche Vögel singen. Das ist eine ruhige, sehr romantische Musik, es ist die musikalische Schilderung einer träumerischen Liebesnacht, mit allen Farben des Orchesters gezeichnet.
„Lever de jour“beginnt mit Vogelstimmengewisper über einer leisen, ruhigen Orchesterfläche. Es ist Nacht, aber der Horizont wird schon hell. Strahlend und leuchtend geht dann in der Musik die Sonne auf. Das Licht überstrahlt alles. Die Musik zeichnet die Stimmung eines lichtdurchstrahlten, wunderschönen Morgens, voller Vogelgesang. Strahlend erhebt sich die Musik wie die Sonne, immer triumphaler, in mehreren Wellen.
Die „Pantomime“ ist ein romantisches Spiel. Die Holzbläser klingen, als ob sie in der Sonne selbstvergessen tanzen. Das ist sehr spielerisch, ich musste an herumtobende kleine Kinder denken.
Tänzerische Rhythmen bestimmen den „Danse générale“. Sie steigern sich fast orgiastisch immer mehr. Das ist ein leuchtkräftiger, fast heidnisch anmutender Tanz. Ist es vielleicht ein Tanz zu Ehren des Gottes Dionysos? Mit einer großen, mitreißenden Steigerung endet das Stück.
Was das riesig besetzte Orchester an diesem Abend daraus machte, das war wirklich beeindruckend. Das war mehr als Musik, das war ein Rausch! Das Nocturne zum Hinschmelzen schön, die Pantomime verspielt und fast frech, das Aufgehen des Lichts sensationell farbig. Der „Danse générale“ gelang so ekstatisch und mitreißend, dass das Publikum für mehrere Minuten jubelte. Das war aber auch verdient! Großartig die Leistung des Orchesters, ich erwähne hier nur die tollen Holzbläser!
Zusammengefasst: das war mehr als ein Konzert, das war schon ein Ereignis! Die volle Punktzahl dafür von mir!