In den letzten Jahren ging es in den Neujahrskonzerten an der Staatsoper Hannover im Walzertakt beschwingt und locker zu. Diesmal stand ganz klassisch die 9. Sinfonie von Beethoven auf dem Programm. Das Niedersächsische Staatsorchester spielte unter der Leitung des jungen, aufstrebenden Dirigenten Michele Spotti, das Quartett der Solostimmen war mit Solisten aus dem Ensemble der Staatsoper exquisit besetzt.
Beethoven brach in dieser Sinfonie mit vielen Konventionen und Hörgewohnheiten seiner Zeit. Das revolutionäre Feuer in dieser Musik wurde mir selten so klar sichtbar gemacht wie heute. Nichts von weihevollem Pathos, nichts von staatstragender Betulichkeit – dafür Hitze, Farbe, Aufruhr, Aufbegehren. Gerade einmal fünfundsechzig Minuten brauchten alle für diese Musik, die wie ein Naturereignis über das Publikum kam. Der Start in das Beethovenjahr 2020 wurde zu einem Ereignis.
Der erste Satz setzt leise und harmonisch unbestimmt ein. Es wirkt wie ein Nebel, durch den immer mehr Lichtreflexe dringen. Ein wuchtiges Thema bricht herein, voll dramatischer Spannung. Bei Michele Spotti klang das so, als ob man die Fensterläden aufreißt und die sengende Sonne hereinbricht. Kleinere Episoden rufen den Eindruck von Ruhe und Frieden hervor. Es sind nur Inseln im Drama des ersten Satzes. Diese Musik ist wie ein Kampf gegen eine feindliche Welt, sie ist ein heroisches Aufbäumen, wunderbar herausgearbeitet vom Orchester.
Die düster-heroische Stimmung setzt sich im zweiten Satz fort, der mit einem Scherzo von dämonischer Kraft beginnt, in dem Pauken auf den Hörer einschlagen. „Widerstand“, das schreit für mich aus der charakteristischen Rhythmusfigur entgegen. Es ist vorwärtsstürmende Musik voll pulsierender Energie, nichts kann sie aufhalten. Michele Spotti ließ die Akkorde hereinbrechen wie Blitzschläge, unerbittlich wie das Schicksal. Im Trio weicht diese kämpferische Welt helleren, friedlicheren Klängen. Fast zart schimmerten hier die Farben aus dem Orchester hervor. Dann kehrt die düstere Unerbittlichkeit wieder und zerschlägt den Frieden.
Im Gegensatz dazu ist der dritte Satz ein ruhiger Gesang, eine Musik nicht mehr ganz von dieser Welt. Er ist so ein Gegenpol zur Unerbittlichkeit und Harschheit des zweiten Satzes. Die Musik ist voller Gefühl, ein Traum von Frieden, Glaube, Hoffnung und Liebe, ein Traum von einer anderen Welt. Einige kurze Weckrufe tönen gegen Schluß hinein (ich summe dazu immer den fiktiven Text „Wachet auf“), können die Träumerei aber nicht beenden. Ich habe diesen Satz selten so voller Innenspannung erlebt wie heute, selten so voller fast impressionistischer Farben. Mahlers langsame Sätze schimmerten hindurch, wie eine Vorahnung der Zukunft.
Heftige Dissonanzen zerstören mit Beginn des vierten Satzes die Idylle. Ein rezitativischer Gesang der tiefen Streicher deutet das „Oh Freunde nicht solche Töne“ an. Die Dissonanzen brechen wieder herein. Themen der ersten Sätze tauchen auf, können sich aber nicht durchsetzen. Leise hebt die Melodie des „Freude schöner Götterfunke“ in den Streichern an, wie eine Verheißung der Rettung, wird immer intensiver und strahlender. Orchester und Dirigent gestalteten dies so bewegend, dass mir fast die Tränen dabei kamen. Sie formten mit Musik eine Vision einer besseren Welt. Aber die brutalen Dissonanzen brettern mit einer Gewalt herein, als ob sie dieses Bild zerschlagen wollen. In Michele Spottis Interpretation konnte man fast Angst bekommen vor diesen Akkorden.
Nun bricht Beethoven die sinfonischen Konventionen seiner Zeit völlig und lässt die menschliche Stimme dazutreten. Lässt sich die Realität nur mit Gesang und Worten überwinden? Der Solo-Baßbariton singt sein „Oh Freunde, nicht solche Töne“ und beendet damit die Herrschaft des Bösen (oder der realen Welt?). Immer jubelnder übernimmt der Chor mit „Freude schöner Götterfunke“, die Solisten fallen ein. Gesangs- und Orchesterwellen steigern sich immer mehr. Grandios die Leistung des Chores, der dies wie aus einer überirdischen Welt der Freude heraus sang, emotional bewegt, voller Hingabe an die Musik. Der feierliche Ruhepunkt des „Seid umschlungen“ klang dann so wirklich wie eine Gottesverehrung.
Das vor dem Chor platzierte Soloquartett ließ sich voll von dieser Hingabe anstecken und mischte seine fast unsingbaren, melismatischen Gesangslinien den ekstatischen Klängen bei. Voller Jubel und Glanz endete die Sinfonie in einem alles mitreißenden Hymnus.
Ich habe diese Sinfonie selten so voller Spannung, Dichte und Emotion gehört wie heute in der Interpretation des Niedersächsischen Staatsorchester unter Michele Spotti. Sie verwandelten Musik in ein Ereignis. Der Chor unter der Leitung von Lorenzo da Rio machte aus dem Finale Musik von fast glühender Intensität, zu der das großartige Solistenquartett Hailey Clark (Sopran), Monika Walerowicz (Alt), Long Long (Tenor) und Daniel Miroslaw (Bass) die funkelnden Glanzlichter beitrug.
Es war das zweite Konzert an diesem Neujahrstag in dieser Besetzung. Die Musik klang dabei so frisch, als ob sie ganz neu komponiert wäre. Die Unerhörtheit dieser Musik wurde für mich endlich wieder einmal hörbar. Enthusiastischer Beifall des ausverkauften Hauses für alle war der verdiente Lohn. Ein interstellares Erlebnis!
Hans-Joachim Riehn