Dieses Konzert kombinierte die ersten Sinfonien zweier Komponisten miteinander, die viel gemeinsam haben. Sowohl Leonard Bernstein als auch Gustav Mahler wurden im jüdischen Glauben erzogen, beide waren sowohl begnadete Komponisten als auch großartige Dirigenten. Beide Sinfonien sind Werke, die ganz am Beginn der Laufbahn der beiden Musiker stehen, es sind gleichsam Prophezeiungen großer Karrieren. Im Charakter aber sind die beiden Sinfonien sehr verschieden, einem Klagegesang über das zerstörte Jerusalem steht eine Art Anrufung und Beschwörung der Natur mit allen ihren großartigen und unheimlichen Facetten gegenüber.
Am Pult des Niedersächsischen Staatsorchester stand diesmal der tschechische Dirigent Tomáš Hanus. Zweimal mussten Konzerte mit ihm wegen der Pandemie abgesagt werden, nun klappte es endlich. Hanus ist Music Director der Welsh National Opera in Cardiff und hat bereits viele der bedeutendsten Orchester Europas dirigiert. Mit dem Niedersächsischen Staatsorchester gelang ihm ein begeisterndes Konzert.
Leonard Bernstein stellt in seiner Sinfonie Nr. 1 „Jeremiah“ die Weissagung des Propheten Jeremia aus der Bibel und den Konflikt mit seinem Volk in den Mittelpunkt. Für den Trauergesang über das zerstörte Jerusalem fügt Bernstein dem Orchester eine menschliche Stimme hinzu, so wie es auch Mahler oft getan hat. Die Sinfonie entstand 1942 und in ihrer Stimmung ist der Krieg mit seinen Schrecken und Ungewissheiten spürbar. Für mich ist dieses Stück eher eine sinfonische Dichtung in drei Sätzen als eine Sinfonie. Auch das ist eine Parallele zu Gustav Mahler, der seine erste Sinfonie zuerst ebenfalls als sinfonische Dichtung gedacht hatte. Tomáš Hanus und das Niedersächsische Staatsorchester zeigten, dass dieses eher unbekannte Stück ein großes Werk ist.
Der erste Satz der Sinfonie „Prophecy“ (dt. „Weissagung“) beginnt ruhig und feierlich.Die Musik ist manchmal fast hymnisch getragen, klingt aber auch latent bedrohlich. Schroffe Kontraste tragen zu dieser Stimmung der Bedrohung und der Verzweiflung bei. Doppelschläge des Orchesters kehren immer wieder, wie Fallbeile. Voller Dramatik und Wucht gelang hier Hanus und dem Orchester die Interpretation.
Der zweite Satz „Profanation“ (dt. „Entweihung“) ist bewegter, tänzerischer. Es ist ein chaotischer, zerrissener, fast wilder Tanz um das Goldene Kalb. Hier höre ich an einigen Stellen schon den Komponisten der „West Side Story“. Das Orchester brachte diese rhythmisch außerordentlich komplexe Musik zum Tanzen und zum Leuchten.
Im ruhigen Klagegesang des dritten Satzes „Lamentation“ (dt. „Klage“) kommt die menschliche Stimme dazu, ein Mezzosopran singt Teile aus den Klageliedern Jeremias aus der hebräischen Bibel. Leise und melancholisch ist das, von Trauer durchtränkt. Hochemotionale Orchesterpassagen mischen sich hinein, ganz ruhig klingt dann die Sinfonie aus. Die junge Mezzosopranistin Judit Kutasi, gebürtig in Rumänien, trat hier als Solistin auf. Sie gastiert mit Rollen aus Opern von Giuseppe Verdi und Richard Wagner an vielen bedeutenden Bühnen Europas. Ihre Stimme ist warm, zu großer Wucht genauso fähig wie zu leiser Zärtlichkeit. Das passte wunderbar!
Gustav Mahler komponierte seine Sinfonie Nr. 1 D-Dur im Jahr 1888. Mahler nimmt in dieser Sinfonie Melodien und Ideen aus seinem Liederzyklus „Lieder eines fahrenden Gesellen“ aus dem Jahr 1885 auf. Konzipiert war dieses Werk zuerst als eine Art sinfonischer Dichtung in zwei Teilen. Das Werk stieß beim Publikum auf Unverständnis, was dazu führte, dass Mahler eine Art Programm dazu veröffentlichte (und später wieder verwarf), die Sinfonie umarbeitete und einen Satz strich. Die endgültige viersätzige Fassung entstand zur Drucklegung im Jahr 1899.
Diese Sinfonie ist noch rein instrumental, sie keimt aus einem einzigen Ton, einer Art „Naturlaut“. Die Natur enthielt für Mahler alles, was es an Stimmungen gibt. Idylle und Bedrohung, Volksmusik und Parodie stehen nebeneinander, es ist eine von Brüchen durchzogene, verstörende Romantik. Tomáš Hanus und das Niedersächsische Staatsorchester ließen diese Musik nicht in schwelgerischer Romantik ertrinken. Sie arbeiteten die schroffen Kontraste wunderbar präzise heraus. Ihnen gelang eine bezwingende Interpretation.
