7. Sinfoniekonzert „Unauslöschlich“ am 29.05.2022 – Musik als Stimme des Lebens

„Das Unauslöschliche“ – diesen Untertitel gab Carl Nielsen seiner 4. Sinfonie. Gemeint war damit die Kraft der Musik, die Leben ist, die Lebenswillen ausdrückt. Die drei Stücke dieses Konzerts stehen für diesen Lebenswillen: Leben trotz tiefer Traurigkeit bei Grieg und Abrahamsen, die Beschwörung der Kräfte des Lebens in allen Aspekten bei Nielsen. Alle drei Stücke spielen mit Klängen und Klangfarben, sind getaucht in ein klares, skandinavisches Licht.

Schlussapplaus beim 7. Sinfoniekonzert (Foto und Copyright: Achim Riehn)

Das Niedersächsische Staatsorchester wurde dirigiert von Michael Schønwandt, geboren 1953 in Kopenhagen, ein erfahrener Dirigent insbesondere für die skandinavische Musik. Michael Schønwandt ist Chefdirigent des Opéra Orchestre National de Montpellier und war er von 2000 bis 2011 Musikdirektor des Royal Orchestra und der Royal Opera in Kopenhagen. In jedem Moment konnte ich an diesem Abend spüren, dass Dirigent und Orchester perfekt harmonierten und viel Spaß miteinander hatten. So gelang ein großartiges und mitreißendes Konzert.Das Konzert wurde eingeleitet mit den zwei elegischen Melodien op. 34 von Edvard Grieg aus dem Jahr 1880. In den Jahren davor hatte Grieg Gedichte des Volksschullehrers Aasmund Olavsson Vinje für Klavier und Singstimme vertont. Einige dieser Lieder sind in Norwegen so populär, dass sie sogar in Schulmusikbücher aufgenommen wurden. Die Lieder Nr. 3, „Der Verwundete“ (Den saerde), und Nr. 2, „Der Frühling“ (Våren), instrumentierte er dann und veröffentlichte sie als die zwei elegischen Melodien. Die tiefe Traurigkeit dieser Gedichte wurde in diesen Instrumentalfassungen noch vertieft. Um das zu betonen, schärfte Grieg auch die beiden Titel: „Herzwunden“ und „Letzter Frühling“.

Beide Legenden sind für Streichorchester allein. Die erste Legende ist ein ruhiges, stilles Stimmungsbild, typisch im Tonfall für Edvard Grieg. Die zweite Legende ist ausgedehnter und etwas heller im Ton. Sie ist noch ruhiger als die erste Legende, es ist eine zarte, melancholische Musik.

Bei beiden Legenden besteht die Gefahr, sie zu schmalzig und zu sentimental zu interpretieren. In Vorbereitung auf das Konzert habe ich Aufnahmen gehört, die so waren. Nichts davon in diesem Konzert! Ja, es ist traurige Musik, aber es ist die Traurigkeit eines Menschen, der voll im Leben steht und über die Endlichkeit nachdenkt. Akzeptanz der Endlichkeit und der dunklen Seiten, kein Baden in Dunkelheit – so wie heute muss man diese zwei Kostbarkeiten spielen!

Hans Abrahamsens Liederzyklus „Let me tell you“ für Sopran und Orchester aus dem Jahr 2013 malt Traurigkeit und Melancholie in ganz anderen Farben. Abrahamsen gilt als einer der interessantesten Komponisten der zeitgenössischen Musik. Viele seiner Stücke drehen sich um das Thema „Schnee“. Auch der Liederzyklus des Konzerts endet mit einem magisch-poetischem, zarten Lied in einer Schneewelt, in der die Protagonistin verschwindet.

„Let me tell you“ auf einen Text von Paul Griffiths gibt der Ophelia aus Shakespeares Hamlet das Wort. Abrahamsen gibt ihrem Erleben, ihrer Erinnerung und ihren Gedanken über sich selbst eine Stimme. Zum Schluss ertränkt sie sich nicht, sondern geht hinaus ins Schneegestöber, in eine offene Zukunft. „I will go out now“, so heisst das letzte und umfangreichste dieser sieben Lieder.

Es sind Stücke von großer Schönheit und Magie. Gläserne und ätherische Stellen mischen sich mit unruhigeren Abschnitten. Traumverlorene, düster-dunkle Abschnitte treffen auf Passagen voller zarter Poesie. Das letzte Lied ist das längste und wie ich finde schönste Stück. Nach ruhigem, sehr romantischen Beginn geht es in eine Musik über, die in ihrer Schönheit wie eine moderne Legende von Grieg anmutet. Nach einem emotionalen Höhepunkt verschwindet das Stück langsam in der Stille, in einer durchsichtigen, gläsern anmutenden Welt. „Like walking in the snow“ lautet eine Anweisung in der Partitur: mit einem Blatt muss leise auf der Trommel gerieben werden.

Die Anforderungen an die Sängerin sind hoch, sie muss schneekalte Höhen beherrschen, koloratursicher sein, aber auch zarteste Tiefen ausloten können. Als Solistin kehrte Nicole Chevalier nach Hannover zurück, früher Ensemblemitglied und unvergessene Traviata. Ihr gelang eine bezwingende und zu Herzen gehende Interpretation dieser Lieder, technisch perfekt, bezwingend im Ausdruck. Der große Beifall und die Blumen aus dem Publikum waren voll verdient. Auch das Orchester spielte großartig, insbesondere im letzten Lied sprang pure Emotion ins Publikum über. Schnee, der auf dem Grab von Gustav Mahler liegt – das war meine Assoziation zu dieser Musik.

