6. Sinfoniekonzert „Landschaften“ am 04.04.2022 – Streifzüge durch Landschaften der Seele

„Landschaften“ war das Thema dieses Konzerts, aber es ging nicht um musikalische Naturbeschreibungen. Die drei Stücke gaben wieder, wie sich die Natur, wie sich Landschaften in der Musik widerspiegeln. Was löst ein Naturerlebnis in einem Komponisten aus? Wie drückt er in Musik aus, was die Umwelt in seiner Seele auslöst? Alle drei Kompositionen des Abends zeigten das in ganz unterschiedlicher Weise, voller Geheimnis, voller Schauer, voller Sehnsucht.

Schlussapplaus 6. Sinfoniekonzert „Landschaften“

Das Niedersächsische Staatsorchester spielte unter Leitung der australisch-schweizerischen Dirigentin Elena Schwarz, die in den letzten Jahren schon am Pult vieler renommierter Orchester stand. Es wurde ein bewegendes und mitreißendes Konzert!

Jean Sibelius (1865 – 1957) komponierte seine Tondichtung „Tapiola“ im Jahre 1926. Es ist eines seiner letzten Werke, bevor er fast dreißig Jahre bis zu seinem Tod musikalisch verstummte. „Tapiola“ ist eindeutig eines seiner ambitioniertesten Stücke, dicht und fast extrem intensiv, mit Harmonien und Melodien am Rand der Moderne.

Viele Werke von Sibelius haben Bezüge auf die finnische Landschaft und die finnische Mythologie, so auch dieses Werk. Tapio ist der finnische Gott des Waldes und die Tondichtung beschreibt die Wirkung, die der dunkle und geheimnisvolle finnische Wald auf den Komponisten hatte. Als erster Titel war daher einfach „Der Wald“ geplant, aber Sibelius hatte Sorge, dass dann das Publikum eine Naturbeschreibung erwarten würde. Deswegen wählte er den mythologischen Titel. „Tapiola“ ist eine Seelenbeschreibung. Sibelius stellte dem Werk einen Vierzeiler voraus, der quasi das Programm der sinfonischen Dichtung zusammenfasst:
„Da dehnen sich des Nordlands düstre Wälder
Uralt-geheimnisvoll in wilden Träumen;
In ihnen wohnt der Wälder großer Gott,
Waldgeister weben heimlich in dem Dunkel.“
Diese vier Zeilen finden sich stimmungsmäßig in der verborgen vierteiligen Form des Werks wieder. Alle Motive entwickeln sich dabei – wie oft bei Sibelius – aus einem Kernmotiv. Daher könnte man „Tapiola“ auch als Variationsform (Thema, Variationen, Coda) beschreiben. So ist eine komplexe, dichte Musik voller Geheimnis entstanden, ein Tonbild einer mythologischen Landschaft der Urzeit, mit dunklen und undurchdringlichen Wäldern, übervoll mit Lauten, Tönen und geheimnisvollen Wesenheiten.

Elena Schwarz arbeitete die dunklen, unheimlichen Seiten dieses Stückes präzise heraus. Das Moderne dieser Musik kam so klar zum Vorschein, von raunender Romantik war nichts zu spüren. Die Lücken in dieser zerklüfteten Musik ließen auf ziemlich bedrohliche Art und Weise einen Blick auf die Geheimnisse dahinter zu. Unheimliche Wesenheiten schienen hinter der Musik zu wohnen, so meine Assoziation beim Zuhören. Das war eindeutig kein heimeliger Wald! Eine starke Leistung.

„A Haunted Landscape“ von George Crumb (1929-2022) schließt sich in der Stimmung bruchlos an. Das Werk ist 1984 entstanden. Crumb ist für seine unwirklichen Klänge und die Verwendung von Instrumenten aus verschiedensten Kulturen bekannt, dieses Stück ist da keine Ausnahme. So viele unterschiedliche Percussion-Elemente findet man selten! in der Besetzung finden sich gemäß Programmheft „[…] Almglocken, Chinesische Tempelgongs, Claves, Crotales, Cuica, Flexatone, Glockenspiel, Glockenstab, Große Trommel, Guiro, Hackbrett,
Hängende Becken, Kabuki-Klanghölzer, Kambodschanische Angklungs, Karibische Steel Drums, Kleine Trommel, Maracas, Marimba, Rute, Sandpapier-Blöcke, Tamburin, Tamtams, Tempelblöcke, Tomtoms […]“. Man muss es hinschreiben, um es zu glauben!

Mit diesem Instrumentarium schafft Crumb eine geisterhafte Nachtmusik der Stille. Über einem leisen, abgrundtiefen Dauerton zweier Kontrabässe erklingen zarte Musikschichten, Klangflächen und einzelne Melodiefragmente. Durch diese Schichtungen wirkt das Stück wie eine Tonmalerei mit deutlich abgesetztem Hinter- und Vordergrund. Manchmal klingen verwehte Echos aus dem „Sacre“ von Strawinsky herein, jedenfalls ist das meine spontane Assoziation. Ein klopfendes Fünfnotenmotiv erklingt immer wieder, es gemahnt zum Schluss im gedämpften Klavier wie ein Anklopfen des Todes. Zusammen ergibt das ein Werk von magischer Wirkung, es ist wirklich eine „verwunschene Landschaft“. Ist das eine Beschreibung des Schauderns in der Nacht (auf einem Friedhof) oder ein Blick in eine träumende Seele?