Ganz ruhig und zart beginnt der erste Satz, wie aus einem Morgennebel erhebt sich die Musik. Kuckucksrufe, Naturlaute mischen sich hinein, Ferntrompeten erklingen, Mahler hat dies das „Erwachen der Natur“ genannt. Eine außerordentlich romantische Musik ist dies. Aber die Stimmung kippt immer wieder ins Dunkle, Mysteriöse, fast Bedrohliche. Das erinnert mich beim Hören immer an die unheimliche Stimmung, die Weber im „Freischütz“ in den Samiel-Szenen heraufbeschwört. Die Natur erwacht, aber sie ist nicht nur romantisch, sie enthält auch Dunkelheit. In der Interpretation des Orchesters lag immer so etwas wie Morgennebel über dieser Musik, sie wirkte geheimnisvoll und unwirklich. Grandios flirrend und unwirklich klangen die Flageolett-Töne der Streicher zu Beginn. Das war Romantik wie aus einem Traum, leise und geheimnisvoll, zurückgenommen in der Lautstärke. Die lauten Passagen wirkten so noch eindrücklicher.
Der zweite Satz ist tänzerisch und heiter, Melodien im Ton österreichischer Volksmusik tanzen hin und her. Ländler und Tanzmusik sind ins große Orchester übertragen worden. Alles ist an der Grenze zur Karikatur, zur Groteske. Ich musste an „La Valse“ von Ravel denken, in dem der Wiener Walzer ins Dunkle gekippt wird. An diesem Abend klangen die Tänze fast etwas täppisch, was wunderbar das Groteske dieser ach so schönen Musik herausarbeitete.
Im dritten Satz nimmt Mahler die Melodie des Kinderkanons „Bruder Jakob“ auf und verwandelt sie in einen Trauermarsch. Pauken und Kontrabass (wunderbar gespieltes Solo!) stimmen das an, andere Instrumente kommen dazu. Melodiefragmente in anderen Instrumenten ertönen, sie klingen wie Kommentare. Der Trauermarsch wird langsam ins fast Ironische übersteigert und verwandelt sich in die Parodie eines Trauermarschs. Eine leise, getragene, lyrische Passage erklingt, es ist wie ein Liebeslied am Grab. Aber auch diese Idylle ist parodistisch überhöht. Wieder erklingt der Trauermarsch, jetzt aber ins Fröhliche gedreht. Es ist eine gewisse spöttische Freude hinter der Trauer zu spüren. Wie sagte es Mahler: Die Tiere des Waldes tragen den Jäger zu Grabe.
So ironisch wie heute in dieser faszinierenden Interpretation habe ich diesen Satz selten gehört. Die Gemeinde geleitet den Sarg zum Friedhof, es wird getrauert, weil das erwartet wird. Aber die Freude darüber, dass die Person endlich da unten landet, sie ist nicht zu überhören. Die Instrumente trauern, ja, aber andauernd sind sie dabei am Lachen, am Kichern, am Feixen. Wunderbar wurde die Ironie dieser Musik herausgearbeitet.
Der vierte Satz beginnt mit einem Aufschrei, heftig, mit explosiver Energie, es ist ein Ausbruch von Verzweiflung. Weiter geht es in dieser aufgewühlten Stimmung, bis die Musik verebbt. Sehr lyrische Anschnitte folgen, die Naturstimmung des ersten Satzes wird wieder aufgegriffen, ist nun aber dunkler getönt. Die aufgeregte Musik kehrt zurück, ringt sich zu einem etwas optimistischeren Ton durch und verebbt dann. Blechbläsersignale, Vogellaute, wieder sind wir in der Welt des ersten Satzes. Es ist, als ob die Musik uns zart Trost zusprechen möchte. Dann nimmt die Dramatik zu, fast triumphal mit Fanfaren endet die Sinfonie. Sieg oder Ende im jüngsten Gericht, es bleibt offen. Hier im vierten Satz ließen Tomáš Hanus und das Niedersächsische Staatsorchester alle Zurückhaltung fallen. Das war furios, beängstigend, in den leisen Passagen anrührend. So muss das klingen!
Es war ein Konzert, bei der alle Mitwirkenden in Hochform waren. Harmonie zwischen Dirigent und Orchester, präzise Einsätze, tolle Soli, perfektes Zusammenspiel, was will man mehr. Dieses Orchester ist zu Höherem berufen! Der Applaus war lang und begeistert. Zum Ende rief dann GMD Stefan Zilias noch zu Spenden für das Partnerorchester auf, der Nationalphilharmonie Lviv in der Ukraine – ein Aufruf, den ich nur unterstützen kann.