Eine kleine Anmerkung. Es ist sehr gut, dass der Text im Programmheft abgedruckt ist. Zum Mitlesen hätte allerdings das Licht im Zuschauerraum heller sein müssen. Oder wie wäre es damit: wie in der Oper werden Texte im Konzert als Übertitel eingeblendet?

Nach der Pause erklang die 4. Sinfonie von Carl Nielsen, sie trägt den Untertitel „Das Unauslöschliche“. Musik ist Leben, so sagte es Nielsen. Mit dieser Sinfonie wollte er all das ausdrücken, was das Leben ausmacht. Die Sinfonie entstand zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Sie spiegelt die Erschütterungen der Zeit wieder, aber auch den Willen und die Hoffnung, dass das Leben siegen wird. Es ist unauslöschlich. Musik wird hier zum Spiegel des Lebens, sie zeigt Harmonie und Konflikt. In ihren ständig variierenden Instrumentenkombinationen ist sie aber auch ein Spiegel von sozialen Interaktionen: es gibt Soli, kleine Gruppen, große Gruppen, alles in ständigem Wechsel. Es ist eine unglaublich farbige und abwechslungsreiche Musik. Ich kann nicht nachvollziehen, dass Musik von Nielsen nicht öfter auf den Konzertprogrammen steht.

Michael Schønwandt spielte die vier Sätze der Sinfonie ohne Pausen zwischen den Sätzen. Die Sinfonie erschien so wie ein großes einsätziges Werk. Die schroffen Gegensätze und die Vielseitigkeit der Musik traten so sehr klar hervor.

Der 1. Satz „Allegro“ ist nach aufgewühltem Beginn von starken Kontrasten geprägt. Ein fast auftrumpfender Bläserchoral durchzieht den Satz. Anklänge an Vogelstimmen klingen in den ruhigen Passagen auf, so etwas wie Regentropfen und fernes Donnergrollen ist zu hören. Der Satz ist eine Feier der Natur. Dieser aufwühlende Kampf zwischen den dunklen und den hellen Seiten gelang bezwingend und mitreißend, mit perfekter Interaktion der Orchestergruppen, mit glühenden Farben, großartig.

Der 2. Satz „Poco allegretto“ ist kammermusikalisch, Streicher und Holzbläser spielen in wechselnden Konstellationen. Die Musik ist zurückhaltend, empfindsam, zart. Herrlich wurde das gespielt, auf einmal befanden wir uns in einem Kammerkonzert! Nach der Gewalt des ersten Satzes war dies ein fast schockierender Kontrast. Schöner als hier gespielt könnte das aber kaum werden, das war intim, bewegend, aber auch funkelnd. Nielsen versteht es, ganz unterschiedliche Emotionen in wenigen Takten gegeneinander zu stellen, aber das muss man auch so gut spielen wie hier!

Sehr abwechslungsreich ist der 3. Satz „Poco adagio quasi andante“. Ein dramatischer Klagegesang trifft auf ein intimes Soloquintett aus fünf Streichern, dazu kommt ein Choral der Blechbläser, von traurigen Einwürfen durchzogen. Eine Fuge entwickelt sich, eine große, sich langsam aufbauende Steigerung führt alles zusammen. Nach einem ruhigen, klagenden Epilog beendet ein rasanter Lauf der Streicher diesen komplexen Satz. Auch dieses Wechselbad der Stimmungen gelang bezwingend. Die ruhigen Partien waren von fast intimer Zartheit, die Steigerungen hochemotional und voller Gluthitze. Jeder Ton saß, aber das muss ich bei diesem Orchester fast nicht dazusagen.

Der 4. Satz „Allegro“ beginnt zerrissen und wild. Pauken schlagen hinein. Die Musik ist im Aufruhr! Dann beruhigt sich das Geschehen, die Musik wird zarter, mischt sich mit so etwas wie Vogelstimmen. Dann bricht die wilde, kriegerische Musik wieder hinein, die Pauken führen ein heftiges, angsterregendes Duell miteinander. Die Musik steigert sich, es bleibt heftig und kriegerisch. Hier war mir der Krieg ganz nah. Der Schluss aber der Sinfonie ist auftrumpfend und optimistisch, das Leben und die Hoffnung siegen.

Nach diesem furiosen Finale brach das Publikum in lauten und heftigen Jubel auf, Bravos mischten sich hinein, völlig verdient. Die beiden Spieler an den Pauken wurden mit Ovationen überschüttet. Der Beifall für diese herausragende Interpretation wollte fast nicht enden. Michael Schønwandt und das Orchester harmonierten wunderbar. Das war ganz großartig, besser kann man für die Musik von Nielsen nicht werben! Warum steht er nicht viel öfter auf den Spielplänen? Statt immer wieder einen Zyklus von Sinfonien der immer gleichen Komponisten aufzulegen, sollten Orchester mehr Nielsen spielen! Mich jedenfalls würde man damit sehr viel mehr locken können!

Es war eine Freude, dieses Konzert gehört zu haben. Drei schöne Stücke, eine großartige Solistin, eine sinfonische Sternstunde. Gern mehr davon.

Achim Riehn

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