Dieses Sinfoniekonzert vereinigte Werke voller Dunkelheit und Zurückgezogenheit mit fröhlichen Festklängen. Das erste Violinkonzert von Schostakowitsch traf auf das Adagio und auf die Sinfonietta von Janacek. Diese auf den ersten Blick ungewöhnliche Zusammenstellung funktionierte wunderbar. Das Niedersächsische Staatsorchester unter dem iranischen Dirigenten Hossein Pishkar spielte präzise und voller Leidenschaft. Der Dirigent wechselte in seiner Jugend von der persischen Musik zur klassischen Musik und zum Dirigieren und ist 2012 nach Deutschland übergesiedelt.
Der spanische Geiger Javier Comesaña, 1999 in Sevilla geboren, erhielt beim Internationalen Joseph Joachim Violinwettbewerb 2021 den Preis des Niedersächsischen Staatsorchesters. Im 1. Violinkonzert von Dmitri Schostakowitsch konnte er sein ganzes Können und seine Ausdruckskraft präsentieren. Er gestaltete das Konzert ganz von innen heraus, ohne jede zur Schau gestellte Virtuosität. Es war so, als ob er uns gestatten würde, hinein in seine Seele zu schauen.
Schostakowitsch komponierte sein Violinkonzert 1947/48 in einer Zeit der großen Bedrängnis. Bei den Machthabern war er in Ungnade gefallen, ambitionierte Werke wurden mißtrauisch beäugt. Dieses Konzert ist ein Spiegelbild dieser Situation, Schostakowitsch komponierte es für die Schublade. Erst 1955 nach Stalins Tod wurde es mit David Oistrach als Solisten uraufgeführt. In vier Sätzen trifft dunkle Nachtmusik voller Hoffnungslosigkeit auf Tanz und wilde, verzweifelte Groteske.
Der erste Satz „Nocturne“ beginnt ganz ruhig. Eine Meditation der Violine erhebt sich über einem dunklen Untergrund. Das ist eine ganz innerliche, leise Musik, ohne jeden Prunk und ohne Pracht. Celesta- und Harfenklänge kommen dazu, großartig und bewegend gespielt, wie ein Blick in den Himmel. Aber kontrastiert wird das durch den ganz dunklen Klang des Gongs und der Pauken. Himmel und Hölle kommen zusammen. Die Solovioline träumt von einer besseren Welt, dagegen steht der düstere, dunkle Hintergrund des Orchesters. Der Solist singt in einer Welt des Todes. Wie Javier Comesaña hier gespielt hat, das war schon außerordentlich und ganz besonders. Noch nie habe ich eine Violine mit so fahlen, geisterhaften Tönen gehört. Die Solostimme erhob sich fast nie über ein Piano hinaus, sie versteckte sich gleichsam im Orchesterklang, geduckt und niedergedrückt, voller Angst. Es ließ das Herz stocken. Das war Musik aus einer Welt jenseits des Grabes, Musik einer anderen Welt, Musik aus einer Welt ohne Licht.
Der zweite Satz „Scherzo“ ist wild und tanzend, aber es ist wie ein Lachen ohne jede Fröhlichkeit. Wir werden Zeuge eines inneren Kampfes, Violine gegen Orchester. Dann entgleist die Musik förmlich, gerät in Rage, alle Verzweiflung bricht sich Bahn. Dann setzt wieder der Tanz ohne wirkliche Fröhlichkeit ein. „Ich möchte endlich auch einmal fröhlich sein“, das scheint mir die Violine zu sagen. Javier Comesaña liebt die Extreme, das ist mein Eindruck. Hier blieb die Violine auch eher leise und zurückhaltend, aber hier klang sie verzweifelt, wie in Todesangst. Klingt so ein Herz, wenn es verletzt wird?
Der dritte Satz „Passacaglia“ beginnt wie ein Trauermarsch, düster und bedrohlich, die Solovioline schweigt. Dann beginnt die Violine mit ihrem ruhigen, traurigen Gesang. Sie singt von der Hoffnung im Angesicht dieser dunklen Passacaglia-Welt ohne Licht. Der Satz verdämmert dann, die Musik entschwindet, es gibt hier kein Licht. Die Solovioline beginnt mit ihrer Solokadenz. Sie setzt an wie ein leiser Gesang, durchzogen von stockenden Pausen. Immer wilder und verzweifelter wird es, das DSCH-Motiv, die Schostakowitsch-Signatur, taucht wie im zweiten Satz auf. Das Tanzthema aus dem zweiten Satz wiederholt sich in ganz hoher Lage. Auch in diesem Satz ließ Javier Comesaña keinen Lichtstrahl zu. Die Violine sang von Verletzung, von Trauer, von Düsternis, sie sang ohne Hoffnung. Es ist erstaunlich, was für Emotionen sich im Klang dieses Instruments verbergen können.
Attacca beginnt der vierte Satz „Burleske“. Fast fröhlich und auftrumpfend ist die Musik, endlich fällt etwas Licht hinein in diese Welt. Die Violine und das Orchester tanzen zusammen, endlich stehen sie sich nicht mehr fremd gegenüber. Es wird dann wild und fast überdreht, es ist, als ob man auf einem Dorffest Drehorgelklänge hört. Die Dunkelheit im Untergrund ist aber immer noch vorhanden, wie überall in diesem Konzert. Der Schluss ist wild, sich überschlagend, die Violine lässt sich nicht unterkriegen. Hier endlich ließ Javier Comesaña die ganze Klangfülle seines Instruments zu, lautere und energischere Klänge ließen Hoffnung aufkeimen. Aber so etwas wie Triumph, das gab es nicht in dieser Interpretation. Es gab Hoffnung hier im vierten Satz, die Violine klang optimistischer. Aber niemand weiß, wie das weitergeht. Die Musik rast in ein Furioso hinein, das alle Fragen offen lässt.