Auch hier konnte ich nicht anders, als fasziniert zuzuhören und den Instrumenten bei ihrem Spiel zuzusehen. Die Leistung insbesondere der Mannschaft an den Schlagwerken war bewundernswert. In dieser Interpretation von Elena Schwarz und dem Niedersächsischen Staatsorchester konnte man vergessen, dass man neuer Musik zuhörte. Auch hier wieder löste die Musik bei mir Assoziationen aus (immer ein gutes Zeichen). Ich fand mich emotional in einer späten Novembernacht auf einem der großen hannoverschen Stadtfriedhöfe wieder. Geräusche und Musikfetzen klingen herein in eine lastende Stille, überall lauern dunkle Schatten, faszinierend!

Nach der Pause setzte die Sinfonie Nr. 9 e-Moll „Aus der Neuen Welt“ von Antonin Dvořak (1841 – 1904) das Thema der Seelenlandschaften fort. Dvorak komponierte sie 1893, er befand sich auf Einladung der Mäzenin Jeannette Meyers Thurber für zwei Jahre in New York und leitete dort das National Conservatory of Music. Für Frau Thurber war es dabei wichtig, von bedeutenden Komponisten neue amerikanische Musik zu bekommen (wobei das „amerikanisch“ nicht näher definiert war). Dvorak löste dieses Problem, indem er Elemente aus seiner böhmischen Heimat mit Einflüssen aus der Neuen Welt verband. Es finden sich zwar keine typisch amerikanischen Melodien, aber es gibt Anklänge. Für Spirituals typische Synkopen finden sich in verschiedenen Melodien wieder. Die Englischhornmelodie des zweiten Satzes basiert auf der pentatonischen Skala, die auch für die Melodien der indigenen Bevölkerung kennzeichnend ist. Eine Inspirationsquelle scheint auch das Versepos „The Song of Hiawatha“ von Henry Wadsworth Longfellow über die amerikanischen Ureinwohner gewesen zu sein, von dem eine tschechische Übersetzung vorlag. Aber die Musik ist von Grund auf doch böhmisch-europäisch. Die Sinfonie wirkt wie ein sehnsuchtsvoller Blick aus Amerika und durch Amerika hindurch in die Landschaften der Heimat.

Die Sinfonie ist so populär und bekannt, dass ich nur kurz auf die musikalische Gestaltung eingehen möchte. Die Hauptthemen sind prägnant und haben hohen Wiedererkennungswert. Viele Themen finden sich in verschiedenen Sätzen wieder, das ergibt eine große Geschlossenheit. Elena Schwarz arbeitete mit dem Niedersächsischen Staatsorchester die Extreme dieser Musik heraus.

Im 1. Satz „Adagio – Allegro molto“ tritt nach einer langsamen Einleitung ein mitreißendes Thema auf, dem dann ein zweites Thema – zuerst in den Holzbläsern – entgegengestellt wird. Nach einer umfangreichen Verarbeitung beendet eine fast triumphale Coda diesen Satz.

Fast wild wurde dieser Satz interpretiert. Statt Romantik bekam ich eine ruppige Attacke voller Angriffslust zu hören. Aber dieses Harsche bekam der Musik gut, es stellte sich so keine Betulichkeit ein.

Der 2. Satz „Largo“ ist ein zu Herzen gehender Trauergesang. Als Inspiration diente Dvorak das Bild vom Begräbnis im Walde aus Hiawatha. Das Englischhorn (großartig: Anke-Christiane Beyer) singt seine berühmte und berührende klagende Solomelodie. Einige Vogelstimmen sorgen kurzzeitig für eine Stimmungsaufhellung, aber die Melancholie behält die Oberhand.

Hier fiel Elena Schwarz dann fast ins andere Extrem. Dieser ruhige Satz wurde zu einem getragenen, dunklen Totengesang. Der Kontrast zum ersten Satz konnte kaum größer sein. Mir gefiel das, es hielt die Spannung aufrecht.

Im 3. Satz „Scherzo. Molto vivace“ werden dann amerikanisch inspirierte Tanzmelodien mit Auftakten und Synkopen mit böhmischen Walzermelodien im Trio kombiniert. Die Sehnsucht nach Böhmen trifft auf die Eindrücke der Neuen Welt. Herausgekommen ist eine mitreißende Musik, bei der es schwerfällt, ruhig sitzenzubleiben.

Die Interpretation des Niedersächsischen Staatsorchesters traf diese zwei Stimmungen ganz genau und stellte sie fast schroff gegenüber. Die amerikanisch inspirierten Melodien zuckten wie Blitze durch das Orchester, die böhmischen Melodien beruhigten und besänftigten, sehr gut.

Fast triumphal beginnt der 4. Satz „Allegro con fuoco“ mit einem mitreißenden, hymnischen Thema. In seiner marschartigen Wucht soll es vielleicht die Energie der Neuen Welt symbolisieren. Das zweite Thema in den Klarinetten ist dagegen ruhig und sehnsuchtsvoll, es sind wieder Echos aus der Heimat. Zum Schluss werden alle Themen der Sinfonie zusammengeführt in einem großartigen Finale voller Wucht, Schwung und Triumph.

Elena Schwarz gestaltete diesen Satz so, wie er sein sollte: als Energiemaschine. Die Rhythmen tanzten, die Melodien marschierten voran, sanfte Klänge besänftigten wirklich. Das war ein Finale dieser Sinfonie, wie es sein sollte, mitreißend!

Drei Seelenlandschaften in diesem Konzert, dreimal Musik wie sie unterschiedlicher kaum sein konnte, dreimal vorzüglich interpretiert, so machen Konzerte Spaß. Der Jubel zum Schluss war verdient lang und enthusiastisch. Als bewegenden Abschluss gab es der Situation angemessen das „Gebet für die Ukraine“.

Achim Riehn

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