Selten habe ich so eine innerliche, introvertierte und zurückgenommene Interpretation eines Violinkonzerts gehört. Es lässt sich darüber streiten, ob das nicht zu viele Extreme auf einmal waren, ob etwas mehr Mezzoforte der Solovioline in den ersten drei Sätzen nicht auch funktioniert hätte. Aber mich hat diese wirklich beeindruckende Performance überzeugt. Ja, Javier Comesaña gestaltet dies extrem, auf die Spitze getrieben – aber ist dieses Violinkonzert nicht genau so gedacht? Es ist ein Abbild der damaligen hoffnungslosen Situation von Schostakowitsch. Hoffnungslosigkeit ist kein Terrain für in den Vordergrund gestellte Virtuosität. Hossein Pishkar und das Niedersächsische Staatsorchester bildeten den kongenialen Gegenpart zur Solovioline, wild, präzise, böse, auftrumpfend. Das Orchester ist für das Grelle und die bedrohliche Außenwelt zuständig, die Violine für die Gestaltung der Seelenzustände. Javier Comesaña wurde vom Publikum gefeiert, verzichtete aber auf eine Zugabe. Aber hier hätte irgendwie auch nichts gepasst.
In der zweiten Konzerthälfte spielte das Niedersächsische Staatsorchester zwei ganz unterschiedliche Werke eines Komponisten, das tieftraurige Adagio und die festlich-fröhliche Sinfonietta von Leoš Janáček. Hossein Pishkar ließ die beiden Stücke ohne Pause aufeinander folgen, was gut funktionierte. Die leuchtende Fanfare zu Beginn der Sinfonietta folgte so unmittelbar auf das tieftraurige Adagio. Die Trauerzeit ist vorbei, das Leben geht irgendwann irgendwie weiter, so interpretiere ich das.
Das „Adagio“ entstand 1890 nach dem Tod des kleinen Sohnes. Es wurde zu Lebzeiten des Komponisten nie aufgeführt, vielleicht erschien es Janáček als zu persönlich. Erst 1930 nach dem Tod des Komponisten kam es zur Uraufführung. In der Stimmung knüpft es nahtlos an das Violinkonzert von Schostakowitsch an.
Das Adagio ist eine melancholische Meditation, eine ruhige, innerliche Musik, von Melodien wie von Erinnerungen durchzogen. Dramatische Ausbrüche voller Trauer und Verzweiflung brachen herein. Zum Schluss verdämmert die Musik im Nichts. Hossein Pishkar und das Orchester ließen diese Welt der Trauer und Verzweiflung in jedem Ton deutlich werden.
In der Sinfonietta setzt Janáček seiner Heimat und insbesondere seiner Heimatstatt Brünn ein klingendes, fröhliches Denkmal. Janáček komponierte das Werk 1926 für den Kongress der Turnbewegung Sokol. Inspirieren ließ er sich von den Festklängen, die auf mährischen Volksfesten üblich waren.
Das Werk beginnt mit der strahlenden, prächtigen „Fanfare“, gespielt von 12 zusätzlichen Blechbläsern. Mehr Pracht gelingt selbst Verdi in der „Aida“ nicht. Im zweiten Satz „Die Burg“ wechseln sich besinnliche, bewegte und tänzerische Passagen ab. Der Satz ist eine Art Romanze. Choralartige Blechbläser verwandeln die Musik in ein mährisches Volksfest. Der dritte Satz „Königin-Kloster“ ist ruhig und romantisch, das ist eine Nachtmusik. In der Mitte des Satzes wird es wilder und aufgeregter, vielleicht tanzen hier nächtliche Geister. Im vierten Satz „Straße“ wird ein fanfarenartiges Signal der Blechbläser vom Orchester aufgenommen. Vor meinem Auge sehe ich einen Fanfarenzug die Straße entlangziehen. Ruhig und im erzählenden Tonfall beginnt der Schlusssatz „Rathaus“. Das klingt geheimnisvoll und fast etwas mystisch. Erwartung wird aufgebaut, die Musik steigert sich. Und dann treten die Blechbläser auf den Rathausbalkon (so das Bild vor meinem Auge), triumphal endet die Sinfonietta mit dem Fanfarenthema des ersten Satzes.
Das Niedersächsische Staatsorchester gab jedem dieser Sätze wunderbar seine eigene Farbe. Es ist schwer, hier etwas besonders hervorzuheben, alle Instrumentengruppen spielten hervorragend, auf den Punkt, präzise. Die Blechbläser ließen die Farben leuchten, die Holzbläser und die Hörner brillierten, die hier im Gegensatz zu vielen anderen Sinfonien eher in den Hintergrund tretenden Streichinstrumente bildeten den warmen Teppich, der alle Klänge einfing. Das war schon große Klasse, es war Harmonie zwischen dem Orchester und dem Dirigenten zu spüren. Der Applaus aus dem leider nicht ausverkauften Haus (warum eigentlich?) war verdient lang und laut. Gern wieder (und gern wieder mit so einem ambitionierten Programm)!